Leitsatz (amtlich)
Ein Angestellter, der zugleich eine selbständige Tätigkeit iS des RVO § 166 ausübt, ist nicht krankenversicherungspflichtig, wenn sein regelmäßiger Jahresarbeitsverdienst als Angestellter und sein regelmäßiges Jahreseinkommen als Selbständiger zusammengerechnet die jeweils gültige Versicherungspflichtgrenze überschreitet.
Normenkette
RVO § 165 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1957-07-27, § 166 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1957-07-27
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 3. April 1968 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander keine Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob die beigeladene Musiklehrerin während der Zeit vom 1. September 1964 bis zum 31. August 1965, in der sie bei der klagenden Stadt gegen ein Monatsgehalt von 468 DM beschäftigt war und zugleich eine selbständige Lehrtätigkeit ausübte, mit der sie 450 DM monatlich verdiente, der Krankenversicherungspflicht unterlag. Die beklagte Ersatzkasse, deren Mitglied der Beigeladene war, bejahte dies, weil ihr Jahresarbeitsverdienst als Angestellte und ihr Jahreseinkommen als Selbständige je für sich die maßgebenden Versicherungspflichtgrenzen nicht überschritten habe, eine Zusammenrechnung der Entgelte aber nicht zulässig sei (Bescheid vom 3. März 1965 und Widerspruchsbescheid vom 3. Mai 1965). Die von der Klägerin erhobene Klage blieb ohne Erfolg (Urteil des Sozialgerichts - SG - München vom 21. Juni 1966).
Auf die Berufung der Klägerin hat das Bayerische Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG sowie die Bescheide der Beklagten aufgehoben und festgestellt, daß die Beigeladene in der genannten Zeit nicht krankenversicherungspflichtig gewesen sei: Die Versicherungspflicht der von der Beigeladenen ausgeübten Tätigkeiten sei nicht getrennt, sondern nach dem aus beiden Tätigkeiten erzielten Gesamtverdienst zu beurteilen; dieser habe aber über der Versicherungspflichtgrenze gelegen. Wenn die Verdienste aus mehreren Beschäftigungen als Angestellter bei Prüfung der Versicherungspflicht zusammenzurechnen seien, so müsse dies sinngemäß auch in Fällen der vorliegenden Art gelten (Urteil vom 3. April 1968).
Die beklagte Ersatzkasse hat die zugelassene Revision eingelegt und sich auf ein Urteil des Senats vom 4. Juli 1962 (BSG 17, 168) berufen, nach dessen Entscheidungsgründen die Vergütung aus einer Nebenbeschäftigung als Selbständiger für die Frage der Versicherungspflicht eines Angestellten unberücksichtigt bleibe. Die Beklagte beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt unter Hinweis auf das angefochtene Urteil, die Revision zurückzuweisen.
Die Beigeladene hat sich im Revisionsverfahren nicht geäußert.
Alle Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.
II
Die Revision der beklagten Ersatzkasse ist unbegründet. Das LSG hat die beigeladene Musiklehrerin - entgegen der im angefochtenen Bescheid vertretenen Auffassung - für die streitige Zeit mit Recht als krankenversicherungsfrei angesehen.
Die Beklagte hat über die Versicherungspflicht der Beigeladenen durch einen an deren Arbeitgeber gerichteten Verwaltungsakt entscheiden können. Als Ersatzkasse ist sie, wie sich insbesondere aus ihrer Befugnis zur Beitreibung von Beitragsrückständen ergibt (§ 520 Abs. 4, § 28 der Reichsversicherungsordnung - RVO -), auch dem Arbeitgeber eines Mitglieds rechtlich übergeordnet und deshalb nicht genötigt, im Streitfall gegen ihn den Klageweg zu beschreiten; dabei kann dahinstehen, ob eine Klage überhaupt zulässig wäre (was in BSG 11, 218 für eine Klage gegen den Arbeitgeber auf Zahlung des Arbeitgeberanteils an den Versicherten offenbar angenommen worden ist, vgl. Leitsatz 1 Satz 2). Hält mithin eine Ersatzkasse ein Mitglied entgegen der Auffassung des Arbeitgebers für versicherungspflichtig, so kann sie - nicht anders wie eine Krankenkasse (§ 225 RVO) - einen entsprechenden Feststellungsbescheid erlassen. Das besondere Feststellungsverfahren, das früher in Fällen dieser Art auf Antrag des Arbeitgebers, des Versicherten oder der Kasse vorgesehen war (§ 520 Abs. 3, § 405 Abs. 2 RVO), ist mit dem Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) weggefallen (§ 224 Abs. 3 SGG).
Die Krankenversicherungspflicht der Beigeladenen beurteilt sich nach § 165 Abs. 1 Nr. 2 und § 166 Abs. 1 Nr. 2 RVO. Nach der ersten Vorschrift sind Angestellte, nach der zweiten sind selbständige Lehrer, die in ihrem Betrieb keine Angestellten beschäftigen, krankenversicherungspflichtig, wenn ihr "regelmäßiger Jahresarbeitsverdienst" bzw. ihr "regelmäßiges Jahreseinkommen" die jeweils maßgebende Grenze (die für die hier streitige Zeit 7920 DM betrug) nicht übersteigt. Ob für die Anwendung dieser Vorschriften der Verdienst aus einer Beschäftigung als Angestellter und das Einkommen aus einer selbständigen Lehrtätigkeit zusammenzurechnen sind, ist im Gesetz ausdrücklich nicht geregelt. Gegen ihre Zusammenrechnung scheint zunächst zu sprechen, daß für sie verschiedene Bezeichnungen (Arbeitsverdienst, Einkommen) verwendet werden und auch die Tätigkeiten, aus denen die Einkünfte fließen, insofern verschieden sind, als die eine abhängig, die andere selbständig ausgeübt wird (vgl. zur versicherungsrechtlichen Beurteilung "verschiedenartiger Tätigkeiten" BSG 16, 98, 104; 20, 133, 134). Daß diese Unterschiede indessen nicht überbewertet werden dürfen, zeigt ein Vergleich mit entsprechenden früheren Regelungen in der Angestelltenversicherung (AnV) und in der Krankenversicherung (KrV).
So war in der AnV, solange auch dort - wie noch heute in der KrV - eine Verdienstgrenze für die Versicherungspflicht galt, d. h. bis zum Ende des Jahres 1967 (vgl. Finanzänderungsgesetz 1967 vom 21. Dezember 1967, Art. 1 § 2 Nr. 1), die Versicherungspflicht einheitlich, auch bei Selbständigen, nach der Höhe ihres "Jahresarbeitsverdienstes" zu beurteilen (vgl. AVG § 1 Abse. 1 und 2 idF der Ersten Vereinfachungsverordnung vom 17. März 1945, §§ 2, 4 Abs. 1 Nr. 1 idF des Neuregelungsgesetzes vom 23. Februar 1957). Das gleiche war in der KrV der Fall, wo § 165 RVO ursprünglich auch die Versicherungspflicht von Selbständigen, insbesondere von Lehrern und Erziehern (vgl. AN 1915, 579), mitregelte, bis für sie eine Sondervorschrift zunächst in § 165 a RVO, später in § 166 RVO geschaffen wurde (vgl. Gesetz vom 13. Januar 1938, RGBl I, 33 und dazu Grünewald in Arbeiterversorgung 1938, 65). Wenn bei dieser Gelegenheit für die Selbständigen die Bezeichnung Jahreseinkommen statt Jahresarbeitsverdienst gewählt wurde, so hatte dies offenbar sprachliche Gründe, da ein Wesensunterschied zwischen den beiden Einkunftsarten nicht besteht. Deren innere Verwandtschaft zeigt sich vielmehr darin, daß beide Begriffe - Jahreseinkommen und Jahresarbeitsverdienst - sich auf solche Einkünfte beschränken, die durch die jeweilige Tätigkeit selbst, d. h. durch "Arbeit" verdient werden, während zum Gesamteinkommen im Sinne des § 176 Abs. 1 RVO auch sonstige Bezüge (Vermögenszinsen, Renten, Unterhaltsleistungen Dritter) gehören (vgl. hierzu Peters, Handbuch der KrV, 17. Aufl., § 166 Anm. 9; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1.-7. Auflage, S. 312 u; BSG 30, 61, 63). Daß § 166 RVO bei den Selbständigen vom "Jahreseinkommen" spricht, steht hiernach seiner Zusammenrechnung mit dem "Jahresarbeitsverdienst" aus einer gleichzeitig ausgeübten Beschäftigung als Angestellter nicht entgegen.
Eine Zusammenrechnung ist auch nicht deswegen ausgeschlossen, weil beide Begriffe (Jahresarbeitsverdienst und Jahreseinkommen) sich auf verschiedene Erwerbsquellen - abhängige Beschäftigungen einerseits, selbständigen Tätigkeiten andererseits - beziehen. Der Senat hat allerdings eine Zusammenrechnung von Verdiensten für unzulässig gehalten, wenn eine versicherungspflichtige Beschäftigung als Angestellter mit einer solchen als Arbeiter oder mit einer versicherungsfreien Beschäftigung, namentlich einer versicherungsfreien Nebenbeschäftigung oder einer Beamtentätigkeit, zusammentrifft (BSG 16, 98, 104; 17, 168; 20, 133; 22, 288; ebenso Brackmann aaO, S. 312 u, 313). Diese Rechtsprechung beruht auf der Erwägung, daß ein Entgelt, das für die Versicherungspflicht der Beschäftigung oder Tätigkeit, aus der es erzielt wird, keine Bedeutung hat, auch die Versicherungspflicht einer daneben ausgeübten anderen Beschäftigung oder Tätigkeit - durch Zusammenrechnung mit dem aus ihr erzielten Entgelt - nicht beeinflussen kann. Gegen die Berücksichtigung von Verdiensten aus versicherungsfreien Beschäftigungen spricht ferner, daß sie der Krankenkasse nicht gemeldet zu werden brauchen, von ihr also nur durch umständliche Rückfragen zu ermitteln wären (BSG 17, 171). Keiner der vorgenannten Gründe trifft für den hier vorliegenden Fall zu, daß neben einer Angestelltenbeschäftigung eine selbständige Lehrtätigkeit ausgeübt wird. Weder ist diese Tätigkeit, wie eine Beschäftigung als Arbeiter, ohne Rücksicht auf die Höhe des Entgelts versicherungspflichtig, noch ist sie, wie eine Beamtentätigkeit oder eine versicherungsfreie Nebenbeschäftigung, schon als solche versicherungsfrei und damit auch nicht meldepflichtig. Für sie gilt vielmehr die gleiche Verdienstgrenze wie für eine Beschäftigung als Angestellter; die sonst dem Arbeitgeber obliegenden Pflichten einschließlich der Meldepflicht hat der Selbständige selbst zu erfüllen (§ 475 b RVO).
Nur wenn eine selbständige Lehrtätigkeit sich auf eine Nebentätigkeit im Sinne des § 168 RVO beschränkt und deswegen versicherungsfrei ist, muß für sie das gleiche gelten wie für eine versicherungsfreie Nebenbeschäftigung in abhängiger Stellung, deren Verdienst, wie ausgeführt, nicht mit dem einer versicherungspflichtigen Angestelltenbeschäftigung zusammengerechnet werden darf. Nur diesen Fall einer versicherungsfreien "Nebenbeschäftigung" als Selbständiger (das Gesetz nennt sie jetzt "Nebentätigkeit", vgl. § 168 RVO) hatte der Senat in seiner früheren Entscheidung (BSG 17, 169 unten) im Auge. Auf sie kann sich deshalb die Beklagte nicht berufen, da die Beigeladene als selbständige Musiklehrerin keine Nebentätigkeit ausgeübt hat.
Sind mithin keine durchgreifenden Gründe erkennbar, die einer Zusammenrechnung der von der Beigeladenen erzielten Einkünfte entgegenstehen, so spricht andererseits entscheidend für eine solche Zusammenrechnung, daß die in § 165 Abs. 1 Nr. 2 und § 166 Abs. 1 RVO in gleicher Höhe festgesetzte Versicherungspflichtgrenze auch sozialpolitisch dem gleichen Zweck dient, nämlich nur solche Personen von Gesetzes wegen in die soziale Krankenversicherung einzubeziehen, die ihres Schutzes mit Rücksicht auf die Höhe des Jahresarbeitsverdienstes oder des Jahreseinkommens bedürfen. Vom Schutzbedürfnis her gesehen haben dabei der Verdienst aus abhängiger Beschäftigung und das Einkommen aus selbständiger Tätigkeit den gleichen "Stellenwert". Deshalb kann es der Sache nach keinen Unterschied machen, ob die Versicherungspflichtgrenze allein mit Entgelt aus abhängiger Beschäftigung bzw. selbständiger Tätigkeit oder mit aus beiden zusammen erzielten Entgelten überschritten wird.
Auch in der AnV wurde, solange dort eine Versicherungspflichtgrenze galt, das Entgelt aus abhängiger Beschäftigung und das aus selbständiger Tätigkeit zusammengerechnet, wie nach Wortlaut und Systematik des Gesetzes, das nur eine allen Versichertengruppen gemeinsame "Jahresarbeitsverdienstgrenze" kannte, nicht zweifelhaft sein konnte (vgl. Jantz-Zweng, Das neue Recht der Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten, S. 363 Mitte; Koch/Hartmann, Das Angestelltenversicherungsgesetz, 2. Auflage, 9. Lieferung, § 1 AVG, Erl. C III 1, S. 177 f, und die späteren Lieferungen des von v. Altrock und Fürst fortgeführten Kommentars, vgl. zuletzt die 17. Lieferung von 1965, § 4 AVG, Erl. B 1). Eine gleichzeitig abhängig beschäftigte und selbständig tätige Lehrerin wie die Beigeladene war also bei einem Gesamtverdienst, der über der Jahresarbeitsverdienstgrenze der AnV von damals 15000 DM = 1250 DM monatlich lag, angestelltenversicherungsfrei. In der KrV wäre sie dagegen - trotz der hier sehr viel niedrigeren Verdienstgrenze von seinerzeit 7920 DM jährlich oder 660 DM monatlich - versicherungspflichtig gewesen, wenn die Einzelverdienste aus der abhängigen Beschäftigung und aus der selbständigen Tätigkeit diese Grenze nicht überschritten, z. B. je 650 DM betragen hätten, und eine Zusammenrechnung entgegen der Auffassung des Senats nicht zulässig gewesen wäre. Wie dieses Beispiel zeigt, ist eine befriedigende und in sich widerspruchsfreie Lösung nur zu gewinnen, wenn auch in der KrV die Verdienste aus einer Angestelltenbeschäftigung (§ 165 Abs. 1 Nr. 2 RVO) und aus einer selbständigen Lehrtätigkeit (§ 166 Abs. 1 Nr. 2 RVO) für die Frage, ob die Versicherungspflichtgrenze überschritten ist, zusammengezählt werden. Im vorliegenden Fall war deshalb, wie das LSG zutreffend entschieden hat, dem Angestelltengehalt der Beigeladenen (468 DM monatlich) ihr Verdienst aus selbständiger Lehrtätigkeit (450 DM im Monat) hinzuzurechnen, so daß die Versicherungspflichtgrenze der KrV überschritten und die Beigeladene während der streitigen Zeit krankenversicherungsfrei war.
Die Revision der beklagten Ersatzkasse ist unbegründet.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 4 SGG.
Fundstellen