Leitsatz (amtlich)
Zur Frage der Unterhaltsbedürftigkeit einer geschiedenen Ehefrau, die zur Zeit des Todes des Versicherten über ausreichende Erträgnisse aus eigener Erwerbstätigkeit verfügte.
Normenkette
RVO § 1265 S. 1 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 22. März 1966 wird aufgehoben.
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 27. Januar 1965 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin die Hinterbliebenenrente nach § 1265 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aus der Versicherung ihres geschiedenen Ehemannes zusteht.
Das Sozialgericht (SG) hat in Übereinstimmung mit der Beklagten (Bescheid vom 24. Oktober 1963) den von der Klägerin geltend gemachten Anspruch verneint (Urteil vom 27. Januar 1965), das Landessozialgericht (LSG) die Rente dagegen zugesprochen (Urteil vom 22. März 1966).
Die Entscheidung des LSG stützt sich auf die folgenden - von der Revision nicht angegriffenen - Tatsachenfeststellungen: Die Ehe der Klägerin mit dem Versicherten ist im Jahre 1951 aus Alleinverschulden des Versicherten geschieden worden. Dieser hatte aufgrund eines im Jahre 1953 ergangenen Unterhaltsurteils der Klägerin einen Unterhaltsbeitrag von monatlich 30,- DM zu leisten. Seiner Zahlungsverpflichtung kam er jedoch in den letzten Jahren vor seinem Tod - er ist am 26. Dezember 1962 verstorben - nicht nach. Als Fleischergeselle bezog er im Jahre 1961 ein Jahreseinkommen von 6.996,- DM und im Jahre 1962 ein solches von 8.259,- DM. Die Klägerin hat sich weder um die Vollstreckung aus dem Unterhaltstitel bemüht noch darum, von dem Versicherten einen höheren Unterhaltsbeitrag zu erlangen. Sie stand in der Zeit von 1959 an in einem festen Arbeitsverhältnis. Im letzten Jahr vor dem Tode des Versicherten beliefen sich ihre Einnahmen aus eigener Erwerbstätigkeit in den Zeiträumen, in denen sie nicht vorübergehend durch Krankheit gehindert war, regelmäßig zu arbeiten, auf etwa 500,- DM monatlich. Davon bestritt sie ihren Lebensunterhalt.
Nach Auffassung des LSG sind die Voraussetzungen für die Gewährung einer Hinterbliebenenrente nach § 1265 Satz 1 RVO erfüllt. Der Versicherte habe zwar im letzten Jahr vor seinem Tod keinen Unterhalt an die Klägerin geleistet. Er sei auch nicht "aus sonstigen Gründen" zur Unterhaltsleistung verpflichtet gewesen; das im Jahre 1953 ergangene Unterhaltsurteil sei kein sonstiger Grund im Sinne des § 1265 RVO. Ein Betrag von 30,- DM monatlich, zu dessen Zahlung er hiernach verpflichtet gewesen sei, könne nicht als "Unterhalt" bezeichnet werden, weil er keinen wesentlichen Teil des Unterhaltsbedarfs der Klägerin gedeckt habe. Die Unterhaltsverpflichtung des Versicherten habe sich jedoch aus § 58 Abs. 1 des Ehegesetzes vom 20. Februar 1946 (EheG) ergeben. Nach seinen Einkünften hätte er im letzten Jahr vor seinem Tod monatlich etwa 125,- bis 170,- DM an die Klägerin zahlen müssen. Auf die Einnahmen aus ihrer eigenen Erwerbstätigkeit hätte die Klägerin wegen Unzumutbarkeit dieser Arbeit nicht verwiesen werden dürfen. Sie sei als nächste Verwandte ihres im Januar 1962 unehelich geborenen Enkelkindes, dessen Mutter - ihre Tochter - kurze Zeit nach der Geburt gestorben sei, sittlich und moralisch verpflichtet gewesen, sich persönlich um die Versorgung des Kindes zu kümmern. Durch Einkünfte aus unzumutbarer Arbeit werde aber der Unterhaltsanspruch nach § 58 Abs. 1 EheG und - demgemäß auch der Rentenanspruch nach § 1265 RVO - nicht beeinträchtigt.
Gegen dieses Urteil richtet sich die - zugelassene - Revision der Beklagten. Sie rügt, das LSG habe § 1265 RVO unrichtig ausgelegt. Darauf, daß die Klägerin eine - nach Auffassung des Berufungsgerichts - unzumutbare Arbeit verrichtet habe, komme es nicht an. Wegen der Einkünfte aus eigener Erwerbstätigkeit sei die Unterhaltsverpflichtung des Versicherten entfallen. Ein Anspruch auf Hinterbliebenenrente nach § 1265 RVO bestehe daher nicht.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie bezieht sich auf das angefochtene Urteil. Überdies sei sie krank gewesen. Auch aus diesem Grunde habe ihr im letzten Jahr vor dem Tod des Versicherten eine Erwerbstätigkeit nicht zugemutet werden können.
Die Revision ist begründet. Der Klägerin steht kein Anspruch auf Hinterbliebenenrente zu.
Nach § 1265 Satz 1 RVO ist einer geschiedenen Ehefrau des Versicherten nach dessen Tod Rente zu gewähren, wenn ihr der Versicherte zur Zeit seines Todes Unterhalt nach den Vorschriften des Ehegesetzes oder aus sonstigen Gründen zu leisten hatte oder wenn er im letzten Jahr vor seinem Tode Unterhalt geleistet hat. Der Versicherte hat innerhalb dieser Frist keine Unterhaltsleistung erbracht. Eine im Rahmen des § 1265 RVO bedeutsame Unterhaltsverpflichtung kann - insoweit ist dem Berufungsgericht beizupflichten - aus dem im Jahre 1953 ergangenen Unterhaltsurteil nicht hergeleitet werden. Hiernach hatte der Versicherte 30,- DM monatlich an die Klägerin zu zahlen. Dieser Betrag ist zu geringfügig - er macht keine 25% des Mindestbedarfs der Klägerin aus -, als daß er als "Unterhalt" gewertet werden könnte (vgl. BSG 22, 44 ff.). Die Entscheidung hängt demnach allein davon ab, ob der Versicherte der Klägerin vor seinem Tod nach den Vorschriften des EheG - hier § 58 Abs. 1 - Unterhalt zu leisten hatte. Diese Vorschrift verpflichtet den allein für schuldig erklärten Mann, der geschiedenen Frau den nach den Lebensverhältnissen der Ehegatten angemessenen Unterhalt zu gewähren, soweit die Einkünfte aus dem Vermögen der Frau und die Erträgnisse aus eigener Erwerbstätigkeit nicht ausreichen.
Die Erträgnisse aus der Erwerbstätigkeit der Klägerin - etwa 500,- DM monatlich - reichten zum angemessenen Unterhalt aus. Der Lohn der Klägerin lag nur geringfügig unter dem ihres geschiedenen Ehemannes. Der Wortlaut des § 58 Abs. 1 EheG läßt daher für sich allein betrachtet eine Verpflichtung des Versicherten, der Klägerin in dem hier bedeutsamen Zeitraum Unterhalt zu leisten, als ausgeschlossen erscheinen. Er stellt - entgegen der in § 66 Abs. 1 EheG 1938 getroffenen Regelung, die zuvor Geltung hatte, - nicht auf Erträgnisse aus zumutbarer Erwerbstätigkeit ab. Aus diesem Grund - weil nämlich nunmehr das Merkmal der Zumutbarkeit nicht nur nicht erwähnt, sondern sogar ausdrücklich gestrichen ist, - ging die frühere Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) dahin, daß es allein auf die Erträgnisse aus der Erwerbstätigkeit ankomme, nicht dagegen auch darauf, ob die Erwerbstätigkeit der geschiedenen Frau zugemutet werden konnte (vgl. BSG 9, 90 und Urteil vom 5. Mai 1961, Az.: 1 RA 49/59). Diese Auffassung ist allerdings in einem Teil des Schrifttums und der Rechtsprechung - im wesentlichen aus Billigkeitsgründen - nicht geteilt worden (vgl. ua die Hinweise in BSG 9, 90; Bayer. OLG in FamRZ 1962, 120; VerbKomm § 1265 RVO Anm. 9 mit weiteren Hinweisen). Dem trägt eine am 22. März 1968 - Az.: 1 RA 35/67 - ergangene Entscheidung des BSG Rechnung, die die bisherige Rechtsprechung (und zwar vom 5. Mai 1955 an, dem Tag der Beendigung des Besatzungsregimes durch den sog. Überleitungsvertrag) nur mit - allerdings sehr wenigen - Einschränkungen aufrecht erhalten will. Hiernach kann es in seltenen Ausnahmefällen - beispielsweise dann, wenn der Unterhaltsverpflichtete sich der Unterhaltspflicht entzogen und die geschiedene Frau nur aus Not gearbeitet hat - möglicherweise grob unbillig und deshalb unerträglich sein, den Unterhaltsberechtigten auf Einkünfte aus eigener Erwerbstätigkeit zu verweisen. Es mag dahinstehen, ob dieser - neueren - Rechtsprechung in jeder Hinsicht gefolgt werden kann, ob insbesondere dem Inkrafttreten des Überleitungsvertrages eine entscheidende Bedeutung hinsichtlich der Auslegung des § 58 EheG beizumessen ist. Auch wenn man ihr folgt, muß in dem vorliegenden Fall die Klage abgewiesen werden. Nach dem Urteil vom 22. März 1968 ist die Entscheidung nicht schlechthin auf die Zumutbarkeit der Erwerbstätigkeit abzustellen sondern nur ausnahmsweise. Versicherungsträger und Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit werden im allgemeinen auch heute noch davon ausgehen können, daß die Erwerbstätigkeit, der die geschiedene Frau zur Zeit des Todes des Mannes nachgegangen ist, ihr auch zumutbar war. Bei hinreichenden Einnahmen daraus wird ein Unterhaltsanspruch der geschiedenen Frau nur dann bejaht werden können, wenn der Mann seine geschiedene Frau billigerweise auf diese nicht verweisen könnte. Nur in seltenen Fällen, in denen die Verweisung der geschiedenen Ehefrau auf ihr Erwerbseinkommen "grob unbillig" - so das Urteil vom 22. März 1968 - ist, kann die frühere Rechtsprechung des BSG nicht mehr angewandt werden. In diesem Zusammenhang kann also nur ein besonderer Grad von Unzumutbarkeit Bedeutung haben. Bei der Prüfung, ob ein solcher Fall gegeben ist, kann es nicht allein auf objektive Umstände ankommen, vielmehr wird sich diese auch auf die Persönlichkeit der Betroffenen zu erstrecken haben. Nur das, was sie selbst auch als unzumutbar empfindet, wird den Grad der Unzumutbarkeit, der hier bedeutsam ist, erreichen können. In der Regel wird der Umstand, daß der geschiedene Mann nicht auf Unterhalt in Anspruch genommen worden ist, erkennen lassen, daß die Frau die eigene Arbeit nicht als unzumutbar angesehen hat. So ist es im vorliegenden Fall. Die Klägerin hat keinen Versuch unternommen, von ihrem geschiedenen Mann einen nennenswerten Unterhaltsbetrag zu erlangen. Sie hat nicht einmal die Vollstreckung aus dem Titel über 30,- DM monatlich betrieben. Sie hat wirtschaftlich unabhängig sein wollen und damit zu erkennen gegeben, daß sie ihrer Arbeit ihrem eigenen Empfinden nach zumutbar nachgegangen ist.
Allerdings wird der Tatsache, daß ein Unterhaltsanspruch nicht geltend gemacht wurde, nicht ausnahmslos diese Bedeutung beigemessen werden können. Die Frage, welche Ausnahmefälle im einzelnen denkbar sind, bedarf hier jedoch keiner Erörterung. Der vorliegende Sachverhalt bietet keinen Anhalt für die Annahme eines Sonderfalls, die Klägerin hat sich auch nicht auf derartiges berufen.
Die Klägerin konnte somit auf die Erträgnisse aus ihrer Erwerbstätigkeit verwiesen werden. Dafür, daß sie wegen Krankheit etwa nicht arbeiten konnte, ist konkret nichts dargetan. Ein Rentenanspruch nach § 1265 RVO besteht nicht.
Bei diesem Ergebnis kann die Frage offen bleiben, ob nicht allgemein nach § 1265 RVO ein Rentenanspruch dann nicht besteht, wenn ein Unterhaltsanspruch dem geschiedenen Mann gegenüber zwar gegeben war, die Geltendmachung jedoch unterblieben ist. Der Wortlaut dieser Vorschrift stellt es nämlich nicht, wie gemeinhin angenommen wird, auf das Bestehen eines Unterhaltsanspruches ab, sondern vielmehr darauf, daß der Versicherte Unterhalt nach dem Ehegesetz "zu leisten hatte". Dieser Wortlaut kann im Hinblick auf § 64 EheG von besonderer Bedeutung sein. Dort ist nämlich bestimmt, daß für die Vergangenheit Erfüllung des Unterhaltsanspruchs erst von der Zeit an gefordert werden kann, in der der Unterhaltspflichtige in Verzug gekommen oder der Unterhaltsanspruch rechtshängig geworden ist. Es ist aber zumindest zweifelhaft, ob sich der Unterhaltspflichtige in Verzug befindet, solange es an der Geltendmachung des Anspruchs fehlt; er hätte dann nicht "zu leisten" gehabt.
Das angefochtene Urteil muß daher aufgehoben, die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG zurückgewiesen werden (§ 170 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen