Orientierungssatz
Zur Frage, ob das Einkommen einer geschiedenen Frau aus einer Arbeit, die von ihr nicht erwartet werden konnte, bei Prüfung der Unterhaltsbedürftigkeit zu berücksichtigen ist (RVO § 1265 S 1 - Ergänzung von BSG 1968-06-27 - 4 RJ 255/66 = SozR Nr 45 zu § 1265 RVO).
Normenkette
RVO § 1265 S. 1 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 13. Juli 1967 und das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 18. Oktober 1966 werden aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die Klägerin beansprucht Hinterbliebenenrente aus der Rentenversicherung ihres geschiedenen Ehemannes, des Versicherten.
Die Ehe der Klägerin mit dem Versicherten war im April 1965 aus dem alleinigen Verschulden des Mannes geschieden worden. Aus der Ehe waren zwei - 1958 und 1960 geborene - Kinder hervorgegangen. Der Versicherte, der außerdem Vater eines 1955 unehelich geborenen Kindes war, ist am 6. November 1965 gestorben. In der Zeit nach der Scheidung hatte er an die Klägerin keinen Unterhalt geleistet. Wohl hatte er, noch bevor das Scheidungsurteil rechtskräftig geworden war, schriftlich erklärt, er werde für den Unterhalt der Klägerin und der Kinder sorgen, sobald er seine Schulden bezahlt haben werde. Die Unterhaltsansprüche der Kinder hatte die Klägerin im Rechtswege verfolgt. Für sich selbst hatte sie von einer solchen Klage abgesehen. Nach der Scheidung hatte sie zunächst Sozialunterstützung bezogen. Anfang Oktober 1965 hatte sie eine - ihrem Beruf als kaufmännische Angestellte entsprechende - Tätigkeit als Kontoristin aufgenommen. Ihr monatliches Bruttoeinkommen betrug 480,- DM. Ihre Stellung gab sie bald wegen Erkrankung auf, übernahm aber im Februar 1966 für 20 und später 30 Wochenstunden die Arbeit einer Schulsekretärin. Während ihrer Berufstätigkeit wurden die Kinder, soweit sie nicht zur Schule gingen, in einem Kinderhort untergebracht.
Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 17. März 1966 die Bewilligung der Hinterbliebenenrente ab, namentlich deshalb, weil die Klägerin in Anbetracht ihres Einkommens aus eigener Arbeit von ihrem geschiedenen Mann keinen Unterhalt habe verlangen können und demzufolge auch keinen Rentenanspruch habe (§ 1265 der Reichsversicherungsordnung - RVO -).
Auf die Klage hin hat das Sozialgericht (SG) die Beklagte zur Rentengewährung vom 1. Januar 1966 an verurteilt. Die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 13. Juli 1967 zurückgewiesen und auf die Anschlußberufung der Klägerin hin die Beklagte zur Rentenleistung bereits vom 1. November 1965 an verurteilt. Das Berufungsgericht hat angenommen, die Klägerin sei unterhaltsbedürftig gewesen. Ihr Arbeitseinkommen sei nicht zu berücksichtigen. Sie habe die beiden Kinder betreuen müssen. Daneben habe ihr die Übernahme einer Beschäftigung nicht, jedenfalls nicht ganztägig zugemutet werden können. - Das LSG hat die Revision zugelassen, weil es von der in BSG 9, 86 veröffentlichten Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) abgewichen ist.
Die Beklagte hat das Rechtsmittel eingelegt. Sie beantragt, die angefochtenen Urteile aufzuheben und die Klage abzuweisen. Ihres Erachtens ist die Auffassung des Berufungsgerichts nicht mit dem Gesetz vereinbar. Dieses sei - wie das BSG (aaO) verkannt habe - dahin zu verstehen, daß die geschiedene Ehefrau von dem Mann Unterhalt nur verlangen könne, wenn sie bedürftig sei. Die Bedürftigkeit entfalle aber bei ausreichendem Arbeitseinkommen. Ob von der Frau eine Arbeit erwartet werden könnte, wenn sie ihr nicht nachginge, betreffe nicht die Frage der Bedürftigkeit, sondern die der Zumutbarkeit einer Arbeit. Darum gehe es hier nicht. Hinzu komme, daß - nach der Überzeugung des Berufungsgerichts - die Klägerin auch ohne den Tod des Versicherten nach der Scheidung ständig einer Erwerbsarbeit nachgegangen wäre. Ihre Aufgaben als Mutter wären für sie kein Grund gewesen, einer Erwerbstätigkeit fernzubleiben. Aber selbst wenn sie nicht ganztägig gearbeitet haben würde, hätte sie - wie der Ertrag ihrer Beschäftigung als Schulsekretärin für 30 Wochenstunden mit rund 570,- DM monatlich gezeigt habe - für ihren angemessenen Unterhalt aus eigenen Kräften sorgen können.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen. Sie meint, ihr geschiedener Mann habe bei einem Monatseinkommen von über 700,- DM einen gewissen Betrag für sie abzweigen müssen. Sie habe nur notgedrungen ihre Kinder in Heime untergebracht und selbst gearbeitet. Unterhaltsansprüche seien gegen den geschiedenen Mann mit Sicherheit nicht durchzusetzen gewesen. Das habe sich gezeigt, als ihm das Unterhaltsurteil zugunsten der Kinder bekanntgeworden sei. Daraufhin habe er Selbstmord begangen.
Beide Beteiligte sind mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die Revision ist begründet.
Die Tatbestandsmerkmale des § 1265 RVO, die zur Begründung des Anspruchs auf Hinterbliebenenrente gegeben sein müssen, sind nicht verwirklicht. Die Feststellung des LSG, daß der Versicherte im letzten Jahr vor seinem Tode keinen Unterhalt geleistet hat, ist Revisionsangriffen nicht ausgesetzt. Es ist ferner auszuschließen, daß die Klägerin Unterhalt aus der Verpflichtungserklärung des Versicherten als einem "sonstigen Grunde" hätte verlangen können. Denn der Versicherte hatte seine Leistungszusage von der vorherigen Begleichung seiner Schulden abhängig gemacht. Daß er zur Zeit seines Todes von seinen Verbindlichkeiten frei gewesen wäre, ist nicht festgestellt und von der Klägerin auch nicht behauptet worden; diese hat vielmehr vorgetragen, daß der Versicherte sich seinen Verpflichtungen nicht mehr gewachsen gefühlt und deshalb den Freitod gesucht habe. Es kommt deshalb im vorliegenden Fall allein darauf an, ob der Versicherte zur Zeit seines Todes der Klägerin Unterhalt nach den Vorschriften des Ehegesetzes zu leisten hatte. Auch diese Alternative entfällt.
Es kann unterstellt werden, daß der Versicherte zuletzt wirtschaftlich in der Lage war, seiner Unterhaltspflicht der Klägerin gegenüber nachzukommen (§ 1265 Satz 2 RVO). Dennoch war der Versicherte nach dem Ehegesetz - EheG - (§§ 58 ff EheG) nicht gehalten, zu dem Lebensbedarf der Klägerin beizutragen. Diese vermochte für sich selbst zu sorgen. Sie verfügte - nach den im Berufungsurteil getroffenen Feststellungen - zu der Zeit, in welcher der Versicherte starb, über ein eigenes Arbeitseinkommen. Die Höhe dieses Einkommens von monatlich etwa netto 380,- DM - brutto 480,- DM - überstieg den Betrag, der als angemessener Unterhalt der Klägerin in Betracht kam. Jedenfalls lag ihr Lohn nicht wesentlich unter einem Drittel bis zwei Fünftel des gesamten Einkommens der geschiedenen Eheleute. Außerdem wäre noch zu berücksichtigen, daß der Versicherte auch für sein uneheliches Kind zu zahlen hatte. Keinesfalls hätte die Klägerin für sich von dem Versicherten eine Leistung solchen Umfangs verlangen können, die rechtlich Bedeutung gehabt hätte. Davon könnte nur die Rede sein, wenn ihre Unterhaltsforderung die Höhe von etwa 25 v. H. des zeitlich und örtlich notwendigen Mindestbedarfs an Unterhalt ausgemacht hätte (BSG 22, 44). Das ist jedoch bei dem gegebenen Sachverhalt ausgeschlossen.
Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts haben die Arbeitseinkünfte der Klägerin nicht deshalb unberücksichtigt zu bleiben, weil von ihr eine Erwerbstätigkeit nicht habe erwartet werden können. In dieser Frage gehen zwar die Rechtsansichten auseinander; doch wird der gegenwärtige Rechtsstreit von dieser Meinungsverschiedenheit nicht betroffen. Nach der einen Auffassung hängt die Frage nach der Bedürftigkeit einer geschiedenen Frau von ihren tatsächlichen - zu ihrem angemessenen Unterhalt verwertbaren - Einkünften ab, wobei es unerheblich sein soll, ob diese Einkünfte von einer Erwerbstätigkeit herrühren, die der Frau etwa wegen ihres Gesundheitszustandes, ihres Alters oder ihrer Pflichten als Mutter nicht angesonnen werden könnte (BSG 9, 86; Urteil vom 5. Mai 1961 - 1 RA 49/59 -). Nach der anderen sollen die Erträgnisse einer der Frau unzumutbaren Arbeit in diesem Zusammenhang keine Berücksichtigung finden (BSG 26, 293). Welcher Meinung der Vorzug zu geben ist, kann für diesen Rechtsstreit auf sich beruhen. Auch dann, wenn man der letzterwähnten, für die geschiedene Frau günstigeren Ansicht folgt, wird man ihr den Unterhaltsanspruch nicht schlechthin schon deshalb zubilligen können, weil sie ein bis zwei noch kleinere Kinder zu betreuen hat. Vielmehr wird im allgemeinen, selbst wenn die Frau Mutterpflichten zu erfüllen hat, auch heute noch davon auszugehen sein, daß sie einem ausgeübten Beruf "zumutbar" nachgeht (BSG, Urteil vom 22. März 1968 - 1 RA 35/67 -). Unzumutbar wird der Frau die Arbeit nur verhältnismäßig selten, in besonderen Fällen sein, etwa dann, wenn sie sich ein völlig unangemessenes Verhalten abverlangt. Von einem solchen, zu beachtenden Härtefall kann keine Rede sein, wenn eine Frau lediglich so handelt, wie es ihrer Einsicht in die sie betreffenden nicht ungewöhnlichen Lebenserfordernisse gemäß ist (vgl. hierzu auch: BSG, Urteil vom 27. Juni 1968 - 4 RJ 255/66 -). In diesem Sinne ist das Verhalten der Klägerin zu werten. Das LSG hat hierzu festgestellt, daß die Klägerin seit ihrem 16. Lebensjahr, auch während und nach ihrer Ehe berufstätig gewesen ist; es hat die Überzeugung gewonnen, daß sie bei einem Alter von 30 Jahren und wenig mehr und bei ihrer sozialen Lage laufend eine Erwerbstätigkeit ausgeübt hätte. Ein solcher Sachverhalt schließt die Annahme einer unzumutbaren Erwerbsarbeit der Klägerin aus. Deshalb kann der daraus gewonnene Gelderwerb berücksichtigt werden.
Zu dem vom Senat gewonnenen Ergebnis würde auch die folgende Überlegung führen. Dem Anspruch der Klägerin stünde die Regelung entgegen, daß Unterhalt nur für die Zukunft gefordert werden kann. Ein etwaiger Unterhaltsanspruch wäre nur von der Zeit des Verzugs oder der Rechtshängigkeit an zu erfüllen gewesen (§ 64 EheG). Diese Voraussetzung muß nach § 1265 Satz 1 RVO zur Zeit des Todes des Versicherten verwirklicht gewesen sein. In dieser Vorschrift wird durch die Worte "Unterhalt nach den Vorschriften des Ehegesetzes" auch auf § 64 EheG hingewiesen. Das wird noch dadurch verdeutlicht, indem dort verlangt wird, daß der Versicherte zur maßgeblichen Zeit Unterhalt "zu leisten hatte". "Zu leisten haben" ist nach dem juristischen Sprachgebrauch nicht gleichzusetzen mit "verpflichtet sein". Das "Verpflichtet sein" - daß Unterhalt "geschuldet" wurde - genügt mithin jedenfalls nach dem Wortlaut des Gesetzes nicht. Vielmehr muß danach zugunsten der geschiedenen Frau der Unterhaltsanspruch in ein greifbares aktuelles Stadium eingetreten sein, wenn er für § 1265 RVO rechtserheblich sein soll.
Auf ähnlicher Linie liegt, daß selbst ein Vollstreckungstitel nicht stets als Voraussetzung für die Bewilligung der Hinterbliebenenrente ausreicht, nämlich dann nicht, wenn der Versicherte zum Todeszeitpunkt die Wirkungen eines solchen Titels nach den Regeln der §§ 323, 767 der Zivilprozeßordnung (ZPO) hätte beseitigen können (BSG 20, 1, 5). -- Mit diesem Gedankengang stimmt ferner überein, daß es für die Anwendung des § 1265 RVO auf den realen Wert des Unterhalts abgestellt wird; geringfügige Beträge werden als Unterhalt ausgeschieden (BSG 22, 44).
Im Fall der Klägerin war ein Unterhaltsanspruch gegen den Versicherten zuletzt weder erfüllt noch rechtshängig geworden; soweit der Sachverhalt ermittelt worden ist, erscheint es auch unwahrscheinlich, daß Verzug vorgelegen hat. Es braucht jedoch auf Einzelheiten nicht eingegangen zu werden, weil das Rentenbegehren der Klägerin schon aus den anderen - oben dargelegten - Gründen keinen Erfolg haben kann.
Die angefochtenen Urteile sind demnach aufzuheben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen