Leitsatz (amtlich)
Der Versicherungsschutz nach RVO § 550 S 1 ist im allgemeinen nicht gegeben, wenn ein Beschäftigter auf dem Wege nach oder von dem Ort der Tätigkeit einer zusätzlichen Gefahr erliegt, welcher er sich freiwillig ausgesetzt hat und die seinem privaten Lebensbereich zuzurechnen ist.
Normenkette
RVO § 550 S. 1 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 22. Juni 1967 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Die als Küchenhilfe in der Bundeswehrkaserne in E beschäftigte Klägerin war am 29. November 1963 nach Beendigung ihrer Arbeit kurz nach 19 Uhr von ihrer 17jährigen Tochter zum gemeinsamen Nachhauseweg abgeholt worden. Sie wohnt in der Charlottenstraße in E. Ihre Tochter führte einen Schäferhund an der Leine bei sich. Unterwegs schickte die Klägerin ihre Tochter zu einem Kiosk auf der gegenüberliegenden Straßenseite, um für ihren Ehemann Zigaretten besorgen zu lassen. Die Klägerin übernahm einstweilen den Hund und schlang die Hundeleine fest um das Handgelenk. Der Hund drängte der Tochter stürmisch nach und zerrte die Klägerin auf die Fahrbahn der Straße. Dort wurde die Klägerin von einem Personenkraftwagen erfaßt und schwer verletzt.
Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 3. November 1965 die Entschädigungsansprüche mit der Begründung ab, der Unfall sei durch das nicht voraussehbare Verhalten des Hundes verursacht worden; daher bestehe kein ursächlicher Zusammenhang mit dem Zurücklegen des Heimweges der Klägerin im Sinne des § 550 der Reichsversicherungsordnung (RVO).
Diesen Bescheid hat die Klägerin beim Sozialgericht (SG) Lübeck angefochten. Dieses hat die Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) für den Kreis E beigeladen.
Die AOK begehrt, den Unfall der Klägerin als Arbeitsunfall anzuerkennen und den auf Grund des § 1509 a RVO geltend gemachten Ersatzanspruch der Beklagten abzuweisen.
Das SG hat durch Urteil vom 13. Dezember 1966 die Klage abgewiesen. Es ist der Ansicht, die Klägerin habe den durch das Zurücklegen des Heimweges an sich begründeten Versicherungsschutz durch das Warten auf die Tochter unterbrochen und durch das Festhalten des Hundes eine den Zusammenhang des Weges mit der versicherten Tätigkeit lösende Gefahr geschaffen.
Im Berufungsverfahren hat die Klägerin u.a. geltend gemacht, der Schäferhund sei mitgeführt worden, weil auf der Wohnstraße der Klägerin schon wiederholt Frauen durch fremde Personen belästigt worden seien. Das Landessozialgericht (LSG) hat durch Urteil vom 22. Juni 1967 die Berufung zurückgewiesen und zur Begründung u.a. ausgeführt: Zwar sei der Unfall der Klägerin im Zusammenhang mit dem Zurücklegen des Heimweges von der Arbeitsstätte eingetreten. Aber zum Zustandekommen des Unfalls selbst habe wesentlich eine von dem Zurücklegen dieses Weges abgrenzbare Verrichtung beigetragen. Diese habe darin bestanden, daß die Klägerin unterwegs den Schäferhund von ihrer Tochter aus einem ihrem persönlichen Lebensbereich zuzurechnenden Grund übernommen habe. Hierbei habe es sich um eine in das Zurücklegen des Heimweges eingeschobene Verrichtung gehandelt, die nach Art und Umfang, und zwar wegen der Folgen, die durch das Festhalten des Hundes für die Klägerin entstanden seien, so wesentlich sei, daß während ihrer Dauer die ursächliche Verknüpfung mit dem Zurücklegen des Weges als rechtlich unerheblich in den Hintergrund zu treten habe. Mit dem Übernehmen des ihr nicht gehörenden Schäferhundes habe die Klägerin für die Entstehung des Unfalls eine Ursachenkette gesetzt, welche dem Ablauf des Weges die entscheidende Wendung gegeben habe. Die Klägerin habe die Hundeleine so fest um ihr Handgelenk geschlungen, daß sie sich von dem Hund nicht habe freimachen können, als sie von ihm auf die Fahrbahn gezerrt worden sei. Das Verhalten der Klägerin sei in hohem Maße vernunftswidrig gewesen. Die Gefahr, die sie dadurch selbst geschaffen habe, sei ihrem persönlichen Lebensbereich zuzurechnen. Jedenfalls sei nicht das Zurücklegen des Heimweges, sondern allein die Tatsache, daß die Klägerin mit dem Hund auf offener Straße unvernünftig umgegangen sei, die rechtlich wesentliche Ursache des Unfalls. Die Voraussetzungen des § 550 RVO seien daher nicht gegeben.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Klägerin hat gegen das ihr am 28. November 1967 zugestellte Urteil am 29. November 1967 Revision eingelegt und diese am 5. Dezember 1967 wie folgt begründet: Aus der Rechtsprechung des 2. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) (SozR Nr. 77 zu § 542 RVO aF) ergebe sich, daß, wenn ein Versicherter in das Zurücklegen eines versicherten Weges eine privaten Zwecken dienende Verrichtung einschiebe, der Versicherungsschutz unter gewissen Voraussetzungen und in gewissen Grenzen nicht ausgeschlossen werde und daß der Begriff der selbstgeschaffenen Gefahr stets nur mit großer Vorsicht gehandhabt werde. Das LSG hätte daher beachten müssen, daß der Schäferhund in der Hausgemeinschaft der Klägerin gehalten worden sei. Der Hund sei für die Klägerin nicht fremd gewesen. Übersehen habe das Berufungsgericht, daß die Klägerin abends nach der Arbeit immer von ihrer Tochter in Begleitung des Hundes zum Schutz abgeholt worden sei. Der Schäferhund sei mitgeführt worden, weil auf der nicht ausreichend beleuchteten Wohnstraße der Klägerin schon mehrfach Frauen von fremden Männern belästigt worden seien. Das Warten der Klägerin auf ihre Tochter, während diese sich zum Zigarettenkauf über die Straße begeben habe, könne daher nicht als das Einschieben einer privaten Verrichtung angesehen werden, welches den Versicherungsschutz der Klägerin unterbrochen habe.
Die Klägerin beantragt,
die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin aus Anlaß des Unfalls vom 29. November 1963 Entschädigung zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie pflichtet dem angefochtenen Urteil bei.
II
Die Revision ist zulässig. Sie hatte auch insofern Erfolg, als das Berufungsurteil aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen war.
Die Klägerin befand sich auf dem Heimweg von der Arbeit, als sie verunglückte. Der Unfall hat sich jedoch nicht beim unmittelbaren Zurücklegen dieses Weges ereignet. Er ist nach den unangegriffenen tatsächlichen Feststellungen des angefochtenen Urteils vielmehr dadurch zustande gekommen, daß die Klägerin von einem angeleinten Schäferhund, den sie aus der Hand ihrer sie auf dem Nachhauseweg begleitenden Tochter übernommen und fest an sich gebunden hatte, gewaltsam vom Gehsteig auf die Fahrbahn der Straße gezerrt worden war. Das LSG hat darin, daß die Klägerin die Hundeleine so fest um ihr Handgelenk geschlungen hatte, daß sie sich von dem über die Straße stürmenden Hund nicht rechtzeitig befreien konnte, als sie in die Fahrbahn eines nahenden Kraftwagens geriet, ein ihren Versicherungsschutz ausschließendes Verhalten erblickt. Dieser Auffassung ist der erkennende Senat jedoch nicht beigetreten. Es trifft zwar zu, daß der zur Begründung des Versicherungsschutzes nach § 550 RVO erforderliche innere Zusammenhang mit dem Zurücklegen des Weges nach oder von dem Ort der Tätigkeit nicht mehr vorhanden ist, wenn der Versicherte sich auf diesem Wege dermaßen sorglos und unvernünftig verhält, daß nicht mehr der Weg, sondern dieses Verhalten, und zwar unter dem Gesichtspunkt der selbstgeschaffenen Gefahr, als die rechtlich wesentliche Ursache für einen auf dem Wege eingetretenen Unfall anzusehen ist (vgl. SozR Nr. 77 zu § 542 RVO aF). Entgegen der Ansicht des LSG stellt jedoch das zum Unfall führende Festhalten des Hundes ein derartiges vernunftswidriges Verhalten der Klägerin nicht dar. Es mag sein, daß sie beim Festbinden des angeleinten Hundes an ihren Arm nicht alle Möglichkeiten bedacht hat, welche ihr durch das Reagieren des Tieres auf unvorhergesehene Umweltreize im Straßenverkehr gefährlich werden konnten. Diese Unbedachtsamkeit ist jedoch nicht einem so hochgradig unvernünftigen Handeln gleichzuerachten, daß die dadurch herbeigeführte Gefährdung für die Klägerin deren persönlicher Sphäre zuzurechnen ist und deshalb zum Wegfall des Versicherungsschutzes führt (vgl. Nr. 53 zu § 542 RVO aF). Hierfür spricht vor allem der Umstand, daß das Festbinden des Hundes in der Absicht, ihn auf dem Gehsteig zurückzuhalten, geeignet war, Unfallgefahren von anderen Verkehrsteilnehmern, insbesondere Kraftfahrern, abzuwenden. Im übrigen wird der Begriff der selbstgeschaffenen Gefahr, welchen das LSG im vorliegenden Fall als erfüllt ansieht, in ständiger Rechtsprechung nur mit größter Vorsicht gehandhabt (vgl. BSG 6, 164, 169; 14, 64, 67; Urt. des BSG v. 14.12.1965 in Breith. 1966, 834, 835). Die Maßstäbe, welche dieser Rechtsprechung zugrundeliegen, hat das LSG außer acht gelassen. Gesichtspunkte, welche geeignet wären, etwa aus der Sicht des vorliegenden Falles eine abweichende Beurteilung zu rechtfertigen, sind nicht ersichtlich, insbesondere auch nicht der Begründung des angefochtenen Urteils zu entnehmen.
Obwohl hiernach der Versicherungsschutz der Klägerin nicht daran scheitert, daß ihr Handeln vernunftswidrig war, bleibt der für eine Entschädigungspflicht der Beklagten erforderliche innere Zusammenhang des Unfallgeschehens mit dem Zurücklegen des Heimweges in Frage gestellt, wenn der Schäferhund auf dem Heimweg der Klägerin lediglich im Interesse seiner Betreuung mitgeführt wurde. Unter dieser Voraussetzung hat sich die Klägerin durch die Übernahme und das Festhalten des Hundes einer Gefahr, der sie erlegen ist, ausgesetzt, die ihr ohne dieses Zutun auf dem Heimweg nicht begegnet wäre. Die daraus entstandene Verkehrsgefahr stellte daher im Verhältnis zu den Gefahren, mit denen auf dem damaligen Heimweg der Klägerin gerechnet werden konnte, ein zusätzliches Risiko dar. In diese durch das Umgehen mit dem Schäferhund hervorgerufene zusätzliche Gefahrensituation war die Klägerin durch Umstände geraten, die ihr nicht im Zusammenhang mit dem Zurücklegen des Heimweges begegneten. Sie hatte die Gefahr freiwillig auf sich genommen. Da für die Übernahme des Hundes kein dem Erreichen des Wegzieles dienlicher Grund maßgeblich war, die Klägerin den Hund nach den Feststellungen des LSG in ihre vorübergehende Obhut vielmehr genommen hatte, um ihrer Tochter das Überqueren der Straße zum Besorgen der Zigaretten für ihren Ehemann zu erleichtern, lag der gesamte Vorgang in ihrem privaten Interesse. Bei der so gekennzeichneten Sach- und Rechtslage stellt das Zurücklegen des Heimweges der Klägerin keine Unfallursache im Rechtssinne dar.
Der Sachverhalt ist nach der Auffassung des erkennenden Senats freilich anders zu beurteilen, wenn, wie die Klägerin bereits im Berufungsschriftsatz geltend gemacht hat, der Schäferhund zu ihrem persönlichen Schutz auf dem Heimweg mitgeführt wurde. Das LSG brauchte dieses Tatsachenvorbringen bei seiner Entscheidung nicht zu berücksichtigen, da es auf Grund seiner Rechtsauffassung - vernunftswidriges, den Versicherungsschutz ausschließendes Verhalten der Klägerin - auf jeden Fall zur Ablehnung der Entschädigungsansprüche hätte kommen müssen. Nachdem - wie eingangs ausgeführt - dieser Auffassung aber nicht zu folgen ist, hat sich die Prüfung der Sach- und Rechtslage nunmehr auch auf die Frage zu erstrecken, ob das bisher unberücksichtigt gebliebene Tatsachenvorbringen, das von der Revision mit Nachdruck wiederholt worden ist, eine der Klägerin günstige Entscheidung rechtfertigen könnte, falls es erwiesen wäre.
Diese Frage bejaht der erkennende Senat. Trifft es zu, daß der Weg der Klägerin von ihrer Arbeitsstätte zur Wohnung durch einen Straßenzug führt, der in der Dunkelheit wegen unzureichender Beleuchtung erfahrungsgemäß Anlaß zu der Befürchtung gab, von fremden Männern belästigt zu werden, erfüllte der Schäferhund eine dem Zurücklegen des Heimweges dienliche Schutzaufgabe. Unter dieser Voraussetzung stünde daher die durch das Führen des Hundes entstandene Gefährdung der Klägerin in einem rechtlich wesentlichen Zusammenhang mit dem Zurücklegen des Weges. Die Rechtslage unterschiede sich dann nicht von dem den Versicherungsschutz ohne weiteres begründenden Fall, daß die Klägerin durch einen Windstoß oder im Menschengedränge auf die Fahrbahn geraten und dabei von einem Kraftwagen angefahren worden wäre.
Da das LSG keine dieser rechtlichen Betrachtung Rechnung tragenden tatsächlichen Feststellungen getroffen hat, ist dem erkennenden Senat eine abschließende Entscheidung über den von der Klägerin geltend gemachten Entschädigungsanspruch nicht möglich. Das angefochtene Urteil mußte daher aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes).
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen