Entscheidungsstichwort (Thema)
Versicherungsschutz bei stationärer Behandlung
Leitsatz (amtlich)
Ein nach RVO § 539 Abs 1 Nr 17 Buchst a Versicherter steht auf einem der stationären Behandlung dienlichen Spaziergang auch dann unter Versicherungsschutz, wenn der Spaziergang vom Arzt nicht angeordnet worden ist.
Leitsatz (redaktionell)
Ein Versicherungsschutz besteht nicht schlechthin während der gesamten Dauer der stationären Behandlung iS des RVO § 539 Abs 1 Nr 17 Buchst a und RVO § 559. Ein nur zeitlicher und örtlicher Zusammenhang zwischen der stationären Behandlung und dem Unfall genügt nicht; es wird vielmehr ein innerer ursächlicher Zusammenhang vorausgesetzt.
Orientierungssatz
Eine Tätigkeit steht in ursächlichem Zusammenhang mit der stationären Behandlung iS des RVO § 539 Abs 1 Nr 17 Buchst a, wenn sie dieser Behandlung dienlich ist. Ob dies der Fall ist, beurteilt sich - ebenso wie bei Tätigkeiten im Rahmen eines Beschäftigungsverhältnisses - nicht danach, ob die Tätigkeit der stationären Behandlung objektiv dienlich war, sondern es ist ausreichend, daß der Versicherte von seinem Standpunkt aus der Auffassung sein konnte, die Tätigkeit sei geeignet, seiner stationären Behandlung zu dienen. Bei Verrichtungen, die wesentlich allein von der stationären Behandlung unabhängigen privaten Interessen des Versicherten dienen, besteht demnach ebenso wie im Rahmen eines Beschäftigungsverhältnisses kein Versicherungsschutz.
Normenkette
RVO § 539 Abs. 1 Nr. 17 Buchst. a Fassung: 1974-08-07, § 548 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1963-04-30
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 08.03.1978; Aktenzeichen L 6 U 321/77) |
SG Hannover (Entscheidung vom 25.10.1977; Aktenzeichen S 2 U 73/77) |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 8. März 1978 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Beigeladenen auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) gewährte der im Jahre 1917 geborenen Beigeladenen wegen einer Hypertonie ein Heilverfahren in einer Kurklinik. Am 25. Mai 1975 fiel die Beigeladene im Anschluß an einen etwa einstündigen Spaziergang im Park der Klinik und zog sich eine Stauchung im rechten Handgelenk zu.
Die Klägerin zahlte der bei ihr versicherten Beigeladenen 33 Tage Krankengeld in Höhe von insgesamt 1.104,18 DM. Außer diesem Betrag verlangte sie von der Beklagten Ersatz des Grundbetrages von 37,- DM sowie 2 vH Verwaltungskosten.
Die Beklagte lehnte Ersatzansprüche ab, da der Spaziergang ohne ärztliche Anordnung durchgeführt und deshalb zu dem privaten Bereich der Beigeladenen zu rechnen sei.
Das Sozialgericht (SG) hat durch Urteil vom 25. Oktober 1977 die Klage abgewiesen und ua ausgeführt: Zwar förderten Spaziergänge die Gesundheit, insbesondere von Bluthochdruckkranken; sie dienten aber nicht nur zur Gesunderhaltung und Erholung bei Insassen einer Kuranstalt, sondern sie seien auch bei allen übrigen Menschen sehr beliebt. Der Spaziergang könne somit nicht als Auswirkung einer Kuranweisung, sondern lediglich als Freizeitgestaltung angesehen werden.
Auf die Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG aufgehoben und durch Urteil vom 8. März 1978 die Beklagte verurteilt, an die Klägerin 1.163,26 DM zu zahlen. Das Berufungsgericht hat zur Begründung ausgeführt: Es gehörten nicht nur solche Betätigungen zu dem in § 539 Abs 1 Nr 17 Buchst a der Reichsversicherungsordnung (RVO) geschützten Bereich, welche auf einer ausdrücklichen ärztlichen Anordnung beruhten. Der Versicherte solle gegen alle Gefahren geschützt sein, welche dem Verweilen in einer stationären Behandlung zwangsläufig anhaften würden. Somit gehöre die sachgerechte Nutzung der üblichen Heil- und Kuranlagen während des Heilverfahrens zu dem geschützten Bereich. Der Spaziergang in einer Kuranlage, und insbesondere in einem zur Klinik gehörenden Park, stehe in einem inneren ursächlichen Zusammenhang mit der Heilbehandlung.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt.
Sie trägt vor: Der Unfallversicherungsschutz erstrecke sich nur auf medizinische Maßnahmen. Es müsse sich um therapeutische Maßnahmen und um Vorgänge handeln, die mit diesen in Verbindung stünden. Der Versicherungsschutz beziehe sich nur darauf, daß ein Patient sich einer medizinischen Maßnahme in dem ihm fremden Gefahrenbereich der stationären Behandlung unterziehe. Die mit einer stationären Behandlung verbundenen Risiken, die ohne jede Beziehung zu den eigentlichen medizinischen und therapeutischen Vorgängen stünden, seien nicht mit in den Versicherungsschutz einbezogen. Dazu gehörten zB die Einnahme der Mahlzeiten und Spaziergänge im Kurpark.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts zurückzuweisen,
hilfsweise, die Sache an das LSG zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beigeladene hat sich zur Sache nicht geäußert.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision ist nicht begründet.
Die Beklagte hat der Klägerin im Rahmen des § 1504 RVO und der Verwaltungsvereinbarung vom 28. Juni 1963 die Kosten zu ersetzen, die der Klägerin aus Anlaß des Unfalles der Beigeladenen am 25. Mai 1975 entstanden sind, da die Krankheit der Beigeladenen Folge eines Arbeitsunfalles war, den die Beklagte zu entschädigen hat.
Die Beigeladene gehörte im Zeitpunkt des Unfalles zu den nach § 539 Abs 1 Nr 17 Buchst a RVO versicherten Personen, da ihr die BfA als Trägerin der gesetzlichen Rentenversicherung stationäre Behandlung in einer Kureinrichtung gewährte.
Arbeitsunfall ist ein Unfall, den ein Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 - 545 RVO aufgeführten Tätigkeit erleidet (s § 548 Abs 1 Satz 1 RVO). Voraussetzung ist demnach, daß ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Unfall und einer dieser Tätigkeiten gegeben ist (s Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. - 8. Aufl, S 480 b I). Das LSG hat deshalb zutreffend zum Ausdruck gebracht, daß ein Versicherungsschutz der Beigeladenen nach § 548 RVO somit nicht schlechthin während der gesamten Dauer der stationären Behandlung in der Kureinrichtung bestanden hat. Ein nur zeitlicher und örtlicher Zusammenhang zwischen der stationären Behandlung und dem Unfall genügt nicht, vielmehr wird auch hier ein innerer ursächlicher Zusammenhang vorausgesetzt. Ob ein Ursachenzusammenhang zwischen der stationären Behandlung und dem Unfall gegeben ist, entscheidet sich für die nach § 539 Abs 1 Nr 17 Buchst a RVO versicherten Personen ebenfalls nach der in der gesetzlichen Unfallversicherung maßgebenden Kausalitätslehre von der wesentlichen Bedingung. Im Rahmen der hiernach in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze sind die besonderen Verhältnisse des jeweiligen Einzelfalles maßgebend (vgl Brackmann aaO S 480 e ff, 480 i).
Entgegen der Auffassung der Revision besteht Versicherungsschutz für die nach § 539 Abs 1 Nr 17 Buchst a RVO versicherten Personen nicht nur bei Verrichtungen zur Durchführung von "medizinischen Maßnahmen". Der Gesetzeswortlaut enthält keine Anhaltspunkte für eine derartige Beschränkung des Versicherungsschutzes, zumal da das Risiko der ärztlichen Behandlung selbst nicht Gegenstand des Versicherungsschutzes ist (s das zur Veröffentlichung bestimmte Urteil des Senats vom 27. Juni 1978 - 2 RU 20/78). Dies gilt auch für die Entstehungsgeschichte dieser Vorschrift. Sinn und Zweck des Versicherungsschutzes bei einer stationären Behandlung sprechen ebenfalls nicht dafür, abweichend von dem allgemeinen Grundsatz, daß Versicherungsschutz bei allen Verrichtungen besteht, die in ursächlichem Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit - hier der stationären Behandlung - stehen, den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung nur auf bestimmte Verrichtungen zu beschränken.
Die in ursächlichem Zusammenhang mit einem Beschäftigungsverhältnis stehende Tätigkeit ist dadurch gekennzeichnet, daß sie dem Unternehmen dienlich ist (BSG SozR Nr 22 zu § 548 RVO; Brackmann aaO S 480 q). Somit steht auch eine Tätigkeit in ursächlichem Zusammenhang mit der stationären Behandlung im Sinne des § 539 Abs 1 Nr 17 Buchst a RVO, wenn sie dieser Behandlung dienlich ist. Ob dies der Fall ist, beurteilt sich - ebenso wie bei Tätigkeiten im Rahmen eines Beschäftigungsverhältnisses (s BSGE 20, 215, 218; BSG SozR aaO Nr 23, 25, 30; Brackmann aaO; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl, § 548 Anm 7) - nicht danach, ob die Tätigkeit der stationären Behandlung objektiv dienlich war, sondern es ist ausreichend, daß der Versicherte von seinem Standpunkt aus der Auffassung sein konnte, die Tätigkeit sei geeignet, seiner stationären Behandlung zu dienen. Bei Verrichtungen, die wesentlich allein von der stationären Behandlung unabhängigen privaten Interessen des Versicherten dienen, besteht demnach ebenso wie im Rahmen eines Beschäftigungsverhältnisses kein Versicherungsschutz. Das wäre zB hier grundsätzlich der Fall, wenn der Versicherte einen Theaterabend oder eine sonstige kulturelle oder gesellige Veranstaltung besucht oder einen Ausflug mit dem Omnibus unternimmt, um sich in rein zeitlichem Zusammenhang mit der Kur die Umgebung anzusehen. Ebenso wie der Versicherungsschutz bei einer versicherten Tätigkeit aufgrund eines Beschäftigungsverhältnisses nicht eine ausdrückliche Anweisung des Arbeitgebers voraussetzt (s BGH AP Nr 6 zu § 637 RVO mit Anmerkung von Sokoll; Brackmann aaO), ist auch der Versicherungsschutz nach § 539 Abs 1 Nr 17 Buchst a RVO iVm § 548 RVO nicht davon abhängig, daß die Tätigkeit vom Arzt oder seiner Hilfsperson zur Durchführung der stationären Behandlung ausdrücklich angeordnet wird. Konnte die Beigeladene davon ausgehen, daß der Spaziergang dem Erfolg der stationären Behandlung dienlich sei, so stand sie, wie das LSG mit Recht entschieden hat, dabei auch unter Versicherungsschutz, wenn der Arzt den Spaziergang nicht ausdrücklich angeordnet hatte (aA Spitzenverbände der Rehabilitationsträger in BKK 1975, 221, 222). Das LSG hat festgestellt, daß das Blutdruckleiden der Beigeladenen eine angemessene Bewegung geboten hat. Auch die Beigeladene hat deshalb davon ausgehen können, daß der Spaziergang, bei dem sie verunglückt ist, der stationären Behandlung gedient hat. Sie hat somit im Unfallzeitpunkt unter Versicherungsschutz gestanden.
Die Krankheit der Beigeladenen war demnach die Folge eines Arbeitsunfalles, den die Beklagte zu entschädigen hat. Die Beklagte hat der Klägerin gemäß § 1504 Abs 1 RVO das der Beigeladenen nach dem 18. Tag nach dem Arbeitsunfall gezahlte Krankengeld und aufgrund der Verwaltungsvereinbarung vom 28. Juni 1963 in der hier maßgebenden Fassung den Grundbetrag von 37,- DM zuzüglich 2 % der Auftragsleistungen zu ersetzen.
Die Revision der Beklagten war daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen