Orientierungssatz
Zur Frage, wann ein zum Ruhen einer Altersrente führender freiwilliger Auslandsaufenthalt (hier: in Chile) eines Versicherten gemäß AVG § 94 Abs 1 Nr 1 (= RVO § 1315 Abs 1 Nr 1) vorliegt.
Normenkette
RVO § 1315 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1960-02-25; AVG § 94 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1960-02-25
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 2. November 1971 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der Rechtsstreit betrifft die Frage, ob sich der Kläger freiwillig gewöhnlich außerhalb des Geltungsbereichs des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) aufhält und ob deswegen das ihm gewährte Altersruhegeld gemäß § 94 Abs. 1 Nr. 1 AVG ruht.
Der ... 1886 geborene Kläger lebt seit 1921 in Chile. Er ist seit 1923 chilenischer Staatsangehöriger. Er besaß früher die deutsche Staatsangehörigkeit und war von September 1902 bis Februar 1921 auf deutschen Schiffen - zuletzt als Kapitän - versicherungspflichtig beschäftigt gewesen. 1921 mußte sein Schiff auf Reparationskonto an die Alliierten ausgeliefert werden. Dadurch verlor er seinen Arbeitsplatz. Da er zu jener Zeit in Deutschland keine Arbeit als Kapitän finden konnte, begab er sich nach Chile, wo er 1920 eine in B geborene Deutsche geheiratet hatte. Seitdem fuhr er auf chilenischen Schiffen als Kapitän, was den Besitz der chilenischen Staatsangehörigkeit voraussetzte. Von 1943 bis 1948 war ihm diese Tätigkeit nicht erlaubt; er nahm sie aber 1948 wieder auf und setzte sie mit Unterbrechungen bis 1959 fort; dann arbeitete er nicht mehr.
Aus seiner Ehe sind drei in Chile geborene Töchter hervorgegangen, die dort inzwischen verheiratet sind und selbst Kinder haben. Der Kläger besitzt in Chile ein Haus.
Die Beklagte bewilligte dem Kläger auf seinen im November 1969 gestellten Antrag mit Bescheid vom 12. Oktober 1970 Altersruhegeld vom 1. Juli 1965 an, dessen Zahlbetrag zunächst monatlich 297,50 DM betrug, aufgrund der Rentenanpassungsgesetze erhöht wurde und vom 1. Januar 1970 an auf 403,90 DM festgestellt ist; gleichzeitig stellte die Beklagte das Ruhen der Rente gemäß § 94 Abs. 1 Nr. 1 AVG fest, weil der Kläger sich freiwillig im Ausland aufhalte. Demgegenüber hat der Kläger mit der gegen den Bescheid erhobenen Klage geltend gemacht, sein Aufenthalt in Chile sei unfreiwillig.
Das Sozialgericht (SG) Hamburg hat durch Urteil vom 26. Mai 1971 den Bescheid der Beklagten dahin geändert, daß die Feststellung des Ruhens der Rente entfalle. Das Landessozialgericht (LSG) hat das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 2. November 1971). Es hat ausgeführt, auch wenn der Kläger im September 1939 und im Jahre 1945 nach Beendigung des Krieges den ernsthaften Willen gehabt haben sollte, nach Deutschland zurückzukehren, sei er doch nach 1948 bis 1959, insbesondere seit der Besserung der wirtschaftlichen Verhältnisse in Deutschland Anfang der 50er Jahre in Chile geblieben, obgleich er nach Deutschland hätte zurückkehren können, wenn er dies gewollt hätte; zumindest seit den Jahren 1951/52 sei sein Aufenthalt in Chile freiwillig; hieran habe sich auch seit der Aufgabe seiner Arbeit im Jahre 1959 nichts geändert. Seine bloße Behauptung, er sei zur Rückkehr nach Deutschland ernstlich gewillt, genüge nicht. An den Nachweis, daß ein solcher Wille wirklich bestehe, müsse im Falle eines Ausländers, dessen Lebensmittelpunkt sich seit Jahrzehnten im Ausland befinde, ein strenger Maßstab angelegt werden. Ein bei ihm bestehender ernsthafter Rückkehrwille sei nicht durch irgendwelche objektiven Handlungsweisen belegt. Seine nunmehrige Reiseunfähigkeit infolge seines jetzigen hohen Alters könnte bei den schon immer gegebenen familiären und wirtschaftlichen Bindungen in Chile auf einen Rückkehrwillen, der nicht objektiviert werden könne und der daher rechtlich nicht existent sei, im Sinne des § 94 Abs. 1 Nr. 1 AVG nicht einwirken. Da der Aufenthalt des Klägers in Chile zumindest seit Anfang der 50er Jahre bis heute freiwillig gewesen sei, bestehe das Ruhen der Rente zu Recht.
Gegen das Urteil hat der Kläger die zugelassene Revision eingelegt. Er rügt, das LSG habe das Merkmal der Freiwilligkeit im Sinne des § 94 AVG unrichtig zu seinen Ungunsten ausgelegt. Er habe sowohl im Jahre 1939 als auch nach Beendigung der Kriegshandlungen im Jahre 1945 den Willen gehabt, nach Deutschland zurückzukehren, und er habe diesen Willen auch durch seine Handlungsweisen, nämlich seine Anfragen bei der deutschen Botschaft in Chile im Jahre 1939 und die schriftliche Niederlegung seines Rückkehrwillens im Jahre 1945 nach außen objektiv erkennbar bekundet. Die Tatsache, daß er 1951/52 in Chile geblieben sei, bewerte das LSG zu Unrecht als Beweis dafür, daß er nicht nach Deutschland habe zurückkehren wollen; das Berufungsgericht übersehe hierbei, daß sein weiterer Verbleib in Chile gerade durch eine Zwangslage bedingt gewesen sei, die ihn davon abgehalten habe, nach Deutschland zurückzukehren. Er sei damals bereits 65 Jahre alt gewesen; es sei daher für ihn unmöglich gewesen, sich in Deutschland eine Stellung zu beschaffen. Das LSG hätte nicht nur prüfen dürfen, ob er zuletzt den Rückkehrwillen nach Deutschland gehabt habe, sondern hätte diese Prüfung auch auf die früheren Jahre erstrecken müssen. Praktisch sei er seit 1939, als er das erste Mal rein äußerlich zum Ausdruck gebracht habe, nach Deutschland zurückzukehren, möglicherweise bereits früher unfreiwillig im Ausland.
Der Kläger beantragt sinngemäß, das Urteil des LSG Hamburg vom 2. November 1971 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG Hamburg vom 26. Mai 1971 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen. Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt.
II
Die Revision des Klägers ist nicht begründet.
Nach § 94 Abs. 1 Nr. 1 AVG ruht die Rente, solange der Berechtigte weder Deutscher im Sinne des Art. 116 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) noch früherer deutscher Staatsangehöriger im Sinne des Art. 116 Abs. 2 Satz 1 GG ist und sich freiwillig gewöhnlich außerhalb des Geltungsbereichs des AVG aufhält. Ob das dem Kläger vom 1. Juli 1965 an bewilligte Altersruhegeld ruht oder ihm von diesem Zeitpunkt an in das Ausland zu zahlen ist, hängt - da er nicht zu den genannten Deutschen gehört - allein davon ab, ob sein Aufenthalt in Chile vom 1. Juli 1965 an als freiwillig anzusehen ist, oder ob er sich dort unfreiwillig aufhält. Nach der geschichtlichen Entwicklung des § 94 Abs. 1 Nr. 1 AVG, der mit § 1315 Abs. 1 Nr. 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) übereinstimmt und der wiederum aus § 1283 RVO idF des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) hervorgegangen ist, soll das Ruhen der Rente nur für die Zeit des freiwilligen Auslandsaufenthaltes gelten, die Rente also auch in das Ausland gezahlt werden, wenn sich der Auslandsaufenthalt für den Berechtigten als unfreiwillig darstellt. Die Unfreiwilligkeit des Auslandsaufenthaltes wurde schon früher insbesondere dann angenommen, wenn der Rentenberechtigte sich aus zwingenden Gesundheitsgründen im Ausland aufhält, weil ein solcher Aufenthalt im Hinblick auf die Zwangslage, in die der Berechtigte durch die Rücksicht auf seine Gesundheit versetzt ist, nicht als freiwillig gelten kann. Dieser gesundheitlichen Zwangslage wurde auch eine unerträgliche wirtschaftliche Not, die zum Wechsel in das Ausland den Anlaß gegeben hat, gleichgestellt, und schließlich wurde anerkannt, daß nur der auf freier Willensentschließung des Berechtigten beruhende Aufenthalt im Ausland das Ruhen der Rente zur Folge hat, nicht aber, wenn die freie Willensbildung einem unwiderstehlichen, von außen wirkenden Zwang unterliegt, der geeignet ist, den Berechtigten bei verständiger Würdigung der Sachlage mit Rücksicht auf rechtlich anerkannte und geschützte Lebensgüter zur Aufenthaltsaufnahme oder zum Verbleiben im Ausland zu bestimmen (vgl. hierzu BSG in SozR Nr. 1 zu § 1283 RVO idF des ArVNG).
Gleichwohl ist in allen Fällen, in denen sich der berechtigte Ausländer auf die Unfreiwilligkeit seines Auslandsaufenthaltes wegen einer bestehenden Zwangslage beruft und das Nichtruhen seiner Rente geltend macht, zu klären, ob er überhaupt rückkehrwillig ist. Selbst wenn für den Berechtigten im Ausland eine wirklich begründete Zwangslage vorliegt, so bleibt doch entscheidend, ob diese Zwangslage auf den Willen des Versicherten überhaupt eingewirkt hat und noch einwirkt, ob also der Berechtigte erst und nur durch sie zu einem erzwungenen und letztlich bestehenden Willen, im Ausland zu bleiben, gebracht wird.
Müßte davon ausgegangen werden, daß der Berechtigte auch ohne die Zwangslage ohnehin nicht den Willen zu einer Rückkehr ins Inland haben würde, so kann eine noch so starke Zwangslage (z.B. selbst eine Gefangenschaft im Ausland) seinen Auslandsaufenthalt nicht zu einem unfreiwilligen machen. Fehlt der Wille zur Rückkehr in diesem Sinne, so ist der Auslandsaufenthalt freiwillig (BSG in SozR Nr. 1 zu § 1283 RVO aF; Nr. 8 zu § 1315 RVO; ebenso Urteil des 12. Senats vom 28. Januar 1970 - 12 RJ 552/65 -; vgl. auch SozR Nr. 55 zu § 1251 RVO).
Diese von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) entwickelten Grundsätze hat auch das LSG der in dem angefochtenen Urteil getroffenen Entscheidung zugrunde gelegt; denn es hat berücksichtigt, daß der Kläger sich unfreiwillig in Chile aufhält, wenn er tatsächlich den Willen zur Rückkehr nach Deutschland hat oder ohne Vorliegen einer echten Zwangslage einen solchen Rückkehrwillen haben würde. Damit hat das LSG entgegen der Auffassung der Revision den rechtlichen Begriff "freiwillig" im Sinne des § 94 Abs. 1 Nr. 1 AVG nicht verkannt, sondern zutreffend angewendet.
Aufgrund seiner tatsächlichen Ermittlungen und der Würdigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens ist das LSG zu der Überzeugung gelangt, der Kläger habe weder tatsächlich den Willen nach Deutschland zurückzukehren, noch würde er ohne eine Zwangslage einen solchen Willen überhaupt haben. Es hat also die tatsächlichen Voraussetzungen nicht als erfüllt angesehen, die nach den vom BSG entwickelten Rechtsgrundsätzen vorausgesetzt werden, um den Aufenthalt des Klägers in Chile als unfreiwilligen Auslandsaufenthalt zu bewerten.
Die Revision rügt allerdings zu Recht eine Verletzung des § 128 Abs. 1 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) insoweit, als das LSG festgestellt hat, der Aufenthalt des Klägers in Chile seit 1951/52 beruhe auf seinem eigenen freien Wollen und nicht auf einem durch äußere Umstände erzwungenen Verhalten; hierbei hat das LSG wesentliche Ergebnisse des Verfahrens nicht hinreichend beachtet. Der Kläger war 1951/52 bereits 65 Jahre alt; bei Aufgabe seiner Arbeit im Jahre 1959 war er 73 und bei Beginn der Rentenbezugszeit am 1. Juli 1965 schon nahezu 79 Jahre alt. Wenn der Kläger auch bis zu seinem 73. Lebensjahr in Chile als Kapitän gefahren ist und gesundheitliche Gründe in den Jahren 1951/52 seine Rückkehr nach Deutschland nicht unzumutbar und unmöglich gemacht haben mögen, so konnte er im Alter von 65 Jahren doch nicht damit rechnen, sich in Deutschland noch eine neue Lebensgrundlage zu schaffen. Eine berufliche Weiterarbeit über mehrere Jahre in Deutschland konnte bei seinem hohen Alter nicht angenommen werden. Es trifft daher nicht zu, daß der Kläger, wie das LSG ausgeführt hat, nach 1948 bis in das Jahr 1959 ebenso gut wie in Chile auch in Deutschland als Kapitän hätte arbeiten können. Hierbei hat das LSG übersehen, daß für den Kläger mit einer Wiederaufnahme seiner beruflichen Tätigkeit als Kapitän in Deutschland im Alter von 62 Jahren bis in das hohe Alter von 73 Jahren nicht zu rechnen war. Der Kläger dürfte sich somit unter Berücksichtigung aller Umstände und insbesondere seines Alters sowohl 1948 und 1951/52 als auch am 1. Juli 1965 in einer gewissen Zwangslage befunden haben.
Jedoch ist entgegen der Auffassung der Revision das LSG zu Recht davon ausgegangen, daß der Wille eines im Ausland lebenden Ausländers, nach Deutschland zurückzukehren, nicht unterstellt werden darf. Ebenso gilt dies für die Annahme, daß der Ausländer ohne die für ihn bestehende Zwangslage den Willen zur Rückkehr nach Deutschland haben würde. Wie das BSG wiederholt ausgesprochen hat, muß der Rückkehrwille, sei es der tatsächliche oder der hypothetische, bewiesen sein (BSG in SozR Nr. 8 zu § 1315 RVO). Hieraus folgt aber auch, daß die Tatsachen bewiesen sein müssen, die dafür sprechen, daß der Berechtigte ohne die bestehende Zwangslage den Willen zur Rückkehr nach Deutschland haben würde. Dabei ist im Falle eines Ausländers, dessen Lebensmittelpunkt sich seit Jahrzehnten im Ausland befindet - wie das LSG richtig ausgeführt hat -, an den Beweis dieser Tatsachen ein strenger Maßstab geboten. Denn wenn der Aufenthalt eines Ausländers, der an seinem von ihm selbst gewählten Auslandsort seit Jahrzehnten lebt, im Sinne des Rentenrechts als ein unfreiwilliger gelten soll, so müssen einwandfrei überzeugende, objektiv feststellbare und nachprüfbare äußere Tatsachen gegeben sein, die den eindeutigen Schluß auf einen ernstlich bestehenden Wunsch oder Willen des Berechtigten zur Rückkehr nach Deutschland zulassen. Auf derartige Tatsachen kann mit Rücksicht auf den Zweck des Gesetzes und im Interesse einer gleichen Behandlung aller Versicherten nicht verzichtet werden.
Wie das LSG bereits ausgeführt hat, genügt als eine solche äußere Tatsache die bloße eigene Erklärung oder Behauptung des Berechtigten, er habe den Wunsch oder den Willen, nach Deutschland zurückzukehren, nicht. Sie ist keine äußere Tatsache, die einen zwingenden oder eindeutigen Rückschluß auf das wirkliche Bestehen eines ernsthaften Rückkehrwunsches oder -willens zuließe. Ihr Beweiswert erschöpft sich darin, daß der Berechtigte die Behauptung oder Erklärung abgegeben hat.
Das LSG hat ohne Überschreiten der Grenzen seines Rechts der freien Beweiswürdigung angenommen, daß vom Kläger keine Tatsachen vorgetragen worden sind, die - ihre Richtigkeit unterstellt - den eindeutigen Schluß zuließen, daß er seit dem 1. Juli 1965 ohne eine für ihn bestehende Zwangslage überhaupt den Willen zur Rückkehr nach Deutschland haben würde. Solche Tatsachen sind auch nicht ersichtlich. Insbesondere hat die Revision derartige Tatsachen und die für sie gegebenen Beweismittel nicht benannt. Selbst wenn der Kläger 1939 und 1945 den Willen zur Rückkehr nach Deutschland bekundet hat, lassen derartige Behauptungen keine eindeutigen oder gar zwingenden Schlußfolgerungen zu, ob er 20 Jahre später im Juli 1965 den Willen gehabt hätte, in das Inland zurückzukehren, wenn eine Zwangslage für ihn nicht bestehen würde.
Es kann daher nicht beanstandet werden, wenn das LSG aufgrund des Gesamtergebnisses des Verfahrens zu der Überzeugung gelangt ist, daß der Kläger auch ohne Bestehen einer Zwangslage nicht an eine Rückkehr nach Deutschland denken würde. Es hat daher im Ergebnis zu Recht angenommen, daß sich der Kläger in Chile freiwillig im Sinne des § 94 Abs. 1 Nr. 1 AVG aufhält und sein Altersruhegeld vom 1. Juli 1965 an ruht.
Der Revision muß aus diesem Grunde der Erfolg versagt bleiben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen