Orientierungssatz
Spruchreife - Klageart - Verschlimmerung von Schädigungsfolgen und gleichzeitige Zugunstenregelung - Auslegung eines Verwaltungsaktes - Sachaufklärungspflicht
Normenkette
SGG § 54 Abs. 1, 4, §§ 103, 123; BVG § 62 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1966-12-28; KOVVfG § 40 Abs. 1 Fassung: 1960-06-27
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 02.06.1977; Aktenzeichen L 11 V 12/76) |
SG Düsseldorf (Entscheidung vom 06.11.1975; Aktenzeichen S 28 V 163/74) |
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 2. Juni 1977 wird aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Der Kläger beantragte im Dezember 1973 beim Versorgungsamt einen Zugunstenbescheid (§ 40 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung - KOVVfG -) über die zusätzliche Anerkennung eines Myocardschadens als Schädigungsfolge und eine entsprechende Rente; zur Begründung vertrat er die Ansicht, die frühere Ablehnung einer solchen Versorgung sei unrichtig. Mit Bescheid vom 13. (nicht: 12.) September 1948 hatte die Landesversicherungsanstalt Rheinprovinz als Trägerin der Kriegsopferversorgung die zusätzliche Anerkennung eines Herzleidens als Wehrdienstfolge abgelehnt, weil das nervöse Herzleiden des Klägers mit dem Wehrdienst nicht im ursächlichen Zusammenhang stehe. Der Beschwerdeausschuß wies den Einspruch mit der weiteren Begründung zurück, beim Kläger bestehe keine organische Erkrankung des Herz- und Gefäßsystems (Entscheidung vom 21. Oktober 1949). Das Oberversicherungsamt wies die Berufung zurück (Urteil vom 15. Oktober 1953); das Landessozialgericht (LSG) verwarf die Berufung (früher: Rekurs) als unzulässig (Urteil vom 14. März 1956). Den neuen Antrag lehnte das Versorgungsamt aufgrund einer versorgungsärztlichen Beurteilung ab; eine wesentliche Änderung gegenüber den Verhältnissen, die zur Zeit der letzten Feststellung bestanden, sei nicht eingetreten, somit die begehrte Neufeststellung (§ 62 Bundesversorgungsgesetz - BVG -) nicht gerechtfertigt; der Herzmuskelschaden, der sich erst nach 1949 entwickelt habe, stehe nicht wahrscheinlich im ursächlichen Zusammenhang mit Wehrdienst und Gefangenschaft (Bescheid vom 25. April 1974). Der wiederum auf § 40 KOVVfG gestützte Widerspruch wurde zurückgewiesen (Bescheid vom 29. Oktober 1974). Das Sozialgericht (SG) wies die Klage ab (Urteil vom 6. November 1975). Das LSG hat dieses Urteil geändert, die angefochtenen Bescheide aufgehoben und den Beklagten verurteilt, dem Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts einen neuen Bescheid zu erteilen (Urteil vom 2. Juni 1977): Die angefochtenen Bescheide seien rechtswidrig. Die Verwaltung habe überhaupt keinen Gebrauch von dem ihr nach § 40 KOVVfG eingeräumten Ermessen gemacht. Sie habe 1948/49 den ursächlichen Zusammenhang eines nervösen Herzleidens mit dem militärischen Dienst verneint; dies sei durch die anschließenden Entscheidungen rechtsverbindlich geworden. Über den Antrag auf einen Zugunstenbescheid, der eine Unrichtigkeit dieser Verneinung des Kausalzusammenhangs voraussetze, habe das Versorgungsamt noch nicht entschieden. Die auf § 62 BVG bezogene Entschließung könne nicht durch die Gerichte in eine Ermessensentscheidung über § 40 KOVVfG umgedeutet werden. Eine solche könne nur fehlerfrei getroffen werden, falls die Behörde sich über das eingeräumte Ermessen im klaren gewesen sei.
Der Beklagte rügt mit seiner Revision, die das LSG zugelassen hat, eine Verletzung des § 54 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sowie des § 40 KOVVfG. Das Versorgungsamt habe 1974 das neue Begehren des Klägers im vollen Umfang für unberechtigt erklärt; das ergebe sich aus dem Bezug auf den abgelehnten Antrag, aus dem Verfügungssatz und aus der Begründung. Dementsprechend hätte das LSG auf die Anfechtung hin prüfen müssen, ob die Voraussetzungen der begehrten Zugunstenregelung, einer Ermessensentscheidung, doch gegeben sind. Das Gericht wäre dann wahrscheinlich zu der Überzeugung gelangt, daß ein Bescheid nach § 40 KOVVfG, ungeachtet der Richtigkeit oder Unrichtigkeit der rechtsverbindlichen Verwaltungsakte, deshalb nicht zu erteilen sei, weil das jetzt bestehende Herzleiden nicht schädigungsbedingt sei. Für den Fall, daß in der Auslegung des angefochtenen Bescheides eine Tatsachenfeststellung zu sehen sei, rügt der Beklagte eine Verletzung des § 128 SGG. Das LSG habe nicht den Inhalt des Verwaltungsaktes in Verbindung mit der zugrundeliegenden ärztlichen Beurteilung, die das Herzleiden unabhängig von einer nachträglichen Änderung (§ 62 BVG) bewertet habe, umfassend gewürdigt. Grundsätze über die Umdeutung von Ermessensentscheidungen seien hier nicht anwendbar, weil ein "negativer Zugunstenbescheid" gerade eine Ermessensausübung ablehne.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG zurückzuweisen,
hilfsweise,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache an das LSG zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision des Beklagten als unbegründet zurückzuweisen.
Er hält die Entscheidung des LSG im Ergebnis für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist erfolgreich im Sinne des Hilfsantrages. Der Rechtsstreit ist unter Aufhebung des angefochtenen Urteils an das LSG zurückzuverweisen.
Das Berufungsgericht hat bei der gegenwärtigen Sachlage zu Unrecht die angefochtenen Verwaltungsakte aufgehoben. Diese Entscheidung wäre nur gerechtfertigt, falls der Bescheid, durch den der Beklagte Versorgung wegen eines Herzleidens abgelehnt hat, und der Widerspruchsbescheid (§ 95 SGG) nach dem festgestellten Sachverhalt rechtswidrig wären (§ 54 Abs 1 und Abs 2 Satz 1 SGG). Dazu enthält das Berufungsurteil überhaupt keine tatsächlichen Feststellungen für eine Überprüfung durch das Revisionsgericht (§ 163 SGG). Deshalb ist sein Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG; BSG SozR Nr 6 zu § 163 SGG; BSGE 41, 80, 81 = SozR 3100 § 35 Nr 2). Das LSG ist seiner Pflicht, den entscheidungserheblichen Sachverhalt aufzuklären (§ 103 SGG), nicht nachgekommen. Da es nicht die Tatsachen ermittelt hat, von denen es abhängt, ob die angefochtenen Bescheide rechtswidrig sind oder nicht, hat es nicht pflichtgemäß die Spruchreife der Sache herbeigeführt (Urteile des erkennenden Senats vom 25. April 1978 - 9 RV 62/77 - und vom 14. Juni 1978 - 9 RV 52/77 m.N.). Der Bescheid, gegen den sich der Kläger wendet, lehnt seinen neuen Antrag, ihm Versorgung nach dem BVG wegen eines Myocardschadens zu gewähren, mit der Begründung ab, in den Verhältnissen, die für die 1948/49 ergangenen, rechtsverbindlich gewordenen Entscheidungen (§§ 77, 141 SGG, § 24 KOVVfG) maßgebend gewesen seien, sei nachträglich keine wesentliche Änderung eingetreten, die eine entsprechende Neufeststellung rechtfertige (§ 62 BVG). 1948/49 hat die Versorgungsverwaltung zweierlei entschieden: 1) Das nervöse Herzleiden des Klägers sei keine Schädigungsfolge im Sinne der Sozialversicherungsdirektive Nr 27, was im Sinne des § 1 BVG fortwirkt (§ 85 BVG); 2) es bestehe keine organische Herzkrankheit. Ob demgegenüber die Voraussetzungen für eine Neufeststellung in dem begehrten Sinn doch gegeben sind, dh ob jetzt, seit dem Antrag vom Dezember 1973 (§ 60 BVG), der Kläger an einer bestimmten, nachträglich aufgetretenen Herzstörung leidet und ob sie wahrscheinlich durch schädigende Einwirkungen seines Wehrdienstes verursacht worden ist (§ 1 Abs 1 bis 3 Satz 1 BVG), hat die Verwaltung aufgrund versorgungsärztlicher Beurteilung geprüft. Dies hätte das LSG sachlich kontrollieren müssen. Von dem Ergebnis hängt ab, ob die angefochtenen Bescheide als rechtswidrig aufzuheben sind.
Die Prüfungspflicht folgt auch aus dem weiteren Klagebegehren, das nicht durch den in der Berufungsverhandlung formulierten Antrag, sondern durch den sachlichen Gehalt des Klageziels bestimmt wird (§ 153 Abs 1, §§ 123, 112 Abs 2 Satz 2 SGG; Zeihe, Das SGG und seine Anwendung, 4. Aufl 1977, § 123, Anm 6, c). Dies hat das Revisionsgericht zu überprüfen (BSGE 5, 121, 122; 21, 167, 168). Der Kläger strebt zusätzlich zur Aufhebung der entgegenstehenden Bescheide vor allem eine bestimmte Leistung, die Anerkennung des Herzleidens und die Gewährung einer entsprechenden Beschädigtenrente (§ 30 Abs 1, § 31 Abs 1 und 2 BVG), an (§ 54 Abs 4 SGG; BSG SozR 1500 § 54 Nr 16; 1500 § 78 Nrn 5 und 7; BSGE 41, 218, 219, 221 = SozR 3100 § 35 Nr 3). Dies hatte er im ersten Rechtszug durch seinen Antrag deutlich zum Ausdruck gebracht. Wenn dementsprechend die tatsächlichen Voraussetzungen des Klagebegehrens zu überprüfen sind, so hat dies bei der Leidensentwicklung, von der in den angefochtenen Bescheiden ausgegangen wird, unabhängig von dem rechtlichen Gesichtspunkt zu geschehen, auf den der Kläger in der Begründung seines Antrages von Dezember 1973 mit dem Bezug auf § 40 KOVVfG abgestellt hatte.
Falls hingegen das jetzt vom Kläger als Schädigungsfolge geltend gemachte Herzleiden dieselbe Gesundheitsstörung ist, die schon 1948/49 bestand, so daß eine Neufeststellung nach § 62 BVG schlechthin ausscheidet, so könnte dem Klagebegehren die Rechtsverbindlichkeit der 1948/49 getroffenen Verwaltungsentscheidungen entgegenstehen. Von dieser Verbindlichkeit könnte die Verwaltung indes durch einen Zugunstenbescheid nach § 40 KOVVfG oder aufgrund neuer umfassender Sachprüfung durch einen "Zweitbescheid" abweichen (BSGE 29, 278, 279 ff = SozR Nr 12 zu § 40 VerwVG). Ungeachtet dieses Unterschiedes durfte das LSG den Beklagten nicht ohne Überprüfung des Sachverhalts verurteilen, einen entsprechenden Bescheid überhaupt erst zu erlassen. Eine derartige Verpflichtung setzt voraus, daß die Verwaltung eine solche Entscheidung bisher nicht getroffen hat und daß dies rechtswidrig ist (§ 54 Abs 1 Satz 1, Abs 2 Satz 1, § 131 Abs 3 SGG). Zum Beispiel könnte über den Antrag erst ein Teilbescheid ergangen sein, der dem Begehren unter einem anderen rechtlichen und tatsächlichen Gesichtspunkt als dem bereits berücksichtigten nicht gerecht geworden wäre (BSG SozR Nr 16 zu § 78 SGG; Zeihe, aaO, Vorbemerkung 1, D vor § 54 SGG). So war es hier nicht. Die Verwaltung hat in den angefochtenen Bescheiden unter Bezug auf Antrag und Widerspruch des Klägers und damit auf sein sachliches Begehren (§ 7 KOVVfG), unabhängig von der vom Kläger zitierten Rechtsgrundlage (§ 40 KOVVfG), eine Versorgung wegen des jetzt geltend gemachten Herzleidens schlechthin abgelehnt und damit den Antrag ausgeschöpft (BSG SozR 3100 § 89 Nr 2, am Ende; zur Kombination anderer Entscheidungen im Wahlfeststellungsbescheid: BSGE 26, 22 = SozR Nr 26 zu § 41 VerwVG). In der Begründung ist nach ärztlicher Begutachtung umfassend geprüft, ob die nunmehr vorhandenen Gesundheitsstörungen am Herzen des Klägers schädigungsbedingt sind; dabei wird in beiden Verwaltungsakten (BSGE 10, 248) gar nicht auf die Rechtsverbindlichkeit der früheren Entscheidungen abgehoben. Damit hat der Beklagte über den Antrag auch insoweit befunden, als die rechtsverbindlichen Feststellungen der nunmehr begehrten Versorgung entgegenstehen könnten.
Selbst wenn nach dem - vom LSG aufzuklärenden - Sachverhalt das jetzige Herzleiden dasselbe wäre wie das schon 1948/49 vorhandene und deshalb ein Zugunstenbescheid in Betracht käme, hätte das Berufungsgericht selbst bei der Kontrolle der angefochtenen Verwaltungsakte die tatbestandsmäßige Voraussetzung für eine Entscheidung nach § 40 KOVVfG, ob nämlich die entgegenstehenden Entscheidungen von 1948/49 unrichtig waren, im vollen Umfang zu kontrollieren (BSGE 26, 146 = SozR Nr 10 zu § 40 VerwVG; BSGE 29, 281 ff; Urteile vom 25. April 1978 und 14. Juni 1978). Weil die Prüfung der Ansprüche von der Art wie im gegenwärtigen Verfahren durch die Verwaltung eine Sachurteilsvoraussetzung ist (BSG SozR Nr 2 zu § 112 SGG; 1500 § 78 Nr 8 mN; Zeihe, aaO, § 78 Abs 1, Anm 6, a), hat das Revisionsgericht den Bescheid und den Widerspruchsbescheid auch in tatsächlicher Hinsicht unabhängig von tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts und von der Verfahrensrüge des Beklagten von Amts wegen auszulegen (BVerwGE 36, 317, 318 ff; 42, 189, 190; Zeihe, aaO, § 163, Anm 4, a; 4, b; im Ergebnis ebenso: BSGE 25, 251, 255 f = SozR Nr 15 zu § 146 SGG; SozR Nr 39 zu § 54 SGG).
Das LSG hat nunmehr die tatsächlichen Voraussetzungen des geltend gemachten Versorgungsanspruchs unter jedem der erörterten rechtlichen Gesichtspunkte zu prüfen und in der abschließenden Entscheidung auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden.
Fundstellen