Leitsatz (amtlich)
Wird auf die Beschwerde eines Verfahrensbeteiligten die Revision vom BSG zugelassen, so genügt der Beteiligte den Anforderungen der Revisionsbegründung, wenn er auf die zur Begründung der Beschwerde eingereichten Schriftsätze Bezug nimmt, soweit diese bereits eine gründliche Auseinandersetzung mit dem durch die Revision angegriffenen Urteil enthalten.
Normenkette
SGG § 164 Abs. 2 S. 3 Fassung: 1974-07-30
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 15. Oktober 1975 aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Tatbestand
In dem vorliegenden Rechtsstreit geht es um die Frage, ob die 1909 geborene, ungelernte Klägerin zumindest berufsunfähig im Sinne des § 1246 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) ist und ihr deshalb Versichertenrente zusteht.
Mit der angefochtenen Entscheidung vom 15. Oktober 1975 hat das Landessozialgericht (LSG) die Berufung gegen das Berufsunfähigkeit verneinende Urteil des Sozialgerichts (SG) vom 18. Juli 1973 zurückgewiesen. In der Begründung hat sich das LSG u. a. auf eine von ihm eingeholte Auskunft der Gemeindeverwaltung S vom 4. Juni 1974 über die Beschaffenheit des Weges zur nächsten Haltestelle des Omnibusses, der zum nächsten größeren Ort führt, gestützt.
Gegen dieses Urteil hat der erkennende Senat auf die Beschwerde der Klägerin die Revision zugelassen. Die Klägerin hat die Revision eingelegt und sich zur Begründung auf die von ihr im Beschwerdeverfahren eingereichten Schriftsätze bezogen. In diesen Schriftsätzen hat die Klägerin u. a. gerügt, daß die Auskunft der Gemeinde S ihr, Klägerin, nicht zur Kenntnis gebracht worden sei, so daß sie sich zu dieser Auskunft nicht habe äußern können. Das LSG habe deshalb diese Auskunft seiner Entscheidung nicht zugrunde legen dürfen. Die Auskunft sei aber entscheidungserheblich gewesen, denn das angefochtene Urteil begründe die Zurückweisung der klägerischen Berufung u. a. gerade damit, daß der Klägerin die Wegstrecke zur nächsten Omnibushaltestelle zuzumuten sei.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, ihr unter Aufhebung des angefochtenen Urteils des Bayerischen Landessozialgerichts vom 15. Oktober 1975, des Urteils des Sozialgerichts Regensburg vom 18. Juli 1973 sowie des Bescheides der Beklagten vom 7. Januar 1970 Berufsunfähigkeitsrente für die Zeit vom 1. August 1969 bis 31. März 1974 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt
die Zurückweisung der Revision.
Sie betont, daß sie keinen Hinderungsgrund für eine Verweisbarkeit der Klägerin auf das gesamte Bundesgebiet erkennen könne.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist zulässig. Gegen ihre Zulässigkeit bestehen auch insoweit keine Bedenken, als die Klägerin zur Begründung des Rechtsmittels "zur Vermeidung von Wiederholungen" vollinhaltlich auf die zur Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde eingereichten Schriftsätze verwiesen hat. Zwar ist die Revision gemäß § 164 Abs. 2 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) innerhalb einer Frist von zwei Monaten nach Zustellung des Beschlusses über die Zulassung der Revision "zu begründen". Die Begründung muß u. a. die verletzte Rechtsnorm und, soweit Verfahrensmängel gerügt werden, die Tatsachen bezeichnen, die den Mangel ergeben (Satz 3 aaO). Das bedeutet, daß eine Bezugnahme auf Schriftsätze, die außerhalb des Revisionsverfahrens abgegeben worden sind, grundsätzlich nicht den gesetzlichen Erfordernissen einer Revisionsbegründung genügt (vgl. BSGE 6, 269; BSG SozR Nr. 27 und 53 zu § 164 SGG). Das kann jedoch nicht für Schriftsätze gelten, die zur Begründung einer dem Revisionsverfahren vorgeschalteten Nichtzulassungsbeschwerde abgegeben worden sind und eine gründliche Auseinandersetzung mit dem durch die Revision angegriffenen Urteil enthalten. Ein Verbot der Verweisung auf die Schriftsätze im Verfahren über die Nichtzulassungsbeschwerde würde vielfach zu einer bloßen und formelhaften Wiederholung des bereits Vorgetragenen zwingen, d. h. also eine leere Förmlichkeit darstellen.
Die zulässige Revision ist im Sinne der Zurückverweisung der Streitsache an die Vorinstanz auch begründet.
Mit Erfolg rügt die Klägerin, daß das Urteil des LSG auf einer fehlerhaften Anwendung des Verfahrensrechts beruht.
Das LSG hatte in dem vorliegenden Rechtsstreit zu prüfen, ob bei der Klägerin als Voraussetzung für die Gewährung der von ihr beantragten Versichertenrente zumindest Berufsunfähigkeit im Sinne des § 1246 Abs. 2 RVO vorliege. Der Berichterstatter des beim LSG entscheidenden Senats hat am 28. Mai 1974 - in Anwendung offensichtlich des § 106 Abs. 3 Nr. 3 SGG - die Gemeinde S um Mitteilung ersucht, welche Möglichkeit bestehe, mit öffentlichen Verkehrsmitteln nach N - der nächsten größeren Stadt - zu gelangen; welcher Fußweg zum Omnibus bzw. zur Eisenbahn zurückgelegt werden müsse; sofern ein längerer Fußmarsch erforderlich sein sollte: Wie lang die Wegstrecke sei, ob sie bequem oder nur unter Kraftaufwand (steiler und schlechter Weg, Höhenunterschied) zurückzulegen sei und wie lange ein Fußgänger durchschnittlich brauche, um diese Wegstrecke hinter sich zu bringen. Von dieser Anfrage hat das Gericht den Beteiligten keinen Abdruck übersandt. Unter dem 4. Juni 1974 hat die Gemeinde S die gewünschte Auskunft schriftlich erteilt. Die ohne Abdruck eingegangene Auskunft der Gemeinde trägt lediglich den Vermerk des Berichterstatters, daß er von ihr Kenntnis genommen habe. Eine Verfügung über Anfertigung und Versendung von Abschriften an die Beteiligten oder die Mitteilung des Inhalts der Auskunft findet sich in den Akten nicht. Während die Benachrichtigung über die Anberaumung des Verhandlungstermins vom 18. September 1974 nichts darüber enthält, daß die gemeindliche Auskunft eingeholt worden ist und zum Gegenstand der Verhandlung gemacht werden solle, enthält die Mitteilung über die Anberaumung des zweiten Termins am 15. Oktober 1975 den Hinweis, daß "eine Auskunft des Marktes S vom 4. Juni 1974" zur Beweiserhebung beigezogen sei. Die Klägerin war zu keinem Verhandlungstermin erschienen; ihr persönliches Erscheinen hierzu war auch nicht angeordnet. Im angefochtenen Urteil ist die Auskunft der Gemeinde S verwertet.
Bei diesen Gegebenheiten muß die Klägerin mit der Rüge durchdringen, daß sich das angefochtene Urteil auf Tatsachen und Beweisergebnisse stützt, zu denen sie sich nicht habe äußern können, und das LSG mithin gegen § 128 Abs. 2 SGG verstoßen habe. Da das LSG unter Verstoß gegen § 107 SGG der Klägerin den Inhalt der von ihm gemäß § 106 Abs. 3 Nr. 3 SGG durchgeführten Beweisaufnahme nicht mitgeteilt, ja nicht einmal davon unterrichtet hatte, worüber es eine Auskunft der Gemeinde einholen wolle bzw. eingeholt habe, läßt auch der knappe Hinweis in der Benachrichtigung zum Termin vom 15. Oktober 1975 den gerügten Verfahrensmangel nicht entfallen. Die Klägerin konnte auf Grund der dargestellten Verfahrensweise des LSG nicht wissen, wovon die in der Terminsbenachrichtigung erwähnte "Auskunft des Marktes S vom 4. Juni 1974" handelt. Der Hinweis des LSG kann daher auch nicht als Ankündigung einer Beweisaufnahme im Sinne des § 127 SGG aufgefaßt und das Nichterscheinen der Klägerin im Verhandlungstermin daher auch nicht als Verzicht, an einer solchen Beweisaufnahme teilzunehmen, gewertet werden. Das LSG hätte der Klägerin zumindest mitteilen müssen, zu welchem Beweisthema die gemeindliche Auskunft eingeholt worden ist.
Auf dem gerügten Verstoß gegen § 128 Abs. 2 SGG beruht auch das angefochtene Urteil, weil nicht ausgeschlossen werden kann, daß das LSG anders entschieden hätte, wenn es der Klägerin Gelegenheit geboten hätte, sich zu der eingeholten Auskunft zu äußern.
Die Beschaffenheit des Weges zum nächsten öffentlichen Verkehrsmittel kann entgegen der Ansicht der Beklagten auch entscheidungserheblich sein. Die Beklagte bestreitet dies zwar mit der Begründung, daß die Klägerin im Rahmen des § 1246 Abs. 2 RVO auf den Arbeitsmarkt des ganzen Bundesgebietes verwiesen werden könne. Indessen läßt der vom LSG festgestellte Sachverhalt nicht ausschließen, daß Umstände vorliegen, die es verbieten, der Klägerin einen Umzug in ein Gebiet mit ausreichenden Arbeitsgelegenheiten zuzumuten. Auch ein zu vollschichtiger Arbeit fähiger Versicherter kann nur grundsätzlich, nicht aber unter allen Umständen auf das Arbeitsfeld des gesamten Bundesgebietes verwiesen werden. Besondere Verhältnisse können eine solche mit Umzug verbundene Verweisung als unzumutbar erscheinen lassen (vgl. dazu den Großen Senat des Bundessozialgerichts - BSG - im Beschluß vom 11. Dezember 1969 - 4/69 in BSGE 30, 167 = SozR Nr. 79 zu § 1246 RVO; siehe insbesondere dort den Abschnitt C III; vgl. auch den erkennenden Senat in SozR Nr. 111 zu § 1246 RVO). Das LSG scheint solche besonderen Umstände im Falle der Klägerin gesehen zu haben; es hätte sonst keinen Beweis über die Beschaffenheit des Arbeitsweges der Klägerin bei täglichem Pendeln von ihrem jetzigen Wohnort in einer abgelegenen Landgemeinde zum nächsten größeren Ort zu erheben brauchen.
Nach alledem war das angefochtene Urteil aufzuheben und dem LSG durch Zurückverweisung der Streitsache Gelegenheit zu geben, die erforderlichen Beweise verfahrensfehlerfrei zu erheben und die Umstände darzutun, die einer Verweisung der Klägerin auf den Arbeitsmarkt des gesamten Bundesgebietes entgegenstehen.
Der Ausspruch im Kostenpunkt bleibt der abschließenden Entscheidung in der Sache vorbehalten.
Fundstellen