Entscheidungsstichwort (Thema)

Qualifizierung einer Mitteilung. Berichtigung von Bescheiden. Kriegsopferrecht. Rentenversicherungsrecht

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Die Mitteilung des Versorgungsamtes an den Antragsteller, aus medizinischer Sicht ergebe sich keine Änderung in der Beurteilung der Versorgungsangelegenheit, an der früheren (ablehnenden) rechtsverbindlichen Entscheidung werde daher festgehalten, stellt einen Verwaltungsakt dar, auch wenn die Mitteilung nicht förmlich als Bescheid gekennzeichnet ist und auch keine Rechtsmittelbelehrung enthält.

2. Auf dem Gebiet des Kriegsopferrechts handelt es sich um eine Ermessensentscheidung der Versorgungsbehörde, wobei die Ausübung des - gebundenen - Ermessens an die gesetzliche Voraussetzung geknüpft ist, daß die frühere Entscheidung - tatsächlich und rechtlich unrichtig ist - (vergleiche BSG 1969-06-24 10 RV 282/66 = BSGE 29, 278).

Im Rentenversicherungsrecht (RVO § 1300; AVG § 79) kommt es dagegen auf die - subjektive - Überzeugung des Versicherungsträgers an, die von den Gerichten nur daraufhin nachgeprüft werden kann, ob der Versicherungsträger bei der Bildung seiner Überzeugung - offensichtlich fehlerhaft - gehandelt hat.

 

Normenkette

KOVVfG § 22 Fassung: 1955-05-02, § 40 Fassung: 1960-06-27, § 25 Fassung: 1955-05-02; RVO § 1300 Fassung: 1957-02-23; AVG § 79 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 3. Oktober 1972 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I.

Der Kläger beantragte im Juli 1951 die Gewährung von Versorgung wegen "Innerliches Leiden, Magen-, Gallen-, Leberleiden". Dieser Antrag wurde nach umfangreichen Ermittlungen durch Bescheid des Versorgungsamtes (VersorgA) II B vom 26. März 1953 abgelehnt. Der Widerspruch war erfolglos (Widerspruchsbescheid des Landesversorgungsamtes - LVersorgA - Berlin vom 15. April 1954). Die Klage nahm der Kläger am 27. September 1955 zurück.

Mit einem formularmäßigen Schreiben vom 21. Dezember 1960 machte der Kläger vorsorglich alle Rechte geltend, die sich aus dem Ersten Neuordnungsgesetz vom 27. Juni 1960 (1. NOG) für ihn ergeben könnten. Eine Begründung erfolgte zunächst nicht. Am 24. Januar 1963 beantragte der Kläger die Anerkennung eines Magen- und Lungenleidens sowie einer chronischen Bronchitis als Schädigungsfolge und die Gewährung von Beschädigtenversorgung "unter Berücksichtigung des § 30 BVG". Der Kläger fügte ärztliche Bescheinigungen von Dr. M, Dr. V und Dr. L bei. Durch "Benachrichtigung" vom 13. Februar 1963 lehnte das VersorgA II B die Anträge vom 21. Dezember 1960 und 24. Januar 1963 unter Hinweis auf den bindend gewordenen Bescheid vom 26. März 1953 ab (Widerspruchsbescheid des LVersorgA vom 15. Januar 1964). Das anschließende Klageverfahren wurde durch einen gerichtlichen Vergleich vom 21. Januar 1965 beendet. Darin verpflichtete sich der Beklagte, durch das Versorgungsamt darüber zu entscheiden, ob dem Kläger in bezug auf etwaige Schädigungsfolgen im Bereich der Lunge ein Zugunstenbescheid im Sinne des § 40 Abs. 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VerwVG) zu erteilen sei. Weiter heißt es in diesem Vergleich: "Dies bedeutet keine Verpflichtung des Beklagten zum Verzicht auf die Rechtsverbindlichkeit früherer Bescheide". Das VersorgA veranlaßte eine Begutachtung durch den Facharzt für innere Krankheiten Dr. N Durch Bescheid vom 3. Dezember 1965 lehnte es die Erteilung eines Zugunstenbescheides ab; an der Bindung des Bescheides vom 26. März 1953 wurde ausdrücklich festgehalten. Das Rechtsmittelverfahren war erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 18. Februar 1966).

Mit Schreiben vom 10. Mai 1969 wandte sich der Kläger zunächst an den Regierenden Bürgermeister von B und dann mit einem weiteren Schreiben vom 19. Juni 1969 - nebst "Erklärung" vom 8. Juni 1969 - an die Versorgungsverwaltung. Das LVersorgA wies nunmehr das VersorgA an, in eine erneute Prüfung einzutreten, insbesondere hinsichtlich der Verschlimmerung der Hepatitis durch die Eigentümlichkeiten des militärischen Strafvollzugs. Das VersorgA holte daraufhin Gutachten der Fachärztin für Lungenkrankheiten Dr. F und des Internisten Dr. S ein. Mit Schreiben vom 25. November 1970 teilte das VersorgA dem Kläger mit, aus medizinischer Sicht ergebe sich keine Änderung in der Beurteilung der Versorgungsangelegenheit; an der früheren rechtsverbindlichen Entscheidung werde daher festgehalten. Den Widerspruch des Klägers wies das LVersorgA am 29.Januar 1971 als unzulässig zurück, weil das angefochtene Schreiben vom 25. November 1970 kein Verwaltungsakt sei.

Durch Urteil vom 26. April 1971 hat das SG Berlin "das Schreiben" des VersorgA vom 25. November 1970 und den Widerspruchsbescheid vom 29. Januar 1971 aufgehoben und den Beklagten verurteilt, dem Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts einen Sachbescheid zu erteilen. Das LSG hat durch Urteil vom 3. Oktober 1972 die Berufung des Beklagten zurückgewiesen. In den Gründen wird ausgeführt, das Schreiben des VersorgA II Berlin vom 25. November 1970 stelle einen Verwaltungsakt dar. Die rechtskräftige Entscheidung aus dem früheren Prozeßverfahren habe der Erteilung eines neuen Bescheides nach § 40 VerwVG nicht entgegengestanden. Nach § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG müsse sich das Gericht jedoch auf die Nachprüfung der Frage beschränken, ob die Verwaltungsbehörde die gesetzlichen Grenzen des ihr eingeräumten Ermessens eingehalten und von ihrem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht habe. Dieser sowohl vom SG als auch vom Senat vertretenen Auffassung könnten allerdings die Entscheidungen des Bundessozialgerichts (BSG) vom 13. Oktober 1959 (BSG 10, 248), vom 26. August 1960 (BSG 13, 48) und vom 20. August 1963 - 8 RV 901/60 - entgegenstehen. Dieser Rechtsprechung des BSG habe der Senat in Übereinstimmung mit den Entscheidungen des BSG auf den Gebieten der Angestellten-, Invaliden-, Unfall- und Knappschaftsrentenversicherung aber nicht folgen können. Die ältere Rechtsprechung des BSG zu § 40 VerwVG führe dazu, den Sinn und Zweck sowohl des § 40 VerwVG als auch des § 77 SGG in sein Gegenteil zu verkehren. Die gerichtliche Ermessenskontrolle ergebe im vorliegenden Fall, daß die Versorgungsbehörde bei Erlaß des angefochtenen Verwaltungsaktes vom 25. November 1970 ermessensfehlerhaft gehandelt habe. Nach dem Gutachten von Frau Dr. F und dem Prüfvermerk des Dr. B sei die beim Kläger vorhandene chronische Bronchitis vom rein medizinischen Standpunkt aus durch die Bedingungen in der Armeestrafanstalt bzw. während seines Wehrdienstes richtunggebend verschlimmert worden, sofern die Bronchitis des Klägers während seiner Soldatenzeit erstmalig aufgetreten sei. Die Klärung dieser Frage habe Frau Dr. F zu Recht der Verwaltungsbehörde überlassen, denn dabei handele es sich nicht um Tatsachen, die auf medizinischem Gebiet lägen. Gerade diesen Punkt aber habe das VersorgA weder geprüft noch dazu Stellung genommen. Die Durchführung der von Frau Dr. F zur Voraussetzung gemachten Ermittlungen sei nicht vom Gericht vorzunehmen. Die Verwaltungsbehörde habe einen erheblichen Ermessensspielraum, insbesondere in der Würdigung der vom Kläger zu diesen Fragen gemachten Angaben. Die Aufhebung des angefochtenen Bescheides und die Verurteilung des Beklagten zur erneuten Entscheidung sei somit keine unzulässige Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Dieses Urteil wurde dem Beklagten am 27. November 1972 zugestellt, der dagegen am 20. Dezember 1972 Revision eingelegt und diese nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist bis zum 28. Februar 1973 mit einem Schriftsatz vom 18. Januar 1973 begründet hat.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 3. Oktober 1972 und das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 26. April 1971 aufzuheben und die Klage gegen das Schreiben des Versorgungsamtes II B vom 25. November 1970 und den Widerspruchsbescheid des Landesversorgungsamtes B vom 23. Januar 1971 abzuweisen,

hilfsweise, das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 3. Oktober 1972 aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Landessozialgericht Berlin zurückzuverweisen.

Zur Begründung trägt der Beklagte vor, im Hinblick auf die ständige Rechtsprechung des BSG könne der Auffassung des LSG zur Nachprüfung des Ermessens im Rahmen des § 40 Abs. 1 VerwVG nicht beigetreten werden. Die Versorgungsbehörde sei auf Antrag des Berechtigten in eine neue Sach- und Rechtsprüfung eingetreten. Eine solche Entscheidung müßten die Gerichte in vollem Umfang nachprüfen, da es sich bei der erneuten Überprüfung der Sach- und Rechtslage und damit der Rechtmäßigkeit des früheren Bescheides um einen Akt der Rechtsfindung handele, der einem Ermessen nicht zugänglich sei. Auch die Ausführungen des LSG in bezug auf die §§ 77 und 179 SGG gingen fehl. Das LSG Berlin habe bei seiner Urteilsfindung durch die Beschränkung auf die Nachprüfung des Ermessens gemäß § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG den Rahmen seiner Überprüfungspflicht verkannt. Die Revision müsse daher schon aus diesen Gründen zum Erfolg führen. Jedenfalls beruhten aber die Urteile der Vorinstanzen auf einem Verstoß gegen die §§ 103, 106, 128 SGG. Beide Gerichte wären verpflichtet gewesen, die Beurteilung der Frage, ob der alte Bescheid unrichtig im Sinne der Verwaltungsvorschrift (VV) Nr. 2 zu § 40 VerwVG gewesen sei, nach den allgemeinen Beweisregeln über die Feststellung rechtserheblicher Tatsachen zu behandeln. Es sei unzulässig, diese Frage mit der Auflage zur weiteren Sachaufklärung an die Verwaltung zurückzuverweisen. In materiell-rechtlicher Hinsicht sei darauf hinzuweisen, daß für die Erteilung eines Bescheides gemäß § 40 VerwVG kein Raum bestanden habe, da die früheren Bescheide nicht unrichtig seien.

Der Kläger beantragt,

1.

die Revision des Beklagten als unbegründet zurückzuweisen;

2.

den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Klage-, Berufungs- und Revisionsverfahrens zu erstatten;

3.

hilfsweise, die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Berlin zurückzuverweisen und die Kostenentscheidung dem abschließenden Urteil vorzubehalten.

Der Kläger meint, in der im Revisionsverfahren allein noch streitigen Rechtsfrage des gerichtlichen Entscheidungsrahmens über die angefochtenen Bescheide des Beklagten vom 25. November 1970 und 29. Januar 1971 sei in erster Linie der Rechtsauffassung des Berufungsgerichts zu folgen. Aber selbst bei einer anderen Rechtsauffassung und Berücksichtigung des Revisionsvorbringens des Beklagten, das sich weitgehend und nicht unbegründet auf die Rechtsprechung des BSG stützen könne, erweise sich das Rechtsmittel des Beklagten zumindest soweit als unbegründet, als es die Abweisung der Klage begehre. Zunächst müßte noch durch weitere Sachaufklärung durch das LSG ermittelt werden, ob die unstreitig beim Kläger bestehende chronische Bronchitis bereits während seiner Militärdienstzeit aufgetreten sei.

II.

Die durch Zulassung gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG statthafte Revision ist von dem Beklagten frist- und formgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 164, 166 SGG). Die Revision ist daher zulässig. Sie ist auch insoweit begründet, als sie zur Aufhebung und Zurückverweisung führt.

Das LSG ist zunächst zutreffend davon ausgegangen, daß es sich bei dem "Schreiben" des VersorgA II B vom 25. November 1970 um einen Verwaltungsakt handelt. Die Entscheidung, die in diesem "Schreiben" enthalten ist, stellt die Regelung eines Einzelfalles auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts dar (vgl. BSG 10, 248; 13, 48; 15, 118; 17, 173; 20, 223). Mit diesem Bescheid hat die Versorgungsverwaltung eine neue, für den Kläger günstigere Regelung seines Versorgungsrechtsverhältnisses abgelehnt. Dabei ist es unerheblich daß das Schreiben vom 25. November 1970 nicht förmlich als Bescheid gekennzeichnet ist und auch keine Rechtsmittelbelehrung enthält (vgl. §§ 22, 23 VerwVG). Der Rechtsschutz des Versorgungsberechtigten darf nicht dadurch beeinträchtigt werden, daß die Entscheidung der Verwaltung nicht den förmlichen Voraussetzungen des VerwVG entspricht. Eine "Regelung im Einzelfall" ist hier um so mehr anzunehmen, als das VersorgA aufgrund der Eingaben des Klägers vom 10. Mai, 8. Juni und 19. Juni 1969 durch das LVersorgA angewiesen worden war, eine erneute Sachprüfung vorzunehmen und dies - durch Einholung der Gutachten von Frau Dr. F und Dr. St - auch getan hat (vgl. BSG 10, 248; 13, 48). Die Beurteilung des Schreibens vom 25. November 1970 als Verwaltungsakt (Bescheid) wird ferner nicht dadurch ausgeschlossen, daß es sich um die Ablehnung einer Zugunstenregelung handelt. Der erkennende Senat hat bereits wiederholt entschieden, daß von einem "Zugunstenbescheid" im Sinne des § 40 Abs. 1 VerwVG nicht nur dann gesprochen wird, wenn durch diesen Bescheid das Versorgungsrechtsverhältnis zugunsten des Beschädigten geregelt wird, sondern auch dann, wenn das Begehren auf Erteilung eines Zugunstenbescheides abgelehnt worden ist (vgl. BSG 29, 278, 280).

Durch den - bindend gewordenen - Bescheid vom 26. März 1953 waren die Anerkennung von "Magen-, Gallen- und Leberleiden" und die Gewährung von Beschädigtenrente abgelehnt worden. Durch den weiteren Bescheid vom 13. Februar 1963 wurden auch die Anträge des Klägers vom 21. Dezember 1960 und 24. Januar 1963 auf Anerkennung von Schädigungsfolgen abgelehnt. In dem gerichtlichen Vergleich vom 21. Januar 1965 hatte sich der Beklagte lediglich verpflichtet, über etwaige Schädigungsfolgen im Bereich der Lunge neu zu entscheiden. Diese Entscheidung erfolgte mit dem Bescheid vom 3. Dezember 1965, der gleichfalls bindend geworden ist. Die sich aus § 77 SGG/§ 24 VerwVG ergebende Bindungswirkung der früheren Bescheide konnte von der Versorgungsverwaltung zugunsten des Klägers nur durch einen Bescheid nach § 40 Abs. 1 VerwVG oder durch eine völlige Neuregelung im Wege eines Zweitbescheides durchbrochen werden. In Übereinstimmung mit dem LSG ist davon auszugehen, daß es sich bei der Mitteilung vom 25. November 1970 um einen - negativen - Zugunstenbescheid handelt. Das ergibt sich aus den Gesamtumständen, insbesondere dem Inhalt dieses Bescheides und dem ausdrücklichen Vermerk, daß "an der rechtsverbindlichen Entscheidung festgehalten wird". (Zur Abgrenzung zwischen Zweitbescheid und abgelehntem Zugunstenbescheid s. BSG 29, 278).

Entgegen der Auffassung des LSG mußte das LSG jedoch im Rahmen der Prüfung der Rechtmäßigkeit des Bescheides vom 25. November 1970/29. Januar 1971 (vgl. § 95 SGG) mit dem die Verwaltungsbehörde die Erteilung eines Zugunstenbescheides nach § 40 Abs. 1 VerwVG abgelehnt hat, die notwendigen Feststellungen darüber treffen, ob die früheren - bindend gewordenen - Bescheide unrichtig sind. Das LSG hat geglaubt, dieser Verpflichtung unter Hinweis auf die begrenzte richterliche Nachprüfbarkeit von Ermessensentscheidungen gem. § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG enthoben zu sein. Wenn das LSG in diesem Zusammenhang von der "älteren Rechtsprechung" des BSG zu § 40 VerwVG gesprochen hat, die nach Auffassung des LSG dazu führen soll, "den Sinn und Zweck sowohl des § 40 VerwVG als auch des § 77 SGG in sein Gegenteil zu verkehren", so scheint das LSG die neuere Rechtsprechung des BSG hierzu (vgl. BSG 26, 146 und insbesondere 29, 278) übersehen zu haben. Der Senat hat ferner in seiner Entscheidung vom 12. Oktober 1972 (10 RV 663/71), die allerdings erst unmittelbar nach dem jetzt angefochtenen Urteil des LSG (vom 3. Oktober 1972) ergangen ist, zu den hier einschlägigen Rechtsfragen Stellung genommen. Die Ausführungen des LSG geben dem Senat keinen Anlaß, von seiner bisher - und bis in die jüngste Zeit - vertretenen Auffassung abzugehen.

Nach § 40 Abs. 1 VerwVG kann die zuständige Verwaltungsbehörde zugunsten des Berechtigten jederzeit einen neuen Bescheid erteilen. Wie der erkennende Senat bereits mehrfach entschieden hat (vgl. BSG 26, 146, 149; 29, 278, 282), steht der Versorgungsbehörde im Rahmen des § 40 Abs. 1 VerwVG zwar ein sogenanntes Handlungsermessen zu; dieses ist ihr jedoch nicht voraussetzungslos eingeräumt. Eine Zugunstenregelung nach dieser Vorschrift setzt voraus, daß der frühere Bescheid in tatsächlicher oder rechtlicher Beziehung unrichtig ist (vgl. insbesondere BSG 29, 278, 282). Diese Vorschrift gliedert sich also einerseits in ein Tatbestandsmerkmal (Unrichtigkeit), das als Voraussetzung für das weiterhin eingeräumte Handlungsermessen vorliegen muß - und gerichtlich nachgeprüft werden kann wie jedes sonstige Tatbestandsmerkmal auch (vgl. BSG aaO) -, und andererseits in die Einräumung des Handlungsermessens selbst. Ergibt die Nachprüfung, daß ein früherer bindend gewordener Bescheid unrichtig ist, so besteht für die Verwaltungsbehörde allerdings keine Wahl, entweder zugunsten des Berechtigten nach § 40 Abs. 1 VerwVG einen neuen Bescheid zu erteilen oder davon Abstand zu nehmen; sie ist dann vielmehr verpflichtet, einen der materiellen Rechtslage entsprechenden neuen Bescheid zu erteilen. Insoweit steht der Verwaltungsbehörde ein Ermessen nicht zu (vgl. BSG 29, 282). Die Ermessensausübung nach § 40 Abs. 1 VerwVG erstreckt sich nur noch darauf, von welchem Zeitpunkt an die Verwaltungsbehörde die günstigere Regelung treffen will, und dieses Ermessen allein kann von den Gerichten lediglich im Rahmen des § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG überprüft werden (vgl. BSG 26, 146, 148).

Bei dieser Auslegung des § 40 Abs. 1 VerwVG werden nicht etwa § 40 VerwVG und § 77 SGG "in ihr Gegenteil verkehrt", sondern der Rechtsschutz des Versorgungsberechtigten wird gestärkt und erweitert, wie es auch dem Verfassungsauftrag aus Art. 19 Abs. 4, 20 Abs. 3 des Grundgesetzes (GG) entspricht. § 77 SGG schreibt vor, daß der - erfolglos angegriffene - Verwaltungsakt für die Beteiligten in der Sache bindend wird, "soweit durch Gesetz nichts anderes bestimmt ist". Eine solche "andere gesetzliche Regelung" enthält § 40 Abs. 1 VerwVG (vgl. auch § 62 BVG und § 42 VerwVG). Der Sinn und Zweck dieser Vorschrift liegt gerade darin, das Versorgungsrechtsverhältnis materiell richtig zu gestalten (vgl. BSG 26, 146, 149). Daraus ergibt sich zwingend für die Auslegung des Wortes "kann" in dieser Vorschrift, daß die der Verwaltungsbehörde erteilte Ermächtigung dort ihre Grenze findet, wo die Ablehnung eines Zugunstenbescheides dem materiellen Recht und damit der Gerechtigkeit widerspräche. Die gerichtliche Nachprüfung erstreckt sich alsdann nicht nur auf die - durch § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG eingeschränkte - Ermessenskontrolle, sondern auf die tatbestandsmäßigen Voraussetzungen für die Erteilung eines Zugunstenbescheides überhaupt. Im übrigen entspricht es auch prozeßökonomischen Grundsätzen, die Sache nicht unnötig an die Verwaltung zurückzuverweisen, wenn die tatbestandsmäßigen Voraussetzungen durch die Gerichte in eigener Verantwortung geprüft und entschieden werden können. Diese Auffassung wird im übrigen auch von dem Beklagten geteilt.

Der Hinweis des LSG auf die Entscheidungen des BSG auf den Gebieten der Angestellten-, Invaliden-, Unfall- und Knappschaftsrentenversicherung geht gleichfalls fehl. Das LSG verkennt dabei, daß die Erteilung eines "Zugunstenbescheides" auf diesen Rechtsgebieten (Neufeststellung von Leistungen; vgl. § 1300 RVO) an andere Voraussetzungen geknüpft ist als im Kriegsopferrecht. Im Rentenversicherungsrecht kommt es auf die - subjektive - Überzeugung des Versicherungsträgers an, die von den Gerichten nur daraufhin nachgeprüft werden kann, ob der Versicherungsträger bei der Bildung seiner Überzeugung "offensichtlich fehlerhaft" gehandelt hat (vgl. BSG in SozR RVO § 1300 Nr.1 mit weiteren Hinweisen; s. auch Urteil BSG vom 19. Juni 1973 - 1 RA 261/72, durch das die beklagte Bundesversicherungsanstalt für Angestellte zur Neufeststellung der Leistung nach § 79 des Angestelltenversicherungsgesetzes verurteilt worden ist, weil "die gegenteilige Überzeugung - der BfA - unter keinem tatsächlichen oder rechtlichen Gesichtspunkt zu halten ist"). Auf dem Gebiet des Kriegsopferrechts handelt es sich dagegen um eine Ermessensentscheidung der Versorgungsbehörde, wobei die Ausübung des - gebundenen - Ermessens an die gesetzliche Voraussetzung geknüpft ist, daß die frühere Entscheidung "tatsächlich und rechtlich unrichtig ist" (vgl. BSG 29, 278, 282; s. auch die Überschrift vor §§ 40 - 44 VerwVG).

Das LGS hat keine Feststellungen über die Unrichtigkeit der früheren Bescheide selbst getroffen, wie es seine Aufgabe gewesen wäre, sondern durch die Verurteilung zur Erteilung eines neuen Bescheides - und zur fehlerfreien Untersuchung des Sachverhalts - die Sache an die Verwaltungsbehörde zurückverwiesen. Dabei hat das LSG dem Beklagten noch nähere Anweisungen erteilt, welche Ermittlungen dieser noch vorzunehmen habe und welche rechtlichen Erwägungen maßgebend sein könnten für die Erteilung eines neuen Bescheides. Eine solche "Zurückverweisung" an die Versorgungsbehörde ist aber nicht zulässig (vgl. BSG 2, 94, 96; Urteil des erkennenden Senats vom 12. Oktober 1972, aaO). Das LSG hat zwar geglaubt, einen Ermessensfehlgebrauch des Beklagten feststellen zu können und aus diesem Grunde eine Zurückverweisung vornehmen zu müssen. Insoweit war jedoch für eine Entscheidung des LSG kein Raum, weil noch nicht einmal die Grundvoraussetzung der Erteilung des Zugunstenbescheides, nämlich die Unrichtigkeit der früheren Bescheide, feststeht. Die Revision des Beklagten ist daher begründet (§ 170 Abs. 2 SGG). Der Senat konnte nicht in der Sache selbst entscheiden, da noch keine ausreichenden Tatsachenfeststellungen vorliegen; die Sache war daher an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG). Das LSG wird nunmehr prüfen müssen, ob die Voraussetzungen des § 40 Abs. 1 VerwVG vorliegen, d.h. ob die früheren Bescheide deshalb unrichtig sind, weil darin zu Unrecht ein Versorgungsanspruch verneint und die Gewährung von Versorgungsbezügen abgelehnt worden ist.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1647110

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