Entscheidungsstichwort (Thema)

Ablehnung des Unfallversicherungsschutzes von Schülern bei Internatsaufenthalt

 

Leitsatz (amtlich)

1. Ein Minderjähriger hat keinen Anspruch auf Erstattung von Heilbehandlungskosten gegenüber dem Unfallversicherungsträger, die von seinen Eltern im Rahmen der Unterhaltspflicht aufgebracht wurden. Ihm steht ein Recht auf Feststellung zu, ein erlittener Gesundheitsschaden sei die Folge eines Arbeits- (Schüler)unfalles.

2. Verunglückt ein Internatsschüler einer allgemeinbildenden Schule außerhalb des Unterrichtes oder der Pause oder einer Schulveranstaltung, ist er nicht versichert.

 

Orientierungssatz

Ein Internat ist nicht einer allgemeinbildenden Schule gleichzuerachten. Ein Internatsschüler muß sich also genauso behandeln lassen wie ein Externer, der außerhalb des Unterrichts, einer Schulpause oder einer Schulveranstaltung, das Klassenzimmer aufsucht und dann verunglückt.

 

Normenkette

RVO § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst b Fassung: 1971-03-18, § 548 Abs 1 S 1 Fassung: 1963-04-30; SGG § 55 Abs 1 Nr 3; RVO § 557 Abs 1 Fassung: 1974-08-07

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 12.07.1979; Aktenzeichen L 7 U 629/79)

SG Mannheim (Entscheidung vom 28.11.1978; Aktenzeichen S 3 U 438/77)

 

Tatbestand

Streitig ist, ob eine Fraktur der beiden oberen Vorderzähne des Klägers als Folge eines Arbeitsunfalles (Schülerunfall) festzustellen ist und der Beklagte dem Kläger die dafür notwendig gewordenen zahnärztlichen Behandlungskosten zu erstatten hat.

Der am 9. November 1962 geborene Kläger war Schüler des staatlich anerkannten Privat-Gymnasiums "I S", einer Internatsschule für Jungen, in S/B; er wohnte im Internat. Am 26. März 1974 gegen 14.10 Uhr hielt er sich während der Freizeit nach dem Mittagessen und vor der Hausaufgabenzeit in seinem Klassenzimmer der Schule auf, in das ein älterer Mitschüler eindringen wollte. Der Kläger versuchte diesen daran zu hindern, indem er die Klassenzimmertür zuhielt, was jedoch mißlang, da der körperlich stärkere Mitschüler die Tür mit solchem Schwung aufriß, daß die Türklinke den Kläger am Kopf traf. Hierdurch erlitt er eine Platzwunde an den Lippen und Frakturen an den beiden oberen Vorderzähnen, weswegen er zahnärztlich behandelt werden mußte. Den Eltern des Klägers entstanden hierfür Aufwendungen von 570,-- DM.

Der Beklagte lehnte es gegenüber dem Kläger ab, ihm die durch die Unfallfolgen entstandenen Kosten zu erstatten, weil sich der Unfall während der Freizeit ereignet habe und deshalb kein entschädigungspflichtiger Schulunfall sei (Bescheid vom 27. Juni 1977).

Das Sozialgericht (SG) hat diesen Bescheid aufgehoben, festgestellt, daß die Fraktur der beiden oberen Vorderzähne Folge des Arbeitsunfalles sei und den Beklagten verurteilt, dem Kläger die dafür behandlungsnotwendigen Kosten zu erstatten (Urteil vom 28. November 1978). Lediglich in den Gründen hat es erwähnt, daß ab 1. Januar 1978 ein Anspruch auf Verzinsung der Geldleistung bestehe.

Das Landessozialgericht (LSG) hat die zugelassene Berufung des Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 12. Juli 1979).

Mit der zugelassenen Revision rügt der Beklagte eine Verletzung formellen und materiellen Rechts, insbesondere der §§ 103, 106, 128 Sozialgerichtsgesetz (SGG), 539 Abs 1 Nr 14b, 547, 548, 557 Abs 1 Nr 1, 655 Abs 2 Nr 5 Reichsversicherungsordnung (RVO).

Der Beklagte beantragt,

die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben

und die Klage abzuweisen,

hilfsweise:

die Sache an das LSG zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten sind damit einverstanden, daß der Senat durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs 2 SGG).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Beklagten ist begründet. Die Urteile des LSG und des SG sind aufzuheben. Die verbundene Anfechtungs- und Leistungsklage sowie die Feststellungsklage sind abzuweisen.

Entgegen der Auffassung der Vorderrichter konnte das gesamte Begehren des Klägers keinen Erfolg haben. Die Vorderrichter haben zu Unrecht beiden Klagen stattgegeben, nämlich der gegen den Bescheid der Beklagten vom 27. Juni 1977 und auf Zahlung von 570,-- DM gerichteten verbundenen Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 und 4 SGG) und der Klage, festzustellen, daß die erlittene Fraktur der beiden oberen Vorderzähne Folge des Unfalles vom 26. März 1974 ist.

Soweit der Kläger mit der verbundenen Anfechtungs- und Leistungsklage zunächst den Bescheid des Beklagten vom 27. Juni 1977 aufgehoben wissen will und sodann erstrebt, daß der Beklagte verurteilt wird, an ihn 570,-- DM zu zahlen, ist diese Klage unbegründet. Der angefochtene Bescheid ist nämlich, wenn auch nicht in der Begründung, so doch - was allein entscheidend ist - im Ergebnis rechtmäßig. Mit diesem Bescheid hatte es der Beklagte gegenüber dem Kläger, der damals minderjährig und deshalb rechtsgemäß von seinem Vater gesetzlich vertreten wurde, abgelehnt, diesen zu entschädigen. Er hatte einen Schulunfall verneint, da kein "innerer Zusammenhang zu der schulischen Veranstaltung" bestanden habe und seine Ablehnung in folgendem Schlußsatz zusammengefaßt: "Die entstandenen zahnärztlichen Behandlungskosten können aus diesem Grunde von uns nicht übernommen werden". Damit hatte er letztlich, wenn auch rechtlich unzulänglich begründet, einen Anspruch des Klägers abgelehnt, ihm 570,-- DM für die Aufwendungen der zahnärztlichen Behandlung aus Anlaß des schädigenden Ereignisses zu erstatten. Da die zahnärztliche Behandlung des Klägers bereits abgeschlossen war, hatte der Beklagte nicht über den sonst im Unfallentschädigungsrecht im Vordergrund der Sachleistungen stehenden Anspruch auf Heilbehandlung (§§ 547, 556 Abs 1 Nr 1, 557 Abs 1, 2 RVO) zu entscheiden, sondern über den hier allein der Natur der Sache nach in Betracht kommenden Erstattungsanspruch. Dazu war nicht zu entscheiden, was der Beklagte und die Vorinstanzen nicht erkannt haben, ob der Kläger einen entschädigungspflichtigen Schulunfall erlitten hat. Vielmehr hätte sich die Erkenntnis aufdrängen müssen, daß der damals minderjährige Kläger keinen eigenen Anspruch darauf hatte, daß ihm der Beklagte die für die zahnärztliche Behandlung aufgewendeten 570,-- DM erstatte. Dieser Anspruch hätte nur den Eltern zustehen können. Sie hatten aufgrund ihrer elterlichen Unterhaltspflicht nach dem Unfall - der behandelnde Zahnarzt erkannte dies, indem er seine spätere Honorarrechnung an die Mutter des Klägers richtete - den Kläger unverzüglich der sachlich gebotenen zahnärztlichen Behandlung zugeführt und hierfür 570,-- DM aufgewendet (§§ 1601, 1602, 1610 Abs 1, 2 BGB). Die Eltern hat der Beklagte aber mit dem streitigen Bescheid nicht beschieden.

Wenn auch wegen des im Ergebnis richtigen und daher nicht rechtswidrigen Bescheids die verbundene Anfechtungs- und Leistungsklage erfolglos bleiben mußte, ist die Feststellungsklage jedenfalls zulässig. Es kann offen bleiben, ob für die Feststellungsklage in den Vorinstanzen das Feststellungsbedürfnis wegen der gleichzeitig erhobenen verbundenen Anfechtungs- und Leistungsklage angenommen werden durfte. Dem Kläger ist aber jedenfalls jetzt ein Interesse daran, daß die erlittene Fraktur der beiden oberen Vorderzähne Folge des Arbeitsunfalls vom 26. März 1974 ist, zuzuerkennen (§ 55 Abs 1 Nr 3 SGG). Dies ist insbesondere für etwaige Spätfolgen des Unfalls bedeutsam.

Die damit zwar zulässige Feststellungsklage ist jedoch unbegründet. Der Unfall ist nämlich kein Arbeitsunfall. Nach § 548 Abs 1 Satz 1 RVO, der den Begriff des Arbeitsunfalls nur unscharf beschreibt und, wie der Senat bereits ausgesprochen hat (BSGE 48, 224, 225 f), sachlich zutreffender als "Unfall, den ein Versicherter infolge einer - nach §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO-versicherten Beschäftigung oder Tätigkeit (§ 7 SGB IV) erleidet und der zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tode führt", zu definieren ist, verlangt als erstes Merkmal einen Unfall und als zweites Merkmal, daß jemand nach §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO in der gesetzlichen Unfallversicherung versichert ist. Der Kläger konnte nach § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst b RVO, wonach Schüler während des Besuchs allgemeinbildender Schulen versichert sind, versichert gewesen sein. Die vom Kläger besuchte Schule ist eine allgemeinbildende Schule. Sie ist eine Einrichtung, die wegen des dort erteilten Unterrichts von Schülern besucht wird (BSGE 35, 207, 209 = SozR Nr 37 zu § 539 RVO; BSGE 41, 149, 151 = SozR 2200 § 539 Nr 16). Versichert ist ein Schüler nicht nur während des Unterrichts und der Schulpausen, sondern auch während aller Schulveranstaltungen. Bestimmend dafür, ob eine Veranstaltung Schulveranstaltung ist, ist, daß sie (noch) in die Verantwortung der Schule fällt. Es muß jeweils eine unmittelbare zeitliche und räumliche Beziehung zur Schule, zum Unterrichtsort oder der Schulveranstaltung bestehen (BSGE 41, 149, 151 = SozR 2200 § 539 Nr 16), die aber zB bei privatem Nachhilfeunterricht (BSG, Urteil vom 27. Januar 1976 - 8 RU 114/75 -) und bei Hausaufgaben (BSG SozR 2200 § 549 Nr 2) fehlt.

Der Kläger verunglückte gegen 14.10 Uhr, zwar in einem Klassenzimmer seiner Schule, jedoch nicht während des Unterrichts, einer Schulpause oder einer Schulveranstaltung. Der Schulunterricht war seit 13.00 Uhr beendet. Der Kläger hielt sich in dem Klassenzimmer ohne irgendeinen schulbedingten Grund auf, der zB darin hätte bestehen können, daß ihn ein Lehrer angewiesen hätte, sich zur Unglückszeit in dem Klassenraum aufzuhalten. Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht dadurch, daß der Kläger Internatsschüler war und das Internat, in dem er lebte und wohnte, räumlich im selben Gebäude untergebracht war. Es mag sein, daß ein Internatsaufenthalt eines Schülers auch dessen Erziehung dient. Indes erstreckt sich die gesetzliche Unfallversicherung nicht auch auf diese Art von Erziehung. Sie bezieht sich vielmehr kraft Gesetzes auf den Besuch allgemeinbildender Schulen. Ein Internat ist aber nicht einer allgemeinbildenden Schule gleichzuachten. Der Kläger als Internatsschüler muß sich also genauso behandeln lassen wie ein Externer, der außerhalb des Unterrichts, einer Schulpause oder einer Schulveranstaltung, das Klassenzimmer aufsucht und dann verunglückt.

Offen bleiben kann, ob der Kläger zu seinen Gunsten sich darauf berufen konnte, der Unfall habe sich wegen seines kindlichen und daher nicht hinreichend beherrschten Spieltriebs ereignet. Dies könnte nur dann berücksichtigt werden, wenn sich der Unfall "während des Besuchs allgemeinbildender Schulen" (§ 539 Abs 1 Nr 14 Buchst b RVO) ereignet hätte. Dies war aber gerade nicht der Fall.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1660090

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