Leitsatz (amtlich)
Die Witwe eines im Jahre 1958 gestorbenen Versicherten, der nur vor 1924 Beiträge zur Rentenversicherung entrichtet hatte, kann mangels anrechnungsfähiger Versicherungszeiten auch dann keine Witwenrente erhalten, wenn der Versicherte bis zu seinem Tode eine allein auf Grund des SVFAG § 4 Abs 1 und 4 gewährte 191/61 = BSGE 20, 282). Invalidenrente bezogen hat (Vergleiche BSG 1964-94-07 4 RJ 191/61 = BSGE 20, 282).
Normenkette
RVO § 1249 Fassung: 1957-02-23, § 1263 Fassung: 1957-02-23; SVFAG § 4 Abs. 1 Fassung: 1953-08-07, Abs. 4 Fassung: 1953-08-07
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 10. Mai 1961 wird aufgehoben.
Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 8. Februar 1960 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die im Oktober 1962 verstorbene Klägerin beantragte im Februar 1958 Hinterbliebenenrente aus der Versicherung ihres in diesem Monat verstorbenen Ehemannes. Die Beklagte lehnte den Antrag mit der Begründung ab, die nur von 1898 bis 1918 zurückgelegten Versicherungszeiten könnten gemäß § 1249 der Reichsversicherungsordnung (RVO) für die Erfüllung der Wartezeit nicht berücksichtigt werden, weil in der Zeit vom 1. Januar 1924 bis 30. November 1948 für die Zeit nach dem 31. Dezember 1923 kein Beitrag entrichtet worden sei. Unerheblich sei es in diesem Zusammenhang, daß der Versicherte selbst eine Rente erhalten habe; diese sei lediglich nach den Bestimmungen des Fremdrenten- und Auslandsrentengesetzes - FAG - (§ 4 Abs. 4) gewährt worden.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung der Klägerin hin die Beklagte dem Grunde nach verurteilt, der Klägerin Hinterbliebenenrente vom 1. März 1958 an zu gewähren. Es hat ausgeführt: Als Versicherungszeiten für die Gewährung von Hinterbliebenenrenten (§ 1263 Abs. 2 RVO) könnten Beitragszeiten nur insoweit bewertet werden, als sie für die Erfüllung der Wartezeit anrechenbar seien. Solche Versicherungszeiten seien in § 1249 RVO aufgeführt. Aus § 1263 Abs. 2 RVO sei aber mangels Erwähnung des § 1249 nicht zu entnehmen, daß die zu berücksichtigenden Versicherungszeiten auf die nach § 1249 RVO anrechenbaren beschränkt seien. Es sei daher nicht ausgeschlossen, daß als Versicherungszeiten im Sinne des § 1263 Abs. 2 RVO auch solche Zeiten gelten könnten, die nach anderen gesetzlichen Vorschriften, etwa nach § 4 Abs. 1 und 4 FAG anrechenbar seien. § 4 Abs. 4 FAG bezwecke nicht lediglich die Weitergewährung von Rente nach vorausgegangener rechtskräftiger Feststellung. Vielmehr sei aus dieser Bestimmung die Anrechenbarkeit von Beitragszeiten für alle Fälle anzunehmen, in denen diese Vorfrage von Bedeutung sei. Dies sei bei den Hinterbliebenenrenten der Fall; diese Leistungen würden aus der Versicherung des Verstorbenen und nicht aus dessen Rente abgeleitet. Die Auswirkung der Anrechenbarkeit von Beitragszeiten nach § 4 Abs. 4 FAG erstrecke sich daher sowohl auf die Rente des Versicherten selbst als auch auf die seiner Hinterbliebenen.
Das LSG hat die Revision zugelassen. Mit der Revision beantragt die Beklagte,
das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 10. Mai 1961 aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des SG Detmold vom 8. Februar 1960 zurückzuweisen.
Sie rügt, das LSG habe § 1249 RVO unrichtig angewendet. Der Anspruch der Witwe sei nach dem im Zeitpunkt des Todes des Ehemannes (1958) geltenden Recht zu prüfen. Dieses Recht fordere, um Beiträge aus der Zeit vor 1924 berücksichtigen zu können, die Entrichtung eines "Brückenbeitrages" für die Zeit nach dem 31. Dezember 1923 (§ 1249 RVO). Mit § 4 Abs. 4 Satz 2 FAG, der bestimme, daß bei FAG-Rentenempfängern die Anwartschaft unabhängig von den Vorschriften des allgemeinen Rechts als erhalten gelte, sei nicht zu helfen. Diese Vorschrift sei als Anwartschaftsvergünstigung am 1. Januar 1957 gegenstandslos geworden und könne nicht mehr angewendet werden (Art. 3 § 2, Art. 2 § 43 Abs. 1 des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der Rentenversicherung der Arbeiter - ArVNG -).
Die Rechtsnachfolgerin der Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Revision ist zulässig und begründet.
Nach dem Tode der früheren Klägerin ist ihre Tochter, die jetzige Klägerin, zur Fortsetzung des Verfahrens berechtigt (§ 1288 Abs. 2 RVO).
Rentenansprüche sind, wenn das Gesetz keine Ausnahmen vorsieht, nach dem Recht zu beurteilen, das zur Zeit des Eintritts des Versicherungsfalls gilt. Der Versicherungsfall, der den Anspruch auf Witwenrente auslöst, ist der Tod des versicherten Ehemannes (BSG 13, 251, 252). Der Ehemann der ursprünglichen Klägerin ist am 4. Februar 1958 gestorben. Zutreffend hat daher das LSG das Rentenrecht des ArVNG angewendet.
Nach den §§ 1264, 1263 Abs. 2 RVO erhält nach dem Tode des versicherten Ehemannes seine Witwe eine Witwenrente, wenn für den Verstorbenen zur Zeit seines Todes eine Versicherungszeit von 60 Kalendermonaten zurückgelegt ist oder die Wartezeit als erfüllt gilt. Weil im vorliegenden Fall keine Wartezeitfiktion eingreift, hängt die Gewährung der Witwenrente davon ab, ob der Verstorbene zur Zeit seines Todes eine Versicherungszeit von 60 Kalendermonaten zurückgelegt hatte.
Wie das Bundessozialgericht (BSG) bereits entschieden hat (BSG 14, 289, 291), handelt es sich bei der Versicherungszeit im Sinne des § 1263 Abs. 2 RVO um eine Wartezeit, auf die, obwohl eine Verweisung auf diese Vorschrift fehlt, § 1249 RVO entsprechend anzuwenden ist. Da es an Beiträgen nach 1923 und damit auch am sogenannten Brückenbeitrag fehlt, können die vor dem 1. Januar 1924 zurückgelegten Versicherungszeiten gemäß § 1249 RVO auf die Wartezeit nicht angerechnet werden; eine Versicherungszeit von 60 Monaten liegt daher nicht vor. Dem LSG kann nicht darin gefolgt werden, daß fehlende Versicherungszeiten im Sinne der §§ 1263 Abs. 2, 1249 RVO durch einen Rentenbezug des Versicherten auf Grund des § 4 Abs. 1 und Abs. 4 FAG ersetzt werden können. Gemäß Art. 3 § 2 ArVNG sind mit dem Inkrafttreten dieses Gesetzes (1.1.1957) alle entgegenstehenden oder gleichlautenden Vorschriften außer Kraft getreten. Da durch das ArVNG, von der Vorschrift des § 1249 Satz 2 RVO und bestimmten Übergangsvorschriften abgesehen, das frühere Anwartschaftsrecht beseitigt worden ist, kann § 4 Abs. 4 Satz 2 FAG seit dem 1. Januar 1957 keine Anwendung mehr finden. Während in Art. 2 § 8 und § 17 ArVNG die Anwendbarkeit des neuen Rechts und des alten Rechts auf alte Versicherungsfälle geregelt wird, fehlen Bestimmungen darüber, daß das alte Recht auf Versicherungsfälle angewendet werden kann, die nach dem 31. Dezember 1956 eingetreten sind (vgl. Urt. des Senats vom 7. April 1964, BSG 20, 282). Daraus ist zu entnehmen, daß sich die Frage, ob die vor dem 1. Januar 1924 entrichteten Beiträge bei einem nach dem 31. Dezember 1956 eingetretenen Versicherungsfall auf die Wartezeit anrechenbar sind, ausschließlich nach § 1249 RVO beantworten läßt. Für diese Auffassung spricht auch § 1258 Abs. 1 RVO, wonach es bei der Ermittlung der Anzahl der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre u. a. auf die auf die Wartezeit anzurechnenden Versicherungszeiten nach §§ 1249 bis 1251 ankommt. Die Erwähnung dieser Bestimmungen läßt darauf schließen, daß sich aus anderen Vorschriften auf die Wartezeit anzurechnende Versicherungszeiten nicht herleiten lassen. Demnach stand der Klägerin kein Anspruch auf Hinterbliebenenrente zu, obwohl ihr verstorbener Ehemann selbst eine Rente erhalten hat.
Nun hat der Senat in dem genannten Urteil vom 7. April 1964 zwar entschieden, daß nach der Neuregelung von 1957 Beiträge, die vor dem 1. Januar 1924 entrichtet worden sind, nicht nur dann nicht verfallen sind, wenn mindestens ein "Brückenbeitrag" vorhanden ist, sondern auch dann nicht, wenn die Anwartschaft aus den Versicherungszeiten vor 1924 infolge Rentenbezugs erhalten war. Dies hat der Senat aus dem dem Rechtsinstitut der Anwartschaft immanenten Grundsatz gefolgert, daß Beiträge, die einmal bei der Rentengewährung angerechnet worden sind, während des Bezuges dieser Rente nicht verfallen können. Dieser Grundsatz ergibt sich daraus, daß während eines Rentenbezuges des Versicherten zur Erhaltung der Anwartschaft keine Beiträge entrichtet zu werden brauchten (§ 1264 Abs. 3 RVO aF), ja nicht einmal entrichtet werden durften (§§ 1236, 1443 RVO aF). Der vorliegende Fall liegt jedoch wesentlich anders. Der Versicherte dieses Rechtsstreits hatte, nachdem er sich in jungem Alter selbständig gemacht und dann keine Beiträge mehr entrichtet hatte, normalerweise keine rechtliche Bindung mehr zur Rentenversicherung. Hätte es die - auf dem Entschädigungsgedanken beruhende, vorläufige - Sondervorschrift des § 4 Abs. 4 FAG nicht gegeben, so hätte er in der Bundesrepublik keine Rente erhalten können, weil die Anwartschaft weder nach den §§ 1264, 1265 RVO aF noch nach § 4 Abs. 2 des Sozialversicherungs-Anpassungsgesetzes (SVAG) erhalten war. Die Gewährung seiner Rente beruhte allein darauf, daß er vor seiner Flucht Rentenbezieher der Sozialversicherungsanstalt Mecklenburg gewesen war und nur deshalb gemäß § 4 Abs. 4 Satz 2 FAG die Anwartschaft als erhalten galt. Er stand somit besser, als er in der Bundesrepublik gestanden hätte. Diese besondere Stellung der Ostzonenflüchtlinge ist inzwischen beseitigt worden. § 1 Abs. 1 FAG bestimmte bereits, daß die Ansprüche nach den Vorschriften des FAG nur "bis zu einer anderen gesetzlichen Regelung" gegeben sein sollten. In das Fremdrentengesetz (FRG) vom 25. Februar 1960, das das FAG abgelöst hat, ist aber keine dem § 4 Abs. 4 FAG entsprechende Vorschrift mehr aufgenommen worden. Nur für die Hinterbliebenen von Umsiedlern gibt es in Art. 6 § 14 FRG noch die Sonderregelung, daß die Wartezeit unter gewissen Voraussetzungen als erfüllt gilt, falls der Versicherte eine Rente bezogen hat. Wenn der Versicherte dieses Rechtsstreits nach dem Außerkrafttreten des § 4 Abs. 4 FAG in die Bundesrepublik zugezogen wäre, hätte auch er keine Rente mehr bekommen können. Hieraus ist der Schluß möglich, daß es sich bei der Gewährung von Renten an Ostzonenflüchtlinge auf Grund des § 4 Abs. 4 FAG um eine einmalige Vergünstigung gehandelt und diese Vorschrift keinen dem Rechtsinstitut der Anwartschaft immanenten Grundsatz enthalten hat. Das führt dazu, diesen Rechtsstreit nicht so zu entscheiden, wie es in dem erwähnten früheren Urteil des Senats möglich war.
Die Revision ist daher begründet, so daß das angefochtene Urteil aufgehoben und die Berufung gegen das Urteil des SG zurückgewiesen werden muß.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen