Leitsatz (redaktionell)

Die Rente ruht, solange der Berechtigte weder Deutscher iS des GG Art 116 Abs 1 noch früherer deutscher Staatsangehöriger iS des GG Art 116 Abs 2 S 1 ist, sich freiwillig gewöhnlich außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes aufhält (hier: Argentinien) und auch Sozialversicherungsabkommen, die etwas anderes bestimmen, nicht bestehen.

(Der Rechtsstreit betrifft die Frage, ob sich der Kläger freiwillig gewöhnlich außerhalb des Geltungsbereiches der RVO aufhält und ob deswegen die ihm gewährte Erwerbsunfähigkeitsrente gemäß RVO § 1315 Abs 1 Nr 1 ruht).

 

Orientierungssatz

Zur der Frage, ob sich ein (1923 von Deutschland nach Argentinien ausgewanderter) berechtigter Ausländer freiwillig iS von RVO § 1315 Abs 1 Nr 1 gewöhnlich außerhalb des Geltungsbereichs der RVO aufhält.

 

Normenkette

RVO § 1315 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1960-02-25; GG Art. 116 Abs. 1 Fassung: 1949-05-23, Abs. 2 S. 1 Fassung: 1949-05-23

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 22. September 1965 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Der Rechtsstreit betrifft die Frage, ob sich der Kläger freiwillig gewöhnlich außerhalb des Geltungsbereiches der Reichsversicherungsordnung (RVO) aufhält und ob deswegen die ihm gewährte Erwerbsunfähigkeitsrente gemäß § 1315 Abs. 1 Nr. 1 RVO ruht.

Der Kläger ist am 20. Oktober 1894 in S., Kreis Bitterfeld geboren. Für ihn wurden vom Oktober 1910 bis zum November 1923 - mit Ausnahme der Zeit des Kriegsdienstes und einer nachfolgenden Arbeitslosigkeit - Pflichtversicherungsbeiträge zur Knappschaft H und zur Landesversicherungsanstalt (LVA) Sachsen-Anhalt entrichtet.

Im November 1923 wanderte der Kläger nach Argentinien aus. Er zahlte von dort noch bis zum Jahre 1939 freiwillige Beiträge an die LVA B. Seit 26. März 1941 besitzt er die argentinische Staatsangehörigkeit.

Die Beklagte gewährte dem Kläger die Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit ab Februar 1960 und teilte ihm gleichzeitig mit, daß die Rente nach § 1315 RVO ruhe, weil der Kläger sich als Ausländer freiwillig gewöhnlich im Ausland aufhalte (Bescheid vom 19. September 1960).

Die Klage, mit welcher der Kläger die Auszahlung der Rente begehrte, hatte in beiden Vorinstanzen keinen Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen wies die Berufung gegen das klagabweisende Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 28. Juni 1963 zurück; es ließ die Revision zu (Urteil vom 22. September 1965).

Zur Begründung führte das LSG im wesentlichen aus: Da der Kläger weder Deutscher i.S. des Art. 116 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) noch früherer deutscher Staatsangehöriger i.S. des Art. 116 Abs. 2 Satz 1 GG sei, habe die Beklagte das Ruhen der Rente gemäß § 1315 RVO zu Recht festgestellt. Der Kläger halte sich im Sinne der gesetzlichen Vorschrift freiwillig gewöhnlich außerhalb des Geltungsbereiches der RVO auf. Auch wenn der Kläger durch Vorlage verschiedener Bescheinigungen deutscher Verbände und Organisationen in Argentinien seine innere Verbundenheit mit der alten Heimat aufgezeigt habe, so sei doch davon auszugehen, daß er über 40 Jahre in Argentinien freiwillig gewohnt und gearbeitet habe und nach dieser langen Zeit eine unmittelbare persönliche Beziehung zu Deutschland nicht mehr vorliege. Auch wenn der Kläger nunmehr unter Berücksichtigung seines hohen Alters und der damit verbundenen Erscheinungen keine Möglichkeit zu einer Rückkehr in die alte Heimat mehr habe, so könne dadurch der ursprünglich freiwillige Aufenthalt nur dann zu einem unfreiwilligen werden, wenn beim Kläger - ohne Vorliegen der Altersumstände - ein echter, objektiv feststellbarer Rückkehrwille vorhanden wäre. Hierfür würden aber tatsächliche Anhaltspunkte fehlen. Im übrigen könnte der Kläger - selbst wenn der Ruhenstatbestand des § 1315 RVO nicht vorläge - mit Rücksicht auf die dann maßgebenden §§ 1318, 1319 und 1323 Abs. 2 RVO nur eine lediglich aus den freiwilligen Beiträgen errechnete Rente erhalten.

Gegen dieses Urteil hat der Kläger form- und fristgerecht Revision eingelegt.

Er rügt eine unrichtige Anwendung der §§ 1315, 1319 RVO und einen Verstoß gegen § 128 Abs. 1 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG):

Die Feststellungen des LSG seien auf eine unzutreffende Würdigung des Akteninhalts und auf eine zu enge Auslegung des Begriffs "unfreiwillig" zurückzuführen. Er sei im Jahre 1923, also auf dem Höhepunkt der Inflation, "versuchsweise" ausgewandert. Für seinen fortdauernden Willen, bei passender Gelegenheit nach Deutschland zurückzukehren, spreche, daß er 18 Jahre lang die deutsche Staatsangehörigkeit nicht aufgegeben und bis zum Ausbruch des 2. Weltkrieges freiwillige Beiträge zur deutschen Rentenversicherung entrichtet habe. Auch gehöre er heute noch zahlreichen deutschen Vereinigungen in Argentinien an. Die Annahme der argentinischen und damit die Aufgabe der deutschen Staatsangehörigkeit im März 1941 sei nur unter dem Druck der damaligen politischen Verhältnisse erfolgt. Zumindest seit Beginn des 2. Weltkrieges habe er sich somit in einer Zwangslage befunden, die es ihm unmöglich gemacht habe, seinen Rückkehrwillen in die Tat umzusetzen. Diese Zwangslage habe für ihn auch nach dem 2. Weltkrieg zunächst aufgrund der damaligen schlechten wirtschaftlichen Verhältnisse in Deutschland und später infolge seines fortgeschrittenen Lebensalters fortbestanden. Danach erweise sich sein Aufenthalt in Argentinien als unfreiwillig. Sein Fall dürfte nicht anders zu beurteilen sein als der vom Bundessozialgericht (BSG) im Urteil vom 3. März 1960 (Az.: 4 RJ 186/57) entschiedene Rechtsstreit.

Das LSG habe schließlich auch einen Anspruch auf die Rente in voller Höhe zu Unrecht unter Hinweis auf § 1319 RVO verneint. Diese Vorschrift gelte - im Gegensatz zu § 1315 RVO - nur für Deutsche i.S. des Art. 116 GG. Die entgegenstehende Entscheidung des BSG vom 27. Mai 1964 (SozR Nr. 2 zu § 1318 RVO) sei nicht überzeugend, weil die dort angenommene Gesetzeslücke nach Wortlaut und Systematik des Gesetzes überhaupt nicht vorhanden sei.

Der Kläger beantragt, unter Abänderung des angefochtenen Urteils und der diesem zugrundeliegenden Vorentscheidungen die Beklagte zu verurteilen, die ruhende Rente zur Auszahlung zu bringen.

Die Beklagte beantragt sinngemäß die Zurückweisung der Revision.

Sie hält die Ausführungen des Berufungsgerichts für zutreffend.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs. 2 SGG).

II

Die nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG statthafte Revision ist nicht begründet.

Zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Argentinien besteht kein Sozialversicherungsabkommen, das die Anwendung der Bestimmung des Ruhens der Rente bei Auslandsaufenthalt eines Ausländers i.S. des § 1315 Abs. 1 RVO ausschließen könnte (vgl. Plöger/Wortmann, Deutsche Sozialversicherungsabkommen mit ausländischen Staaten, Verlag der Ortskrankenkassen Bonn - Bad Godesberg).

Für die Frage, ob sich ein berechtigter Ausländer freiwillig im Sinne von § 1315 Abs. 1 Nr. 1 RVO gewöhnlich außerhalb des Geltungsbereichs der RVO aufhält, ist vor allem dessen Wille maßgebend. Es kommt darauf an, ob der Aufenthalt des Berechtigten auf seinem eigenen freien Wollen, d.h. nicht auf einem durch äußere Umstände erzwungenen Verhalten beruht. An diesen von der ständigen Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts (RVA) entwickelten Kriterien (vgl. AN 1914, 703; 1918, 403; 1922, 444; 1926, 205) hat auch der 4. Senat des BSG in dem von der Revision genannten Urteil vom 3. März 1960 (SozR Nr. 1 zu § 1283 RVO) festgehalten. Darin hat das BSG unter Bezugnahme auf das RVA in AN 1918, 403 sogar betont, daß bei Ausländern auch im Falle einer wirklichen Zwangslage deren Wille häufig ohnehin nicht auf eine Rückkehr gerichtet sei.

Von der Revision wird - im Anschluß an die vom LSG angestellte und zur Erforschung des wahren Willens des Klägers auch gebotene rückschauende Betrachtungsweise - geltend gemacht, der Kläger habe bis zu Beginn des 2. Weltkrieges einen echten Rückkehrwillen gehabt und seit Ausbruch des 2. Weltkrieges habe er sich in einer Zwangslage befunden, die es ihm unmöglich gemacht habe, seinen Willen zur Rückkehr in die Tat umzusetzen.

Selbst wenn man annimmt, daß dieses Vorbringen sich noch im Rahmen der vom LSG getroffenen tatsächlichen Feststellungen hält (§ 163 SGG), so vermag es dessen rechtliche Schlußfolgerungen nicht zu entkräften. Es mag noch angehen, beim Kläger einen echten Rückkehrwillen bis zum Jahre 1939 anzunehmen, weil er damals noch die deutsche Staatsangehörigkeit besaß und bei Inländern ein Rückkehrwunsch in die Heimat nach dem Urteil des BSG vom 3. März 1960 (aaO) häufig unterstellt werden kann (unter Bezugnahme auf AN 1913, 735). Ob von einer echten Zwangslage, die einen Willen zur Rückkehr unmöglich machte, auch in der Zeit des 2. Weltkrieges - mit Rücksicht auf die besonderen Kriegsverhältnisse - gesprochen werden kann, kann dahingestellt bleiben. Es kann auch offengelassen werden, ob für den Kläger schon in den ersten Jahren nach Abschluß der Kriegshandlungen (1945) eine Rückkehr nach Deutschland möglich und zumutbar gewesen wäre.

Die bis dahin etwa bestehenden Hinderungsgründe sind aber seit der allgemeinen Besserung der Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik - also in der Zeit nach der Währungsreform des Jahres 1948 - weggefallen. Dem Kläger wäre jedenfalls im letzten Jahrzehnt vor der Rentenantragstellung eine Rückkehr - wenn er sie ernstlich beabsichtigt hätte - möglich und zumutbar gewesen. Der Kläger war zur Zeit der Währungsumstellung im Jahre 1948 54 Jahre alt. Als gelernter Schlosser hätte er damals noch mehrere Jahre lang in Deutschland in seinem Beruf weiterarbeiten können, dies muß umso mehr angenommen werden, als er anläßlich der ärztlichen Untersuchung für das Rentengutachten am 30. Mai 1960 angegeben hat, er sei in Argentinien bis 1955 in seinem Beruf beschäftigt gewesen, habe sich dann nicht aus Krankheitsgründen "pensionieren" lassen und habe anschließend noch bis August 1959 als Dreher weitergearbeitet. Aus gesundheitlichen Gründen ist somit eine Rückkehr nach Deutschland für ihn nicht unmöglich gewesen. Schließlich ist auch der Umstand, daß der Kläger die frühere freiwillige Versicherung in der Nachkriegszeit nicht mehr fortgesetzt hat, ein Indiz dafür, daß der Kläger auch nach Beendigung des 2. Weltkrieges nicht nur eine begrenzte Zeit im Ausland leben wollte. Vielmehr hat das LSG aus der ganzen Lebensgestaltung des Klägers zutreffend gefolgert, daß er den bereits seit dem Jahre 1923 in Argentinien geschaffenen und für die Dauer berechneten Lebenskreis auch nach dem 2. Weltkrieg bewußt fortgesetzt hat.

Das LSG hat auch nicht verkannt, daß der somit zumindest in dem letzten Jahrzehnt vor der Rentenantragstellung freiwillige Aufenthalt des Klägers in Argentinien nunmehr nach der Feststellung seiner Erwerbsunfähigkeit seit Februar 1960 zu einem unfreiwilligen werden konnte. Insoweit kann aber dahingestellt bleiben, ob die vom LSG allein angeführten Altersgründe eine Rückkehr nach Deutschland unmöglich machen. Freiwilliger Auslandsaufenthalt liegt nämlich auch dann vor, wenn die Rückkehr zwar unmöglich geworden ist, der Wille zur Rückkehr aber fehlt (RVA in AN 1914, 703). An diesem Erfordernis hat gerade die von der Revision genannte Entscheidung des BSG vom 3. März 1960 (aaO) ausdrücklich festgehalten. Danach muß anhand objektiver Hinweise und Umstände geklärt werden, ob der Berechtigte ohne Vorliegen einer echten Zwangslage überhaupt rückkehrwillig sein würde, wobei im Falle eines Ausländers ein strenger Maßstab anzulegen ist (BSG aaO, vgl. auch Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Band I, S. 294 d VI).

Im Gegensatz zu dem vom BSG im Urteil vom 3. März 1960 entschiedenen Fall bestehen hier aber - wie das LSG zutreffend festgestellt hat - keine Anhaltspunkte dafür, daß der Kläger nunmehr unter den Auswirkungen des fortgeschrittenen Alters, den bisher freiwilligen Entschluß, sein Leben in Argentinien zu verbringen, geändert hat und fortan willens wäre, nach Deutschland überzusiedeln, wenn er hieran nicht durch sein Alter und dessen Auswirkungen auf die Anforderungen des täglichen Lebens gehindert wäre. Eine solche Willensänderung könnte nur dann angenommen werden, wenn sie durch eine entsprechende objektive Handlungsweise des Klägers in irgendeiner Form bekundet worden wäre. Daran fehlt es aber.

Deswegen kann sich die Revision auch nicht auf die Entscheidung des BSG vom 3. März 1960 (aaO) berufen. Nach dem dortigen Sachverhalt versuchte der in Schweden lebende Kläger bei Verlegung seines Wohnsitzes nach Deutschland die ihm gewährte schwedische Staatspension und Werkspension auch in Deutschland ausgezahlt zu erhalten. Da ihm dies verweigert wurde, nahm das BSG eine wirkliche Zwangslage und auch einen echten Rückkehrwillen ohne Bestehen dieser Zwangslage an.

Im vorliegenden Fall sind ähnliche Argumente, die für eine Zwangslage sprechen, nicht vorgetragen worden. Auch sind entsprechende Bemühungen des Klägers, die einen echten Rückkehrwillen bei Wegfall einer hier ohnehin nur unterstellten Zwangslage rechtfertigen könnten, nicht ersichtlich. Der Kläger hat nur geäußert, sein sehnlichster Wunsch wäre noch eine Deutschlandreise und - sinngemäß - diese könnte er nur mit der ausgezahlten deutschen Rente finanzieren. Auch daraus erhellt, daß der Kläger ohne eine etwa bestehende Zwangslage im Sinne der Entscheidung des BSG (aaO) - verständlicherweise - nicht daran dächte, zu einem bleibenden Aufenthalt nach Deutschland zurückzukehren.

Auch unter Beachtung der in der Entscheidung des BSG vom 3. März 1960 aufgestellten Grundsätze hat somit das LSG die Freiwilligkeit des Auslandsaufenthalts für die Zeit der Rentengewährung zutreffend angenommen, ohne dabei die gesetzlichen Grenzen seines Rechts auf freie Beweiswürdigung überschritten zu haben (§ 128 Abs. 1 Satz 1 SGG).

Das Begehren der Revision auf Auszahlung der gewährten Rente kann aus diesen Gründen keinen Erfolg haben, ohne daß es auf die vom LSG nur vorsorglich gemachten Hinweise über die Höhe der Rente im - nicht gegebenen - Falle der Auszahlung noch ankommt. Auf die mit der Revision noch geltend gemachte Rüge der Verletzung des § 1319 RVO braucht daher nicht eingegangen zu werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1669977

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