Leitsatz (redaktionell)
Die Verweisung eines selbständigen Handwerksmeisters auf eine abhängige Beschäftigung ist selbst bei Bestehen einer Pflichtversicherung nach dem HVG bzw HwVG nicht ausgeschlossen, weil es - jedenfalls - seit Inkrafttreten der Rentenversicherungs- Neuregelungsgesetze einen "Gruppenschutz" nicht mehr gibt. Das Recht hat der gesamten wirtschaftlichen, technischen und sozialen Entwicklung zu folgen, die zunehmend zur Mobilität aller Arbeitenden tendiert. Die bei Feststellung der Berufsunfähigkeit notwendige "Berücksichtigung" des bisherigen Berufes bedeutet nicht zwingend, daß für die Frage der Berufsunfähigkeit ausschließlich auf die Berufsstellung eines selbständigen Handwerkers abgestellt wird.
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 10. Juli 1967 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
Zwischen den Beteiligten ist in erster Linie streitig, ob der Kläger, der zuletzt als selbständiger Schlossermeister tätig war, auf eine abhängige Beschäftigung verwiesen werden kann.
Entgegen der Auffassung der Beklagten haben die Vorinstanzen diese Frage verneint (Urteil des Sozialgerichts - SG - vom 5. Mai 1965, Urteil des Landessozialgerichts - LSG - vom 10. Juli 1967) und dem Kläger vom 1. Juli 1964 an die Berufsunfähigkeitsrente zugesprochen.
Nach den Feststellungen des LSG hat der Kläger in der Zeit von 1925 bis 1928 das Handwerk eines Eisendrehers erlernt. Er hat in diesem Beruf die Gesellenprüfung und im Jahre 1938 für das Maschinenbauhandwerk die Meisterprüfung abgelegt. In der Zeit von 1925 bis 1940 war er in der Arbeiterrentenversicherung und anschließend bis zu seiner Einberufung zum Wehrdienst im Jahre 1944 in der Angestelltenversicherung pflichtversichert. Nach Kriegsende arbeitete er als selbständiger Schlossermeister, seit 1946 ist er in der Handwerksrolle eingetragen. In der Folgezeit entrichtete er Beiträge zur Handwerkerversorgung.
Nach einem Unfall, den er im Jahre 1961 erlitten hatte, bewilligte ihm die Beklagte mit Wirkung vom 1. Dezember 1961 die Erwerbsunfähigkeitsrente. Mit Ablauf des Monats Juni 1963 wurde die Rente entzogen, weil die Unfallfolgen abgeklungen seien (Bescheid vom 20. Mai 1963).
Das LSG hat - in Übereinstimmung mit dem SG - den Kläger vom 1. Juli 1964 an für berufsunfähig gehalten und ihm demgemäß die Berufsunfähigkeitsrente zugesprochen. Es hat festgestellt, der Kläger könne die Leistungen, die von einem selbständigen Handwerksmeister verlangt würden, im Hinblick auf seinen schlechten Gesundheitszustand zum überwiegenden Teil nicht mehr erbringen. Auf eine abhängige Beschäftigung dürfe er aber im Hinblick auf seine Berufsausbildung und die bisher von ihm ausgeübte Tätigkeit nicht verwiesen werden. Ob es bei einem jüngeren Handwerksmeister anders sei, könne dahingestellt bleiben. Beim Kläger sei jedoch zu berücksichtigen, daß er im Juli 1964 bereits 53 Jahre alt und zuvor etwa 19 Jahre lang als selbständiger Handwerksmeister tätig gewesen sei.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die - zugelassene - Revision der Beklagten. Sie macht geltend, der Kläger könne auch auf eine abhängige Beschäftigung verwiesen werden.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage in vollem Umfang abzuweisen,
hilfsweise,
die angefochtene Entscheidung des LSG aufzuheben und den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Zur Begründung seines Antrags stützte er sich auf das angefochtene Urteil, das er für zutreffend hält.
Die Revision führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG. Die vorliegenden Tatsachenfeststellungen rechtfertigen es nicht, bei dem Kläger Berufsunfähigkeit anzunehmen. Das LSG hätte sich nicht damit begnügen dürfen festzustellen, daß der Kläger die Leistungen, die von einem selbständigen Handwerksmeister gefordert werden, zum überwiegenden Teil nicht mehr erbringen kann. Entgegen der Auffassung des LSG ist die Verweisung eines selbständigen Handwerksmeisters auf eine abhängige Beschäftigung in der Regel nicht ausgeschlossen. Dies hat das Bundessozialgericht (BSG) bereits mehrmals ausgesprochen (SozR § 1246 RVO Nrn. 69 und 70; vgl. auch BSG 22, 265 ff). Dort ist dargelegt, daß es in der gesetzlichen Rentenversicherung einen sog. "Gruppenschutz" in dem Sinne, wie er hier von den Vorinstanzen unterstellt worden ist, nicht, jedenfalls seit Inkrafttreten der Rentenversicherungs-Neuregelungsgesetze nicht mehr gibt. Nicht zuletzt ist zu beachten, daß das Recht der gesamten wirtschaftlichen, technischen und sozialen Entwicklung zu folgen hat, die zunehmend zur Mobilität aller Arbeitenden tendiert. Für selbständige Handwerksmeister kann nichts anderes gelten, gleichgültig, ob eine Pflichtversicherung nach dem Handwerkerversorgungsgesetz oder - seit dem 1. Januar 1962 - nach dem Handwerkerversicherungsgesetz besteht. Die "Berücksichtigung" des bisherigen Berufes, die nach beiden Gesetzen gefordert wird, bedeutet nicht notwendig, daß für die Frage der Berufsunfähigkeit ausschließlich auf die Berufsstellung eines selbständigen Handwerkers abgestellt wird.
Die aus dieser Rechtsprechung zu ziehende Schlußfolgerung, daß ein selbständiger Handwerksmeister grundsätzlich auch auf eine - ihm angemessene - abhängige Beschäftigung verwiesen werden kann, erlaubt es dem BSG nicht, in dem vorliegenden Fall in der Sache selbst zu entscheiden. Es fehlt insoweit an den erforderlichen Tatsachenfeststellungen, die zu treffen das LSG bei seiner sachlich-rechtlichen Auffassung keinen Anlaß hatte. Diese Feststellungen sind nachzuholen, der Rechtsstreit muß daher an das LSG zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes).
Die Kostenentscheidung bleibt der abschließenden Entscheidung des LSG vorbehalten.
Fundstellen