Leitsatz (amtlich)
Zur Frage der Verweisbarkeit eines selbständigen Handwerkers (Inhaberin einer Wäscherei) auf eine abhängige Beschäftigung (Leitung einer Wäscherei-Annahmestelle).
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 26. Oktober 1966 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die Klägerin erstrebt Rente wegen Berufsunfähigkeit.
Sie war seit ihrem 14. Lebensjahr als mithelfendes Familienmitglied im Heißmangelbetrieb ihrer Mutter tätig und erwarb sich darin die fachlichen Kenntnisse für die Arbeit einer Wäscherin und Plätterin. Eine Gesellen- oder Meisterprüfung hat sie nicht abgelegt. Nach dem Tode ihrer Mutter führte sie deren Betrieb weiter. Im Januar 1951 wurde sie auf Grund einer Ausnahmegenehmigung nach §§ 1, 3 des Niedersächsischen Gewerbezulassungsgesetzes vom 29. Dezember 1948 (GVOBl. S. 188) als Wäschereiinhaberin in die Handwerksrolle eingetragen. Von dieser Zeit bis April 1965 entrichtete sie Pflichtbeiträge zur Altersversorgung für das Deutsche Handwerk bzw. zur gesetzlichen Handwerkerversicherung. Das Finanzamt veranlagte sie in den Jahren 1960 bis 1963 mit gewerblichen Einkünften von - rund - 5800, 6900, 2600 und 1000 DM. Im Jahre 1964 beschäftigte die Klägerin noch drei, im Jahre 1965 noch zwei Mitarbeiterinnen. Seit Mai 1965 ist sie von der Versicherungspflicht in der Handwerkerversicherung befreit, weil ihre Wäscherei nur noch als handwerklicher Nebenbetrieb in der Handwerksrolle eingetragen ist (§ 2 Abs. 1 Nr. 1 des Handwerkerversicherungsgesetzes vom 8. September 1960).
Die Klägerin leidet schon jahrelang an einem Bronchialasthma mit spastischer Emphysembronchitis. Außerdem bestehen bei ihr eine Herzmuskelschädigung, eine Neigung zu leichtem Bluthochdruck, eine allgemeine nervöse Übererregbarkeit und eine Krampfaderbildung am rechten Unterschenkel.
Nachdem der Klägerin bereits mehrere Heilverfahren wegen des Bronchialasthmas gewährt worden waren, beantragte sie im Juni 1964 Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit. Die beklagte Landesversicherungsanstalt lehnte den Antrag durch Bescheid vom 15. Oktober 1964 ab, weil die Klägerin noch nicht berufsunfähig sei.
Auf die Klage hin hat das Sozialgericht Osnabrück die Beklagte am 12. August 1965 verurteilt, der Klägerin Rente wegen Berufsunfähigkeit vom 1. Juni 1964 an zu gewähren; es ist zu dem Ergebnis gelangt, die Klägerin könne allenfalls noch vier Stunden täglich leichte Arbeiten verrichten.
Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen hat im Berufungsverfahren weitere Beweise erhoben. Durch Urteil vom 26. Oktober 1966 hat es die erstinstanzliche Entscheidung aufgehoben und die Klage abgewiesen. Es hat ausgeführt: Im Vordergrund stehe das Bronchialasthma; es schränke die Atembreite und die mechanische Atemleistung ein und sei mit einer Neigung zu Luftröhrenkrämpfen verbunden, die durch Dämpfe und staubhaltige Luft sowie durch zu schwere körperliche Belastung ausgelöst werden könnten. Infolge der gestörten Lungenfunktion seien die rechten Herzkammern überlastet, die Herzmuskulatur geschädigt und die Leistungsfähigkeit des Herzens herabgesetzt. Da die Luftröhrenkrämpfe (Asthma-Anfälle) jedoch nach Häufigkeit und Schweregrad günstig beeinflußt werden könnten, wenn die als auslösende Faktoren in erster Linie in Betracht kommenden Umstände vermieden würden, sei die Klägerin - abgesehen von Zeiten vorübergehender Arbeitsunfähigkeit im Sinne der Krankenversicherung - nicht gehindert, wenigstens noch leichte Arbeiten ganztägig in geschlossenen, staubfreien Räumen unter Schutz vor Nässe, Kälte und Einwirkung von Dämpfen zu verrichten. Von den sonstigen Gesundheitsschäden der Klägerin schränkten nur die Blutumlaufstörungen am rechten Unterschenkel ihr Leistungsvermögen zusätzlich ein; deshalb müsse sie ein ständiges Stehen vermeiden. Mit dem beschriebenen Leistungsvermögen könne die Klägerin zwar nicht mehr als Wäscherin und Plätterin in ihrem eigenen oder in einem fremden Betrieb arbeiten; sie könne aber noch ganztägig als Filialleiterin in Wäschereifilialen oder als Kassiererin, Karteiführerin oder Registraturgehilfin erwerbstätig sein und damit noch die Hälfte und mehr des für sie maßgebenden Vergleichslohns einer gesunden Wäschereiinhaberin mit einem Betrieb vergleichbarer Größe verdienen. Die geistige Befähigung für Arbeiten der genannten Art besitze die Klägerin. - Ihr sei auch zumindest die Tätigkeit einer Filialleiterin zuzumuten. Diese entspreche in der sozialen Wertung der einer gelernten Wäscherin und Plätterin. Gleiches gelte für die übrigen genannten Arbeiten. Die Tatsache, daß die Klägerin bisher selbständige Wäschereiinhaberin sei, schließe eine Verweisung auf abhängige Beschäftigungen nicht aus, sofern damit kein wesentlicher sozialer Abstieg verbunden sei. Dies gelte um so mehr, als die Klägerin den Beruf einer Wäscherin und Plätterin nicht in einem Lehrverhältnis erlernt, keine Prüfung abgelegt habe und ihr Handwerksbetrieb verhältnismäßig klein sei. - Für Arbeiten der angeführten Art gebe es auch Arbeitsplätze in nennenswerter Zahl, zumal sich die Klägerin auf Arbeitsplätze in der ganzen Bundesrepublik verweisen lassen müsse.
Das Landessozialgericht hat die Revision zugelassen.
Die Klägerin hat das Rechtsmittel eingelegt und zu seiner Begründung im wesentlichen vorgetragen: Als Inhaberin eines - wenn auch kleinen - Handwerksbetriebes dürfe sie nicht auf unselbständige Arbeiten verwiesen werden. Es sei auch unerheblich, ob ein selbständiger Handwerker die Gewerbeberechtigung auf Grund einer Meisterprüfung oder auf andere Weise erworben habe. Jedenfalls aber seien ihr Arbeiten als Filialleiterin, Kassiererin, Karteiführerin und Registraturgehilfin unzumutbar, weil sie von untergeordneter Bedeutung seien.
Die Klägerin beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie pflichtet dem angefochtenen Urteil bei.
Die Revision ist unbegründet. Das LSG hat die Klägerin mit Recht nicht als berufsunfähig i.S. des § 1246 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) angesehen. Sie ist allerdings nach den vom Berufungsgericht getroffenen und von der Beklagten nicht angegriffenen Feststellungen infolge von Krankheit nicht mehr in der Lage, in ihrem bisherigen Beruf als Wäscherin und Plätterin zu arbeiten, auch nicht in ihrem eigenen Betrieb. Sie kann aber noch mindestens die Hälfte des für sie maßgebenden Vergleichslohnes einer gesunden Wäschereiinhaberin mit einem Betrieb vergleichbarer Größe durch Ausübung einer anderen, ihr zumutbaren Tätigkeit erzielen, nämlich jedenfalls durch die Leitung einer "Wäschereifiliale", womit vom LSG offensichtlich die Annahmestelle einer Wäscherei gemeint ist.
Die von der Klägerin gegen ihre Verweisbarkeit auf eine solche Beschäftigung erhobenen rechtlichen Bedenken sind unbegründet. Dies gilt vor allem für die Frage der Verweisbarkeit eines selbständigen Handwerkers auf eine unselbständige Arbeit. Wie der erkennende Senat bereits in seinem Urteil vom 24. Februar 1965 (BSG 22, 265, 267 = SozR Nr. 45 zu § 1246 RVO) ausgeführt hat, spricht schon der Wortlaut des § 1246 Abs. 2 RVO dafür, daß für die Bestimmung des zumutbaren Arbeitsfeldes, auf das verwiesen werden kann, alle Tätigkeiten in Betracht kommen, also jede Art von Erwerbsarbeit, eine in persönlicher und wirtschaftlicher Abhängigkeit verrichtete ebenso wie eine selbständige. Der Bereich der zumutbaren Tätigkeiten ist nicht von vornherein in der Weise eingeschränkt, daß ein Versicherter einer bestimmten sozialen Gruppe - selbständiger Handwerker, Angestellter, Arbeiter - nicht auf Tätigkeiten einer anderen Gruppe verwiesen werden kann. Diesen Gedankengängen entspricht es, daß der 1. Senat bereits in einem Urteil vom 29. Juli 1958 einen zuletzt in Mitteldeutschland als Inhaber eines Fuhrunternehmens Versicherten, dessen Versicherungszeiten nach § 4 Abs. 2 Satz 2 des Fremdrenten- und Auslandsrentengesetzes vom 7. August 1953 anzurechnen waren, als auf Beschäftigungen in abhängiger Stellung verweisbar erklärt hat (BSG 8, 31). Auf der gleichen Linie liegen Entscheidungen des Bundessozialgerichts, welche die Verweisbarkeit eines selbständigen Selbstversicherten auf unselbständige Arbeiten zulassen (SozR Nrn. 60 und 64 zu § 1246 RVO). Gegen einen "Gruppenschutz" in der gesetzlichen Rentenversicherung hat der 11. Senat in seinem - die Verweisbarkeit eines in der Handwerkerversicherung versicherten Schuhmachermeisters betreffenden - Urteil vom 28. Mai 1968 - 11 RA 29/66 - angeführt, daß die gesamte wirtschaftliche, technische und soziale Entwicklung zunehmend zur "Mobilität" aller Arbeitenden tendiere. In Übereinstimmung mit diesen Entscheidungen trägt der erkennende Senat keine Bedenken, die Rechtsauffassung des Berufungsgerichts zu billigen, daß ein bisher selbständiger Handwerker grundsätzlich auch auf Arbeiten in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis verwiesen werden kann.
Bei der Beurteilung, auf welche unselbständigen Tätigkeiten die Klägerin verweisbar ist, kommt es nach dem Gesetz auf die Dauer und den Umfang ihrer Ausbildung, auf ihren bisherigen Beruf und auf die besonderen Anforderungen der bisherigen Berufstätigkeit an. Das hat das LSG nicht verkannt. Die Klägerin hat einerseits keine herkömmliche Lehrzeit zurückgelegt und sich keiner Prüfung unterzogen, andererseits aber in jahrzehntelanger Tätigkeit fachliche Kenntnisse als Wäscherin und Plätterin erworben, die der zuständigen Verwaltungsbehörde ausgereicht haben, um ihr eine Ausnahmegenehmigung zur Eintragung als Wäschereiinhaberin in die Handwerksrolle zu erteilen. Sie ist deshalb einem gelernten Handwerker ihrer Fachrichtung gleichzustellen (vgl. BSG SozR Nr. 5 zu § 46 RKG), ohne indessen notwendigerweise eine - einem Handwerksmeister, Werkmeister oder Polier vergleichbare - gehobene Stellung einzunehmen.
Die Verweisung der Klägerin auf die Leitung einer Wäscherei-Annahmestelle ist nicht deshalb unzulässig, weil es sich bei dieser Arbeit nicht um einen anerkannten Anlernberuf - mit einer ein - bis zweijährigen Anlernzeit - handelt (vgl. BSG 19, 57). Ein gelernter Arbeiter darf allerdings regelmäßig nicht auf Hilfsarbeiten verwiesen werden, weil damit ein wesentlicher sozialer Abstieg verbunden sein kann. Ausnahmen hat die Rechtsprechung jedoch zugelassen, wenn Verweisungen auf besondere, aus dem Kreis der sonstigen ungelernten Tätigkeiten deutlich hervorgehobene Arbeiten in Betracht kamen (BSG SozR Nr. 4 zu § 1246 RVO und BSG 19, 57). Um einen solchen Ausnahmefall handelt es sich bei der der Klägerin angesonnenen Leitung einer Wäscherei-Annahmestelle. Für die soziale Einschätzung dieser Tätigkeit ist bereits kennzeichnend, daß sie - nach der vom LSG in Bezug genommenen Beweiserhebung - nicht unwesentliche Fachkenntnisse voraussetzt. Von Arbeiten einfacher Art unterscheidet sich diese ferner dadurch, daß sie im Hinblick auf die mit ihr verbundene Kassenführung als Vertrauensstellung zu bezeichnen ist und außerdem Weisungsbefugnisse gegenüber den der Leiterin zugeteilten Hilfskräften umfaßt.
Der Verweisung der Klägerin auf die genannte Tätigkeit steht nicht entgegen, daß es an ihrem Wohnort, an den ihr Ehemann wegen seiner Berufsausübung gebunden ist, keine solche Arbeitsgelegenheit geben mag. Für diesen Fall muß sich die Klägerin - nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - auch auf eine erst nach einem Wohnsitzwechsel nutzbare Arbeitsgelegenheit verweisen lassen; denn Krankheit oder Gebrechen, die allein nach § 1246 Abs. 2 RVO von rechtlicher Bedeutung wären, machen - nach den getroffenen Feststellungen - einen Wohnsitzwechsel der Klägerin nicht unmöglich (vgl. BSG SozR Nrn. 21 und 41 zu § 1246 RVO; 4 RJ 243/60 vom 2. Dezember 1964).
Die hiernach unbegründete Revision muß zurückgewiesen werden (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).
Die Kostenentscheidung ergeht in entsprechender Anwendung des § 193 Abs. 1 und 4 SGG.
Fundstellen