Leitsatz (redaktionell)
Auch ein selbständiger Malermeister kann im Rahmen des RVO § 1246 auf eine abhängige Beschäftigung verwiesen werden, der er nach seinen körperlichen und geistigen Fähigkeiten gewachsen ist und die ihm unter Berücksichtigung seiner sozialen Stellung zuzumuten ist.
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 6. Oktober 1966 aufgehoben.
Soweit die Beklagte zur Gewährung einer Rente wegen Berufsunfähigkeit vom 1. Juni 1964 bis zum 18. Juni 1965 verurteilt worden ist, wird auch das Urteil des Sozialgerichts vom 27. Oktober 1965 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Der Kläger, der eine Rente wegen Berufsunfähigkeit erstrebt, streitet mit der Beklagten darüber, ob er als bisher selbständiger Malermeister auf abhängige Beschäftigungen verwiesen werden kann.
Der Kläger ist nach einer Malerlehre von 1924 bis 1927 anschließend bis 1942 als Malergeselle tätig gewesen. Nach kriegsbedingter Berufsunterbrechung ist er von 1947 an selbständiger Malermeister gewesen, als solcher ist er in der Handwerksrolle eingetragen gewesen und hat entweder einen Gesellen oder einen Lehrling - selten einen Gesellen und einen Lehrling - beschäftigt. Bis Dezember 1961 hat er Beiträge zur Handwerkerversorgung entrichtet (die nach § 8 Abs. 1 Satz 1 des Handwerkerversicherungsgesetzes - HwVG - als Beiträge zur Rentenversicherung der Arbeiter gelten); danach war er versicherungsfrei. Wegen der Folgen einer Wehrdienstbeschädigung - Amputation des linken Unterschenkels, Verschlechterung der Stumpfverhältnisse mit chronisch-ekzematösen Veränderungen am Stumpfende, die das Tragen der Prothese zeitweilig unmöglich machen - bezieht er eine Rente aus der Kriegsopferversorgung für eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 60 v. H. Zudem leidet er an einem beginnenden Lungenemphysem, geringgradiger Herzinsuffizienz und Arthrosis deformans beider Kniegelenke.
Nachdem die Beklagte den Antrag des Klägers, ihm Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit zu gewähren, abgelehnt hatte, weil der Kläger noch nicht berufsunfähig sei (Bescheid vom 12. November 1963), hat das Sozialgericht (SG) die Beklagte verurteilt, ihm Rente wegen Berufsunfähigkeit vom 1. Juni 1964 ab zu gewähren (Urteil vom 27. Oktober 1965). Die Berufung der Beklagten ist erfolglos geblieben (Urteil vom 6. Oktober 1966). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat gegen dieses Urteil Revision eingelegt. Sie rügt Verletzung der §§ 1241, 1242, 1246 der Reichsversicherungsordnung (RVO) und der §§ 103, 128 des Sozialgerichtsgesetzes.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG vom 6. Oktober 1966 aufzuheben und, soweit die Beklagte zur Gewährung einer Rente wegen Berufsunfähigkeit vom 1. Juni 1964 bis 18. Juni 1965 verurteilt worden ist, auch das Urteil des SG vom 27. Oktober 1965 aufzuheben und die Klage abzuweisen, im übrigen die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision der Beklagten insoweit als unbegründet zurückzuweisen, als sie eine Verletzung des § 1246 RVO und der §§ 103, 128 SGG rügt.
II
Die Revision der Beklagten ist begründet, und zwar zunächst schon deshalb, weil die Vorschriften der §§ 1241, 1242 RVO verletzt sind. Der Kläger hat während des Heilverfahrens vom 23. April 1965 bis zum 18. Juni 1965 Übergangsgeld bezogen, ohne daß zuvor eine Rente bewilligt worden war. Frühester Rentenbeginn könnte daher erst der 19. Juni 1965 sein. Für den davor liegenden Zeitraum vom 1. Juni 1964 (Beginn der Rente nach dem Urteil des SG) bis zum Beginn der Heilbehandlung kommt nach § 1241 Abs. 1 Satz 1 und 2 und § 1242 RVO lediglich ein Anspruch auf Übergangsgeld in Betracht, nicht aber ein solcher auf Rente wegen Berufsunfähigkeit. Soweit die Urteile des SG und des LSG dies aussprechen, sind sie aufzuheben.
Auch die Rüge der Verletzung von § 1246 RVO hat Erfolg. Nach den unangefochtenen und daher den Senat bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) kann der Kläger aus Gesundheitsgründen nicht mehr als selbständiger Malermeister tätig sein. Soweit das Berufungsgericht es weiter nicht für möglich hält, den Kläger auch auf eine abhängige Beschäftigung zu verweisen, weil Gegenstand seiner Versicherung die Risiken der selbständigen Tätigkeit und nicht diejenigen einer abhängigen Beschäftigung seien, kann ihm hierin nicht gefolgt werden.
Die einzelnen Versicherungszweige der Rentenversicherung sind nicht mehr unter dem Gesichtspunkt des Schutzes bestimmter Gruppen oder Klassen (Arbeiter, Angestellte, pflichtversicherte Selbständige) zu betrachten. Für die Versicherungspflicht ist allein entscheidend die soziale Schutzbedürftigkeit. Das Schutzbedürfnis des Versicherten hat der Gesetzgeber ohne Rücksicht auf die Zugehörigkeit zu einer bestimmten berufsständischen Gruppe nach wirtschaftlichen und rechtspolitischen Gesichtspunkten angenommen. Da die soziale Schutzbedürftigkeit nicht durch den Grundgedanken eines Gruppenschutzes bestimmt wird, kann dieser auch nicht für den Verweisungsberuf maßgebend sein. Die Auflockerung der alten Berufsbilder sowie die gesamte wirtschaftliche, technische und soziale Entwicklung führt zur "Mobilität" aller Arbeitenden (Bericht für den Kongreß der internationalen Vereinigung für sozialen Fortschritt vom April 1967, Sozialer Fortschritt 1967, 180 ff). Die Grenzen sowohl innerhalb der einzelnen Handwerksberufe als auch zwischen den Handwerksberufen und anderen Beschäftigungen sind fließend.
Dieser Entwicklung im Tatsächlichen und Rechtlichen hat die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) Rechnung getragen: Die Tatsache, daß ein Handwerker einen Betrieb selbständig als Meister geführt hat und nach dem Handwerkerversorgungsgesetz (HVG) vom 21. Dezember 1938 versicherungspflichtig gewesen ist, schließt nicht aus, ihn auf eine abhängige Beschäftigung zu verweisen, der er nach seinen körperlichen und geistigen Kräften und Fähigkeiten gewachsen ist und die ihm unter Berücksichtigung seiner sozialen Stellung zuzumuten ist. Für die selbständigen Handwerker gelten nach § 1 Abs. 5 HwVG unmittelbar die Vorschriften der Rentenversicherung der Arbeiter für die nach § 1227 Abs. 1 Nr. 3 und 4 RVO versicherungspflichtigen Personen einschließlich derjenigen Vorschriften, die das Recht der Rentenversicherung der Arbeiter ändern oder ergänzen. Danach gelten aber auch bei der Beurteilung der Verweisbarkeit keine engeren Grenzen als die in den Rentenversicherungsgesetzen selbst enthaltenen. Die Eigenart selbständiger handwerklicher Berufsausübung muß im Rahmen von § 1246 RVO als "bisheriger Beruf" und als Kriterium für den "Verweisungsberuf" berücksichtigt werden, was aber nicht so aufgefaßt werden kann, daß damit der Schutz des "Berufsstandes" als Handwerker gemeint ist. Soweit das LSG glaubt, für seine entgegenstehende Auffassung hier die Entscheidung des 4. Senats vom 24.2.1965 - 4 RJ 29/63 - (BSG 22, 265) heranziehen zu können, kann es sich hierauf nicht mit Erfolg berufen, denn dort ist ausdrücklich die historische Entwicklung dargestellt worden, die in der Sozialversicherung dazu geführt hat, die Grenzen zwischen selbständigen und unselbständigen Tätigkeiten aufzulösen (RVA AN 1906, 637; BSG S, 31; Urteil vom 26. Februar 1958 - 1 RA 63/57 -; BSG 19, 147). Bei der Abgrenzung des Kreises zumutbarer Tätigkeiten hat in der Vergangenheit zwar der Gedanke mitgespielt, daß in der Arbeiterrentenversicherung eine bestimmte soziale Gruppe zur Sicherung gegen Notfälle des Lebens zusammengefaßt wird. Dies mag früher einmal in Anbetracht der Verschiedenheiten der einzelnen Versicherungszweige innerhalb der Rentenversicherung eine gewisse Berechtigung gehabt haben. Die Grundzüge der heutigen sozialen Rentenversicherung sind damit aber nicht mehr vereinbar. Denn nicht die Wahrnehmung von Gruppen- oder Klasseninteressen, sondern die soziale Schutzbedürftigkeit entscheidet darüber, ob der Gesetzgeber die Teilnahme an der sozialen Rentenversicherung verfügt. Dies ist in der Rechtsprechung des BSG mehrfach ausgesprochen worden (vgl. Urteil vom 27. Juni 1967 - 11 RA 96/65 - unveröffentlicht - betrifft einen Fall der Selbstversicherung einer Landwirtin; Urteil vom 28. Mai 1968 - 11 RA 29/66 - SozR zu § 1246 RVO Nr. 69; Urteil vom 29. Mai 1968 - 4 RJ 1/67 - SozR zu § 1246 RVO Nr. 70; Urteil vom 28. Januar 1970 - 4 RJ 449/67 - unveröffentlicht). Der erkennende Senat folgt dieser Rechtsprechung. Dies bedeutet, daß der Kläger nicht allein schon deshalb berufsunfähig ist, weil er nach den insoweit nicht angegriffenen Feststellungen des LSG nicht mehr in der Lage ist, selbständig seinen Kleinbetrieb als Malermeister fortzuführen. Da der Kläger auch auf eine ihm zumutbare abhängige Tätigkeit verwiesen werden kann und es insoweit an den erforderlichen Tatsachenfeststellungen, die zu treffen das LSG bei seiner sachlich-rechtlichen Auffassung keinen Anlaß hatte, fehlt, ist es dem erkennenden Senat verwehrt, im vorliegenden Fall in der Sache selbst zu entscheiden. Diese Feststellungen, die sich an dem Inhalt des Beschlusses des Großen Senats des BSG vom 11. Dezember 1969 - GS 4/68 - zu orientieren haben werden, sind vom LSG nachzuholen. Der Rechtsstreit muß daher an das LSG zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG). Bei seinen nunmehrigen Ermittlungen wird das LSG sein Augenmerk auch darauf richten müssen, ob der Kläger seit der Eröffnung des selbständigen Malerbetriebs jemals tatsächlich den körperlichen Anforderungen seines Berufs gewachsen war, ob er also seit 1947 überhaupt berufsfähig gewesen ist.
Wegen der völligen Aufhebung des angefochtenen Urteils und der Zurückverweisung zu neuer Verhandlung und Entscheidung, wovon sämtliche Feststellungen des Berufungsurteils erfaßt werden, erübrigt es sich, auf die Rügen der Verletzung der Verfahrensvorschriften der §§ 103, 128 SGG einzugehen.
Die Entscheidung darüber, inwieweit die Beteiligten einander außergerichtliche Kosten des Verfahrens zu erstatten haben, bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen