Leitsatz (amtlich)
Gröbliche Pflichtverletzung, die nach RVO § 368a Abs 6 rechtliche Voraussetzung für eine Ermessensentscheidung über die Entziehung der Zulassung als Kassenarzt ist, erfordert kein individuelles Verschulden iS eines vorwerfbaren Verhaltens. Die Frage individuellen Verschuldens ist vielmehr bei der Ermessensentscheidung über die Entziehung der Zulassung zu berücksichtigen.
Normenkette
RVO § 368a Abs. 6 Fassung: 1955-08-17; GG Art. 12 Abs. 1 Fassung: 1956-03-19
Tenor
Auf die Revision des Beklagten und der Beigeladenen werden das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 3. März 1961 und das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 9. September 1959 aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Die Beteiligten haben einander keine außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I.
Die im Jahre 1904 geborene Klägerin wurde 1933 als Zahnärztin approbiert, sie übte seitdem in Berlin ihre Praxis aus. Im Jahre 1936 wurde sie zur Kassenzahnarztpraxis zugelassen. Der Prüfungsausschuß der beigeladenen Kassenzahnärztlichen Vereinigung beanstandete ihre Behandlungsweise in der Zeit vom 3. Vierteljahr 1955 bis zum 2. Vierteljahr 1956, sie habe Leistungen doppelt berechnet und auch keine Karteiblätter geführt. Im Bescheid vom 8. Januar 1957 stellte er fest:
1. die Klägerin habe seit Jahren keine Kartei geführt oder sonstige Aufzeichnungen über ihre Leistungen gefertigt;
2. bei 15 nachuntersuchten Patienten seien folgende berechneten Leistungen nicht vorgefunden worden: 37 Füllungen ohne Vorbehandlung, 2 Füllungen mit Vorbehandlung, 10 Silikatzuschläge, 9 Extraktionen, 1 Vorbehandlung, 2 Leitungsanästhesien.
3. In zahlreichen Fällen seien in anderen als "abgerechneten Zähnen" vorgefundene Füllungen trotz starker Bedenken als Verwechslungsmöglichkeiten anerkannt worden.
4. Elf Füllungen wurden als fachlich unzureichend - wieder herausgefallene Füllungen oder neue Karies - bezeichnet.
5. Nur ein Fall bei 25 Nachuntersuchungen sei ohne Beanstandung gewesen.
Der Prüfungsausschuß kürzte die Abrechnung der Klägerin um 1.172,65 DM. Die Klägerin legte dagegen Beschwerde ein, nahm sie aber dann zurück.
Auf Antrag der Krankenversicherungsanstalt Berlin - jetzt AOK - entzog der Zulassungsausschuß für Kassenzahnärzte am 18. Juni 1958 der Klägerin wegen gröblicher Pflichtverletzung in den Jahren 1955/1956 die Zulassung zur kassenzahnärztlichen Tätigkeit nach § 368 a Abs. 6 Reichsversicherungsordnung (RVO) in Verbindung mit § 27 der Zulassungsordnung für Kassenzahnärzte vom 28. Mai 1957 (ZOZ), denn das Ergebnis der Nachuntersuchungen und die Nichtführung einer Kartei zeigten, daß sie ihre kassenzahnärztlichen Pflichten gröblich verletzt habe. Die Klägerin stellte die Richtigkeit der Beanstandungen nicht in Abrede, sie machte jedoch mit der Berufung geltend, früher habe sie immer eine Kartei geführt, dann sei sie wiederholt schwer krank gewesen und habe an den Folgen einer epidemischen Gelbsucht gelitten. Ihre im gemeinsamen Haushalt lebende Mutter und ihren 84 Jahre alten Vater habe sie betreuen müssen. Ihre Mutter sei gebrechlich und pflegebedürftig gewesen, habe mehrere Schlaganfälle erlitten und sei im Oktober 1955 gestorben. Diese körperlichen und seelischen Belastungen hätten zu einem Kräfteverschleiß ihrer ohnehin geschwächten Gesundheit geführt, so daß sie in jener Zeit nicht zur Führung der Kartei gekommen sei. Einen nach Tarif zu bezahlenden Vertreter oder eine Helferin habe sie nicht beschäftigen können. Die Behandlungen habe sie vorerst nur auf den Krankenscheinen vermerkt und später nach dem Gedächtnis eingetragen. Da ihr Bestellbuch durch Wassereinwirkung schadhaft geworden sei, habe sie es vernichtet. Nur weil sie in Beweisnot gewesen sei, habe sie das Prüfungsergebnis gegen sich gelten lassen. - Der Berufungsausschuß hielt die Entziehung der Zulassung trotz des Vorbringens der Klägerin wegen des Ausmaßes der festgestellten Verstöße für geboten und wies ihre Berufung durch den Bescheid vom 27. Oktober 1958 zurück. Wenn Krankheit oder seelische Not die Ursache der Pflichtverletzung gewesen seien, so hätte die Klägerin einen Vertreter bestellen oder die Praxis schließen müssen. Gröbliche Pflichtverletzung sei nicht mit der Frage des Verschuldens in Verbindung zu bringen. Eine Entziehung der Zulassung auf Zeit sei nach der ZOZ nicht mehr zulässig.
Das Sozialgericht hat durch Urteil vom 9. September 1959 die Bescheide des Zulassungsausschusses und des Berufungsausschusses als unvollständig insoweit aufgehoben, als die Frage der "Entziehung der Zulassung auf Zeit" ungeprüft geblieben ist. Im übrigen hat es die Klage abgewiesen, weil gröbliche Pflichtverletzung vorliege. Es könne dahinstehen, ob ein Verschulden zur Erfüllung des Tatbestands der gröblichen Pflichtverletzung erforderlich sei. Die mißlichen Familienverhältnisse der Klägerin könnten die Gröblichkeit der Pflichtverletzung nicht ausschließen. Die Zulassungsinstanzen hätten jedoch ihr Ermessen nicht richtig ausgeübt, weil sie davon ausgegangen seien, es könne nur unbefristet entzogen oder von der Entziehung abgesehen werden.
Gegen dieses Urteil haben sowohl die Klägerin als auch der beklagte Berufungsausschuß Berufung eingelegt; die Klägerin, weil das Sozialgericht ihre persönlichen Verhältnisse nicht zutreffend gewürdigt habe, der Beklagte, weil das Sozialgericht eine Entziehung der Zulassung auf Zeit für möglich halte, auch subjektive Momente, Entschuldigungsgründe, könnten eine Entziehung der Zulassung auf Zeit nicht rechtfertigen.
Auf die Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 3. März 1961 das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 9. September 1959 und den Bescheid des Zulassungsausschusses vom 27. Februar 1958 in der Fassung des Bescheides des Berufungsausschusses vom 27. Oktober 1958 aufgehoben. Die Berufung des Beklagten hat es zurückgewiesen und dem Beklagten auferlegt, der Klägerin die außergerichtlichen Kosten zu erstatten; die Revision hat es zugelassen.
Das LSG ist davon ausgegangen, daß die Pflichtverletzungen, die vor dem Inkrafttreten der ZOZ (1. Juni 1957) in den Vierteljahren III/1955 bis II/1956 begangen sind, nach der ZOZ und nach § 368 a Abs. 6 RVO beurteilt werden müssen; kassenärztliche Pflichten seien dann gröblich verletzt, wenn dadurch die Ordnung des Kassenzahnarztrechts schwer gestört und eine weitere Zusammenarbeit mit dem Kassenzahnarzt unerträglich geworden ist. Zu diesen Pflichten gehörten wahrheitsgemäße Abrechnung und Karteiführung als Voraussetzung einer geordneten Verteilung der Gesamtvergütung. Das LSG hat derartige Pflichtverletzungen festgestellt, denn die Klägerin habe in der fraglichen Zeit keine Kartei geführt und in 15 nachuntersuchten Fällen nicht erbrachte Leistungen abgerechnet; 11 Füllungen seien fachlich unzureichend gewesen. Bisher habe die Verhältnismäßigkeit zwischen den als gröblich gewerteten Pflichtverletzungen und der Entziehung nach § 25 Abs. 3 der Berliner Zulassungsordnung von 1951 dadurch gewahrt werden können, daß an Stelle einer Entziehung der Zulassung die Befugnis zur Ausübung der Praxis auf bestimmte Zeit entzogen worden sei, nach deren Ablauf die Ausübung der Praxis habe fortgesetzt werden können. Da der nunmehr anzuwendende § 368 a Abs. 6 RVO eine Entziehung auf Zeit nicht mehr zulasse, so wahre das Gesetz den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Mittel durch die Bestimmung, daß die Pflichtverletzung "gröblich" sein müsse. Die unbefristete Entziehung der Zulassung müsse das "den Verhältnissen gerecht werdende Mittel" sein, sonst stünden Pflichtverletzung und Folge zueinander in einem unangemessenen Verhältnis. Da die Entziehung schwerwiegende Folgen habe, verfassungsrechtlich geschützte Grundrechte einschränke, die Kassenpraxis und damit die Grundlage der wirtschaftlichen Existenz zerstöre und insbesondere einen Eingriff in das durch Art. 12 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) geschützte Grundrecht der Berufsfreiheit enthalte, habe der Senat die Rechtslage im Hinblick auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungswidrigkeit des § 368 a Abs. 1 Satz 1 RVO geprüft; diese Entscheidung berühre zwar nicht unmittelbar § 368 a Abs. 6 RVO, enthalte jedoch allgemeine Grundsätze, die auch im Entziehungsrecht, besonders bei der Auslegung des Begriffs der gröblichen Pflichtverletzung zu beachten seien. Daher sei Abs. 6 des § 368 a RVO so auszulegen, "daß er sich in den verfassungsrechtlichen Grenzen der Art. 12 und 14 GG hält". Die Kassenzahnarzttätigkeit sei eine Form der Ausübung des Berufs eines freipraktizierenden Zahnarztes, der diesen Beruf wirtschaftlich gesehen ohne Kassenzulassung nicht erfolgreich ausüben könne. Art. 12 Abs. 1 GG schließe eine Entziehung der Zulassung wegen gröblicher Pflichtverletzung nicht aus, weil das Gesetz die Freiheit der Berufsausübung zum Schutze der Allgemeinheit einschränken dürfe. Je einschneidender aber die Berufsausübung gesetzlich beengt werde, desto höher müßten - wie das Bundesverfassungsgericht dargelegt habe - die Anforderungen an die Dringlichkeit der öffentlichen Interessen sein, die zur Rechtfertigung solcher Beendung ins Feld geführt werden. Die Entziehung führe zu einem tiefen Eingriff in Eigentum und Berufsausübung. Sie sei nur gerechtfertigt, wenn sie durch besonders wichtige dringende Interessen der Allgemeinheit erforderlich werde, die nicht anders geschützt werden könnten. Der Eingriff werde erst notwendig, wenn keine anderen Mittel ausreichten, die kassenzahnärztliche Versorgung sicherzustellen, erst dann sei die Pflichtverletzung gröblich. Der Einwand, der Zahnarzt, dessen Zulassung entzogen sei, könne seine Wiederzulassung beantragen, dürfe nicht dazu führen, geringere Anforderungen an die Entziehungsvoraussetzungen zu stellen. Der Zulassungsausschuß könne die Zulassung erst dann entziehen, wenn die disziplinare Befugnis nicht ausreiche, die geordnete kassenzahnärztliche Versorgung sicherzustellen, wenn auch Entziehung und Disziplinarmaßnahmen rechtlich verschiedene, voneinander unabhängige Verwaltungsmittel zur Sicherstellung der kassenzahnärztlichen Versorgung seien. Die Verwaltung müsse das mildeste Erfolg versprechende Mittel wählen. Allein die Ungeeignetheit des Zahnarztes zum Kassenzahnarzt könne es rechtfertigen, den Versicherten den von ihnen zur Behandlung gewählten Arzt zu entziehen. Bei Würdigung dieser Grundsätze könnten die festgestellten Pflichtverletzungen nicht gröblich im Sinne des § 368 a Abs. 6 RVO sein, denn die Klägerin sei nicht unfähig, die kassenzahnärztliche Ordnung einzuhalten, wie sie jahrelang während der Fortführung der Kassenpraxis nach Erlaß des bisher nicht vollstreckten Entziehungsbescheides bewiesen habe. Nur während der Zeit außerordentlicher persönlicher Belastungen habe sie ihre Pflichten verletzt. Wenn es auch auf ein Verschulden im technischen Sinne nicht ankomme, so könnten doch subjektive Gesichtspunkte bei der Bewertung berücksichtigt werden, nämlich Krankheit, körperliche und seelische Belastungen durch familiäre Verhältnisse, - Umstände, die von dem Beklagten nicht bestritten worden seien, die die wesentliche Ursache für die Nichterfüllung der Pflichten und für ihre vorübergehende Unfähigkeit, sie zu erfüllen, gewesen seien. Somit seien die Verstöße nicht so schwerwiegend, daß sie als gröblich im Sinne des § 368 Abs. 6 RVO zu werten seien. Damit entfalle die Voraussetzung für die Entziehung der Zulassung zur Kassenpraxis, so daß die Verwaltungsakte aufzuheben und die Berufung des Beklagten also unbegründet sei.
Der Beklagte und die beigeladene Ortskrankenkasse haben gegen das Urteil des LSG fristgerecht Revision eingelegt und sie rechtzeitig begründet. Sie haben beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Beklagte rügt, das angefochtene Urteil verletze die Vorschriften der §§ 368 a Abs. 6 RVO, 27 ZOZ und Art. 12 GG, es verkenne die Grundsätze des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 23. März 1960 (BVerfG 11, 30) und wende sie rechtsirrig auf den Begriff "gröbliche Pflichtverletzung" an. Bei der Inhaltsbestimmung dieses Begriffs sei die objektive Interessenlage entscheidend. Die Existenzbedrohung des Kassenarztes dürfe nicht höher als die Sicherstellung kassenzahnärztlicher Versorgung gewertet werden; die Interessen der Allgemeinheit könnten wirksam nur durch Entziehung der Zulassung geschützt werden. Das LSG berufe sich zu Unrecht auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 23. März 1960, das sich nicht mit Gründen, die in der Person des Arztes liegen, und nicht mit der Entziehung der Zulassung befasse. Eine "Verletzung" der Grundrechte liege nicht vor, weil der Wesensgehalt der Grundrechte durch Berufsvoraussetzungen und Berufsausübungserfordernisse nicht angetastet werde. Die Klägerin zeige durch die Nichterfüllung ihrer kassenzahnärztlichen Pflichten ihre Ungeeignetheit und zerstöre die zwischen Kassenzahnarzt und Versicherungsträger notwendige Vertrauensgrundlage. Früheres oder späteres Wohlverhalten seien nicht geeignet, die Pflichtverletzungen als nicht gröblich anzusehen. Eine gröbliche Pflichtverletzung könne nur mit objektiven Maßstäben gemessen werden. Die Motive und subjektiven Voraussetzungen des Fehlverhaltens spielten rechtlich keine tragende Rolle, ebensowenig treffe die Erwägung zu, die "gerechte Ahndung" müsse gewahrt werden, denn Gedanken über Gerechtigkeit im Sinne einer gerechten Bestrafung seien abwegig.
Die beigeladene AOK hat die gleichen Rügen erhoben. Ausstellung von Rechnungen über nicht geleistete Arbeiten sei gröbliche Pflichtverletzung. Die Krankenkassen seien auf die Richtigkeit der Abrechnung angewiesen. Aus dem Wort "gröblich" könne nicht das Verschulden als subjektives Tatbestandsmerkmal hergeleitet werden. Krankheit der Mutter und eigene Krankheit könnten nicht Pflichtverstöße entschuldigen oder sie als geringer erscheinen lassen. Gründe, die in der Person der Klägerin liegen, könnten nicht den Pflichtenkreis einengen; der Umfang der Pflichtverletzung erstrecke sich über ein Jahr, die vorher liegende Tätigkeit sei nicht untersucht worden. Die Klägerin könne sich nicht darauf berufen, daß eine Disziplinarmaßnahme genügt hätte, die kassenzahnärztliche Versorgung zu sichern, weil die Disziplinarstrafe nur das Verhältnis Zahnarzt zur Kassenzahnärztlichen Vereinigung betreffe, dabei könne aber die AOK nicht mitwirken.
Die Klägerin hat beantragt,
die Revision des Beklagten und der Beigeladenen zurückzuweisen.
Das subjektive Moment sei nicht unbeachtlich, ihr Pflichtverstoß sei weder nach Schwere noch Tragweite geeignet, das Vertrauensverhältnis zwischen den Beteiligten zu erschüttern. Sie sei geeignet, weiter Kassenzahnärztin zu sein. Eine Entziehung der Kassenpraxis müsse ultima ratio bleiben.
II.
Die form- und fristgerecht eingelegten Revisionen des beklagten Berufungsausschusses und der beigeladenen Allgemeinen Ortskrankenkasse sind begründet.
1.) Zutreffend sind die Zulassungsinstanzen und das LSG davon ausgegangen, daß das Verhalten der Klägerin nach § 368 a Abs. 6 RVO in Verbindung mit § 27 der Zulassungsordnung für Kassenzahnärzte vom 28. Mai 1957 zu beurteilen ist und daß eine Entziehung der Zulassung auf Zeit - im Gegensatz zur früheren Berliner Regelung - nicht zulässig ist (BSG 10, 292).
2.) Die Zulassungsinstanzen und das LSG stimmen auch mit Recht darin überein, daß die Klägerin vom 3. Vierteljahr 1955 an bis zum 2. Vierteljahr 1956 ihre kassenzahnärztlichen Pflichten verletzt hat. Bei der Prüfung, ob die Pflichtverletzung "gröblich" i. S. des § 368 a Abs. 6 RVO ist, sind Bedeutung und Auswirkungen der Pflichtverletzungen für den zu schützenden Rechtskreis maßgebend. Das Wesen der Gröblichkeit liegt in der mehr oder minder häufigen Verletzung besonders wichtiger Pflichten und der damit gegebenen Schwere der Rechtsverletzungen, sie erfordert kein individuelles Verschulden im Sinne persönlicher Vorwerfbarkeit (vgl. Enneccerus/Nipperdey, Allg. Teil des Bürgerlichen Rechts, 2. Halbbd., 15. Aufl., §§ 209, 213 I S. 1319). - Durch Unterlassung der Karteiführung und durch das Inrechnungstellen von Honoraren für nicht geleistete Arbeiten wird die Honorarabrechnung als wesentliche Grundlage der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen dem Versicherungsträger und dem Kassenzahnarzt verfälscht und damit die Sicherstellung der kassenzahnärztlichen Versorgung gefährdet. Schon das Gewicht dieser Pflichtverletzung für den verwaltungsmäßigen Ablauf zeigt, daß sie als gröblich im Sinne des § 368 Abs. 6 RVO und des § 27 der Zulassungsordnung für Kassenzahnärzte vom 28. Mai 1957 anzusehen ist; sie gehört zu den schwersten Störungen des Abrechnungsverfahrens.
Das LSG ist demgegenüber trotz seiner Feststellungen über Art und Schwere der Pflichtverletzungen der Klägerin zu dem Ergebnis gelangt, daß keine gröbliche Pflichtverletzung vorliege und es somit an einer rechtlichen Voraussetzung für die Ermessensentscheidung der Entziehung fehle. Es glaubt, den Begriff "gröbliche Pflichtverletzung" im Sinne einer verfassungskonformen Auslegung möglichst eng fassen und bei seiner Anwendung auch das Maß des Verschuldens der Ärztin berücksichtigen zu müssen. - Zur Frage der verfassungskonformen Auslegung hat der Senat bereits in dem Urteil vom 24. Oktober 1961 (BSG 15, 177, 182) ausgeführt, daß § 368 a Abs. 6 RVO unter Beachtung des Grundrechts der Berufsfreiheit (Art. 12 GG) auszulegen ist. Die Möglichkeit, einem Kassenarzt (Kassenzahnarzt) die Zulassung wegen gröblicher Pflichtverletzung zu entziehen, stellt eine Einschränkung der Berufsfreiheit dar, und zwar - anders als das LSG meint - im Sinne einer subjektiven Beschränkung weiterer Berufstätigkeit, die in ihrer Wirkung (Ausschluß vom Beruf) einer Beschränkung der "Berufswahl" i. S. des Art. 12 Abs. 1 GG gleichzuerachten ist. Die Entziehung der Zulassung ist daher nur zum Schutze wichtiger Gemeinschaftsgüter gerechtfertigt (vgl. BVerfG 7, 377, Leitsatz 6 b, ferner BVerfG 13, 97, Leitsatz 2), wie sie die ärztliche und zahnärztliche Versorgung der Versicherten darstellen. Der Senat hat ferner in der genannten Entscheidung dargelegt, daß im Sinne einer verfassungskonformen Auslegung Verfehlungen eines Kassenarztes (Kassenzahnarztes) nur dann eine "gröbliche Pflichtverletzung" i. S. des § 368 a Abs. 6 RVO darstellen, wenn sie einen Rückschluß auf die Nichteignung des Arztes als Kassenarzt zulassen, denn bei verfassungskonformer Auslegung des § 368 a Abs. 6 RVO ist die Entziehung der Zulassung nur gerechtfertigt, wenn sie im Interesse der kassenärztlichen Versorgung der Versicherten geboten ist, wenn also die gesetzliche Ordnung der kassenärztlichen Versorgung durch das Verhalten des Arztes gestört und die Vertrauensgrundlage für eine weitere Zusammenarbeit mit dem Kassenarzt (Kassenzahnarzt) fortgefallen ist.
Diese Voraussetzungen für das Vorliegen einer "gröblichen Pflichtverletzung" sind im vorliegenden Streitfall gegeben, wie auch das LSG nicht verkennt. Es ist aber der Meinung, die von der Klägerin glaubhaft vorgebrachten Entschuldigungsgründe schlössen die Annahme einer "gröblichen Pflichtverletzung" aus. Dabei übersieht das LSG, daß - wie dargelegt - bei Feststellung einer "gröblichen Pflichtverletzung" kein Unwertsurteil im Sinne der Schuldlehre abzugeben ist. Da das Urteil des LSG somit zu Unrecht eine "gröbliche Pflichtverletzung" i. S. des § 368 a Abs. 6 RVO verneint und sein Urteil auf der Verkennung des Begriffs der gröblichen Pflichtverletzung beruht, ist die Revision des Berufungsausschusses begründet. Es bedurfte jedoch keiner Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht, da seine tatsächlichen Feststellungen eine Sachentscheidung des Revisionsgerichts ermöglichen (§ 170 Abs. 2 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Dabei ist der Senat davon ausgegangen, daß die Entziehung der Zulassung nach § 368 a Abs. 6 RVO, § 27 ZOZ eine Ermessensentscheidung des Berufungsausschusses darstellt (BSG 10, 292); das Vorliegen einer gröblichen Pflichtverletzung der kassenärztlichen (kassenzahnärztlichen) Pflichten ist nur eine rechtliche Voraussetzung für die Ausübung des Ermessens, die hier, wie dargelegt, gegeben ist. Das Gericht hat daher bei Nachprüfung des Entziehungsbescheides nur noch zu prüfen, ob der Berufungsausschuß die rechtlichen Grenzen seines Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermessensermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat (vgl. § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG). Dabei sind die vom LSG festgestellten persönlichen Verhältnisse der Klägerin - eigene Krankheit und seelische Belastungen durch Krankheit und Tod der Mutter sowie Pflege des alten Vaters - mitzuberücksichtigen. Indessen reichen die von der Klägerin nach der Feststellung des LSG glaubhaft vorgebrachten Entschuldigungsgründe nicht aus, um die trotzdem von den Zulassungsinstanzen ausgesprochene Entziehung der Zulassung als Ermessensmißbrauch erscheinen zu lassen. Mag auch die Klägerin bei der schweren körperlichen und seelischen Belastung, der sie unterlag, den Anforderungen, die mit der regelmäßigen Führung einer Kartei und einer ordnungsgemäßen Aufzeichnung und Abrechnung ihrer Leistungen verbunden sind, nicht gewachsen gewesen sein, so durfte sie doch den Mangel hinreichender Aufzeichnungen nicht durch erdachte Eintragungen auszugleichen suchen und so eine große Zahl von Leistungen während mehrerer Quartale in Rechnung stellen, die sie tatsächlich nicht erbracht hatte. Dieses die kassenzahnärztliche Ordnung aufs schwerste störende Verhalten der Klägerin mußte das Vertrauen der Organe der kassenzahnärztlichen Selbstverwaltung zur Klägerin so erheblich stören, daß ihnen eine weitere Zusammenarbeit mit der Klägerin nicht zuzumuten war.
Wenn daher der beklagte Berufungsausschuß unter diesen Umständen beschloß, der Klägerin die Zulassung zu entziehen, so hat er im Rahmen des ihm gesetzlich zustehenden Ermessens gehandelt.
Die Klage ist daher unbegründet. Sie war unter Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen