Leitsatz (amtlich)
Ersatzzeiten wegen Verschleppung (RVO 1251 Abs 1 Nr 2) können auch solche Zeiten sein, in denen der Verschleppte im Verschleppungsland eine dem deutschen Altersruhegeld entsprechende fremde Leistung (FRG § 19 Abs 3) bezogen hat.
Normenkette
RVO § 1229 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23, § 1251 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1957-02-23; FRG § 19 Abs. 3 Fassung: 1960-02-25
Verfahrensgang
Tenor
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Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 28. Juni 1976 wird zurückgewiesen. |
Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Der Kläger beansprucht ein höheres Altersruhegeld unter zusätzlicher Anrechnung einer Ersatzzeit. Er ist am 30. August 1899 in Rußland geboren, war dort bis zu seiner Umsiedlung in den W (1944) zunächst in einer Molkerei und danach in der Landwirtschaft beschäftigt, wurde 1945 wieder nach Rußland verschleppt und bezog dort vom 1. August 1960 bis zu seiner Rückkehr in die Bundesrepublik Anfang 1973 eine russische Rente. Er ist als Vertriebener und Heimkehrer anerkannt.
Die Beklagte hat ihm mit Bescheiden vom 7. September 1973 und 25. November 1976 Altersruhegeld bewilligt und dabei Beitrags- und Beschäftigungszeiten von 1930 bis November 1960 nach dem Fremdrentengesetz (FRG) als Versicherungszeiten angerechnet. Nach Abweisung der Klage durch das Sozialgericht (- SG - Urteil vom 30. April 1975) hat der Kläger im Berufungsverfahren die zusätzliche Anrechnung der Zeit von Dezember 1960 bis August 1964 (Vollendung des 65. Lebensjahres) als Ersatzzeit nach § 1251 Abs 1 Nr 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) verlangt. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Beklagte antragsgemäß verurteilt, da der Bezug der russischen Rente einer Anrechnung der Verschleppungszeit als Ersatzzeit des deutschen Rechts nicht entgegenstehe (Urteil vom 28. Juni 1976).
Die Beklagte macht mit der zugelassenen Revision geltend, die streitige Zeit sei, da für sie nach dem Eingliederungsprinzip des FRG eine Beitragszeit nicht hätte angerechnet werden können (§ 19 Abs 3 FRG), auch nicht als Ersatzzeit zu berücksichtigen. Sie beantragt sinngemäß, das Urteil des LSG vom 28. Juni 1976 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG vom 30. April 1975 zurückzuweisen.
Der Kläger hält das angefochtene Urteil für zutreffend und beantragt die Zurückweisung der Revision.
Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Das LSG hat sie zu Recht verurteilt, die streitige Zeit - als eine auf die Wartezeit anzurechnende Ersatzzeit - bei der Berechnung des Altersruhegeldes des Klägers zu berücksichtigen (§ 1258 Abs 1 RVO).
Nach § 1251 Abs 1 RVO werden für die Erfüllung der Wartezeit als Ersatzzeiten angerechnet "... 2. Zeiten der Internierung oder der Verschleppung sowie Zeiten einer anschließenden Krankheit oder unverschuldeten Arbeitslosigkeit, wenn der Versicherte Heimkehrer im Sinne des § 1 des Heimkehrergesetzes ist". Der Kläger ist als Heimkehrer iS der genannten Vorschrift anerkannt. Nach der ihm erteilten Heimkehrerbescheinigung hat seine Verschleppung am 30. Januar 1973, dh mit der Rückkehr in die Bundesrepublik, geendet. Auch wenn diese Feststellung für die Rentenversicherungsträger und die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit nicht bindend sein mag (Urteil des Bundessozialgerichts - BSG - vom 30. Juni 1971, 12/11 RA 8/70, am Ende), so geht doch auch die Beklagte davon aus, daß der Kläger bis zu dem genannten Zeitpunkt verschleppt war. Da nach Anerkennung der bis 1960 zurückgelegten Beitrags- und Beschäftigungszeiten des Klägers als Versicherungszeiten eine Versicherung "vorher bestanden hat" (§ 1251 Abs 2 RVO), sind die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Anrechnung der streitigen Zeit (Dezember 1960 bis August 1964) als Ersatzzeit nach § 1251 Abs 1 Nr 2 RVO erfüllt.
Eine Ersatzzeit - die den Versicherten dafür entschädigen soll, daß er wegen bestimmter, im Gesetz enumerativ aufgeführter Tatbestände keine Beiträge entrichten konnte - kann allerdings dann nicht angerechnet werden, wenn die Beitragsentrichtung schon aus einem anderen, insbesondere rechtlichen Grund unmöglich war (ständige Rechtsprechung des BSG, vgl BSGE 31, 14; 37, 121, 123; zuletzt SozR 2200 § 1251 RVO Nr 6 mit weiteren Nachweisen). Einen solchen Grund sieht die Beklagte hier darin, daß der Kläger während der fraglichen Zeit eine - einem deutschen Altersruhegeld entsprechende - russische Rente bezogen habe. Dieser Ansicht tritt der Senat nicht bei.
Es kann offen bleiben, ob die russische Rente, die der Kläger erhalten hat, einem deutschen Altersruhegeld rechtlich entsprach (vgl dazu Bergner, DRV 1973, 15, 22; 1974, 136, 142; aber auch SozR 5050 § 19 Nr 4). Auch wenn dies zutrifft, wäre der Kläger wegen des Bezuges der russischen Altersrente an der Entrichtung von Beiträgen zur deutschen Rentenversicherung nicht gehindert gewesen. Nach § 1229 Abs 1 Nr 1 RVO, auf den die Beklagte insoweit verweist, sind nur solche Personen rentenversicherungsfrei und damit von der (weiteren) Entrichtung von Pflichtbeiträgen ausgeschlossen (für freiwillige Beiträge vgl § 1233 Abs 1 Satz 2 RVO idF vom 23. Februar 1957, Abs 2 a idF vom 16. Oktober 1972), die ein Altersruhegeld aus der Rentenversicherung der Arbeiter, der Rentenversicherung der Angestellten oder der knappschaftlichen Rentenversicherung, dh also aus einer der genannten deutschen Rentenversicherungen, beziehen (BSGE 29, 268, 269). Der Bezug der russischen Altersrente hätte den Kläger dagegen, wenn er schon früher zurückgekehrt wäre und die russische Rente weiterbezogen hätte, nicht gehindert, Beiträge zur deutschen Rentenversicherung zu entrichten; so hätte er vor Beginn eines deutschen Altersruhegeldes eine versicherungspflichtige Beschäftigung aufnehmen oder freiwillige Beiträge (diese im Rahmen der Nachentrichtungsfristen der §§ 1418 f RVO sogar für vergangene Zeiten des russischen Rentenbezuges, vgl BSGE 29, 268) leisten können. Daß er wegen der Fortdauer der Verschleppung bis zum Jahre 1973 diese Möglichkeiten nicht gehabt hat, soll durch die Gewährung der streitigen Ersatzzeit ausgeglichen werden. Das gilt jedenfalls für die Zeit, während der er im Inland ein reguläres Altersruhegeld noch nicht erhalten konnte, dh für die Zeit bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres (§ 1248 Abs 1 RVO idF vom 23. Februar 1957, die bis zum 31. Dezember 1972 galt; ebenso im Ergebnis wohl auch Bergner, DRV 1971, 331, 337).
Einer Entrichtung von Beiträgen zur deutschen Rentenversicherung - trotz Bezuges einer russischen Altersrente - hätte auch § 19 Abs 3 FRG nicht entgegengestanden (der hier nicht unmittelbar anwendbar ist, weil eine Beitragsleistung zur russischen Rentenversicherung während der umstrittenen Zeit nicht festgestellt ist). Nach dieser Vorschrift werden fremde Beitragszeiten, die während des Bezuges einer dem deutschen Altersruhegeld entsprechenden fremden Leistung zurückgelegt sind, (nur) für die Hinterbliebenenrenten zusätzlich angerechnet, für das eigene Altersruhegeld also nicht berücksichtigt. § 19 Abs 3 FRG, der den in § 15 Abs 1 FRG enthaltenen Entschädigungsgedanken iS des Eingliederungsprinzips modifiziert, schließt zwar aus, daß fremde, insbesondere bei einem nichtdeutschen Rentenversicherungsträger zurückgelegte Beitragszeiten, die mit dem Bezug einer fremden Altersrente zusammenfallen (was nach fremdem Recht - anders als nach deutschem, vgl § 1229 Abs 1 Nr 1 RVO - zulässig sein mag), über § 15 Abs 1 FRG einer deutschen Beitragszeit gleichgestellt werden. In diesem Sinne "hindert" § 19 Abs 3 FRG eine Entrichtung von - in der deutschen Rentenversicherung anrechenbaren - Beiträgen während des Bezuges einer fremden Altersrente. Diese Wirkung - keine Anrechnung der Beiträge - gilt jedoch nur für die Entrichtung von fremden Beiträgen, dh von Beiträgen, deren Berücksichtigung erst das FRG ermöglicht. Denn § 19 Abs 3 FRG erfaßt nur solche Beitragszeiten, die auch sonst unter das FRG fallen; er gilt dagegen nicht für Beiträge, die nach § 1250 Abs 1 Buchst a RVO, dh nach Bundesrecht und früheren Vorschriften der reichsgesetzlichen Invalidenversicherung, wirksam entrichtet sind. Zusammengefaßt bedeutet dies: Während des Bezuges einer fremden Rente, die dem deutschen Altersruhegeld entspricht, kann zwar eine auf die gleiche Zeit entfallende fremde Beitragszeit nicht auf ein deutsches Altersruhegeld angerechnet werden, weil der nach dem FRG Berechtigte insoweit nicht besser als ein deutscher Versicherter stehen soll (§ 19 Abs 3 FRG; vgl auch BSGE 34, 132 und SozR 5050 § 19 Nr 4). Diese Regelung beruht jedoch auf einer Sondervorschrift des Fremdrentenrechts (so schon BSGE 29, 268, 269 unten); sie kann auf das allgemeine Rentenrecht - einschließlich des allgemeinen Ersatzzeitenrechts - nicht übertragen werden, wenn daneben noch ein anderer Sachverhalt (hier: die Verschleppung) vorliegt, dessen Rechtsfolgen nicht vom FRG, sondern allein von der RVO geregelt sind. Der Bezug einer fremden, dem deutschen Altersruhegeld entsprechenden Rente hindert deshalb nicht die Anrechnung einer während der gleichen Zeit zurückgelegten deutschen Beitragszeit und folglich auch nicht die Anrechnung einer deutschen Ersatzzeit, die an die Stelle einer deutschen Beitragszeit tritt, aber nicht eine fremde Beitragszeit ersetzt.
Hätte hiernach der Kläger deutsche Beiträge trotz Bezuges einer russischen Altersrente wirksam entrichten können, so steht der Anrechnung der streitigen Ersatzzeit ein rechtliches Hindernis nicht entgegen, wie das LSG zutreffend entschieden hat. Der Senat hat daher die Revision der Beklagten als unbegründet zurückgewiesen und über die Kosten nach § 193 des Sozialgerichtsgesetzes entschieden.
Fundstellen