Leitsatz (amtlich)
1. Betrifft die Berufung eines Versicherten, der die Gewährung des vorzeitigen Altersruhegeldes wegen Arbeitslosigkeit (RVO § 1248 Abs 2) begehrt, bei ihrer Einlegung nicht nur Rente für abgelaufene Zeiträume (SGG § 146), so wird sie nicht dadurch unzulässig, daß der beklagte Versicherungsträger dem Versicherten während des Berufungsverfahrens antragsgemäß Erwerbsunfähigkeitsrente bewilligt und der Versicherte daraufhin seinen auf Gewährung von Altersruhegeld gerichteten Berufungsantrag entsprechend beschränkt.
2. Zur "willkürlichen" Einschränkung des Berufungsantrages.
Normenkette
SGG § 146 Fassung: 1958-06-25; RVO § 1248 Abs. 2 Fassung: 1972-10-16, § 1247 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 6. Juni 1977 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Streitig ist, ob das Landessozialgericht (LSG) die Berufung des Klägers zu Recht als unzulässig verworfen hat.
Der Kläger, der 1911 geboren, früher als Arbeiter beschäftigt gewesen und Mitte 1969 als Bundesbahnbeamter in den Ruhestand getreten ist, beantragte - nach mehreren erfolglos gebliebenen Anträgen auf Erwerbsunfähigkeitsrente - im Mai 1972 die Gewährung von vorzeitigem Altersruhegeld wegen einjähriger Arbeitslosigkeit. Die Klage gegen den ablehnenden Bescheid der Beklagten vom 20. Oktober 1972 hat das Sozialgericht (SG) abgewiesen (Urteil vom 9. August 1973). Das LSG hat die Berufung zunächst als unbegründet zurückgewiesen (Urteil vom 22. April 1974). Dieses Urteil ist jedoch vom erkennenden Senat mit Urteil vom 29. Juli 1976 aufgehoben und die Sache an das Berufungsgericht zurückverwiesen worden. Auf einen schon am 24. April 1974 gestellten Antrag des Klägers hat ihm die Beklagte rückwirkend ab Mai 1974 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit bewilligt (Bescheid vom 24. November 1976). Daraufhin hat der Kläger seinen Berufungsantrag auf die Gewährung von vorzeitigem Altersruhegeld für die Zeit von Juni 1972 bis April 1974 beschränkt.
Das LSG hat die Berufung als unzulässig verworfen, weil sie nur noch Rente für bereits abgelaufene Zeiträume betreffe. Sie sei zwar zur Zeit ihrer Einlegung zulässig gewesen; mit dem Antrag auf Gewährung der Erwerbsunfähigkeitsrente im April 1974 habe der Kläger jedoch "aus freien Stücken eine Prozeßlage geschaffen, die ihn später, nachdem die Beklagte die Rente antragsgemäß bewilligt hatte, zu einer zur Unstatthaftigkeit der Berufung nach § 146 Sozialgerichtsgesetz (SGG) führenden Einschränkung des Berufungsantrags nötigte". Sollte sich der Kläger indessen bereits ab Mai 1973 für erwerbsunfähig gehalten haben, dann hätte er schon bei Einlegung der Berufung im September 1973 den Anspruch auf vorzeitiges Altersruhegeld nur bis Mai 1973 verfolgen dürfen, was seine Berufung von vornherein unzulässig gemacht hätte (Urteil vom 6. Juni 1977).
Der Kläger rügt mit der Revision, das LSG hätte statt eines Prozeßurteils ein Sachurteil erlassen müssen. Seine Berufung sei zulässig geblieben, da nicht er, sondern die Beklagte für die später (infolge Bewilligung der Erwerbsunfähigkeitsrente) vorgenommene Einschränkung des Berufungsantrages verantwortlich sei. Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt, die Revision des Klägers zurückzuweisen. Für die Einschränkung seines Berufungsantrages habe objektiv kein Anlaß bestanden, da die bewilligte Erwerbsunfähigkeitsrente einen etwaigen Anspruch auf Altersruhegeld nicht verdrängt hätte; vielmehr wäre sie neben einem Altersruhegeld nicht zu gewähren und, soweit rechtsgrundlos gezahlt, auf das Altersruhegeld anzurechnen gewesen.
Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist begründet. Das LSG hätte seine Berufung nicht als unzulässig verwerfen dürfen, sondern hätte den noch streitigen Rentenanspruch auf seine sachliche Berechtigung prüfen müssen; denn die Berufung betraf entgegen der Ansicht des LSG nicht "nur die Rente für bereits abgelaufene Zeiträume" (§ 146 SGG).
Das LSG hatte zwar im angefochtenen Urteil vom 6. Juni 1977 nur noch über Rente für einen abgelaufenen Zeitraum, nämlich die Zeit vom 1. Juni 1972 bis zum 30. April 1974, zu entscheiden, nachdem der Kläger seinen Berufungsantrag auf diese Zeit beschränkt hatte. Die Zulässigkeit eines Rechtsmittels richtet sich jedoch, wie das Bundessozialgericht (BSG) in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung anderer oberster Bundesgerichte und der herrschenden Meinung im Schrifttum schon wiederholt ausgesprochen hat, grundsätzlich nicht nach der Sachlage im Zeitpunkt der Entscheidung des Rechtsmittelgerichts, sondern nach den Verhältnissen bei Einlegung des Rechtsmittels (vgl SozR SGG § 146 Nrn 6, 8, 9, 12; BSGE 14, 213, 216 und 16, 134, 135; Urteile des 1. Senats des BSG vom 18. Januar 1978 und des erkennenden Senats vom 19. Januar 1978, 1 RA 11/77 und 4 RJ 127/76; Meyer-Ladewig, SGG, Vorbemerkungen vor § 143, Anm 10; Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur SGb, 4. Aufl, 26. Nachtrag, § 143 SGG Anm 4, S. III/12 unten).
Von diesem Grundsatz macht die Rechtsprechung des BSG nur dann eine Ausnahme, wenn der Rechtsmittelkläger sein Rechtsmittel nach dessen Einlegung willkürlich so weit einschränkt, daß es nicht mehr den gesetzlichen Zulässigkeitsvoraussetzungen entspricht (vgl die im SozR aaO abgedruckten Entscheidungen; ähnlich die Rechtsprechung der Zivilgerichte zu § 4 der Zivilprozeßordnung - ZPO -, vgl Baumbach/Lauterbach, ZPO, 36. Aufl, § 4 Anm 2). Einen solchen Ausnahmefall hat das LSG hier deswegen angenommen, weil der Kläger im April 1972 "aus freien Stücken" Erwerbsunfähigkeitsrente beantragt und sich nach deren Bewilligung durch die Beklagte zu einer Einschränkung seines Berufungsantrages genötigt gesehen habe. Dem kann der Senat nicht folgen.
Wie schon in dem Urteil des Senats vom 19. Januar 1978 ausgeführt ist, liegt eine "willkürliche" Einschränkung des Rechtsmittels (nur) dann vor, wenn dafür ein vernünftiger Grund nicht erkennbar ist oder aber von vornherein, dh schon im Zeitpunkt der Einlegung des Rechtsmittels, genügender Anlaß bestanden hat, das Rechtsmittel nur beschränkt einzulegen, so daß die erst nachträgliche Einschränkung "willkürlich" erscheint und unter Umständen sogar den Verdacht nahelegt, der Rechtsmittelkläger habe die Zulässigkeit des Rechtsmittels erschleichen wollen. Eine "willkürliche" Einschränkung des Rechtsmittelantrags ist somit nicht schon dann anzunehmen, wenn sie (letztlich) durch ein freiwilliges Verhalten des Rechtsmittelklägers (hier: einen "aus freien Stücken" gestellten Rentenantrag) herbeigeführt worden ist; "Willkür" setzt vielmehr voraus, daß für das Verhalten des Rechtsmittelklägers ein vernünftiger Grund nicht erkennbar ist, dieses Verhalten mithin nach den Umständen des Falles nicht als sachgerecht erscheint, unsachgemäß ist.
Von einem in diesem Sinne willkürlichen Verhalten des Klägers kann im vorliegenden Fall nicht die Rede sein. Daß er nach Ablehnung seines Antrages auf Gewährung des vorzeitigen Altersruhegeldes (§ 1248 Abs 2 RVO), nach Abweisung der dagegen erhobenen Klage und nach Zurückweisung seiner Berufung (Urteil des LSG vom 22. April 1974) zwei Tage später vorsorglich Rente wegen Erwerbsunfähigkeit beantragt hat, läßt nach den Umständen des Falles eine unsachliche Motivation nicht erkennen. Ob für den Antrag auf Erwerbsunfähigkeitsrente eine "Notwendigkeit" bestand - das LSG hat dies verneint, weil der Erfolg des neuen Antrages für den Kläger ebenso unsicher gewesen sei wie der weiterhin verfolgte Anspruch auf Altersruhegeld -, ist unerheblich. Jedenfalls war der neue Rentenantrag, was für den Ausschluß eines "willkürlichen" Verhaltens genügt, aus der Sicht des Klägers vernünftig und zweckentsprechend, da der Kläger nach dem bisherigen Verlauf des anhängigen Rechtsstreits damit rechnen mußte, daß sein Anspruch auf Altersruhegeld endgültig verneint wurde. Wenn er dann nach der, wie er vorträgt, für ihn unerwarteten Bewilligung der Erwerbsunfähigkeitsrente seinen Anspruch auf Altersruhegeld auf die Zeit vor Beginn der Erwerbsunfähigkeitsrente beschränkt hat, so war auch dies - entgegen der Ansicht der Beklagten - sachgemäß. Nunmehr mußte er nämlich damit rechnen, daß ihn auch die Gerichte für die Zeit nach dem Beginn der Erwerbsunfähigkeitsrente als erwerbsunfähig und deshalb für den Arbeitsmarkt nicht mehr als vermittlungsfähig (vgl § 103 Abs 1 des Arbeitsförderungsgesetzes) ansehen und demgemäß seine Klage auf vorzeitiges Altersruhegeld wegen fehlender Arbeitslosigkeit insoweit als unbegründet abweisen würden. Daß ein Anspruch auf Altersruhegeld, worauf die Beklagte hingewiesen hat, an sich einen Anspruch auf Erwerbsunfähigkeitsrente verdrängt (§ 1248 Abs 8 RVO), ist dann ohne Bedeutung, wenn ein Anspruch auf Arbeitslosenruhegeld mit dem Eintritt von Erwerbsunfähigkeit entfällt. Sollte sich der Kläger im übrigen, wie das LSG noch erwogen hat, bereits im Mai 1973, dh vor Einlegung der Berufung, für erwerbsunfähig gehalten haben, so hatte er jedenfalls solange keinen Anlaß, seine Klage auf vorzeitiges Altersruhegeld zeitlich einzuschränken, als ihm die Erwerbsunfähigkeitsrente nicht bewilligt war, was erst im Jahre 1976 geschehen ist (vgl dazu das schon genannte Urteil des Senats vom 19. Januar 1978).
Kann somit in der nachträglichen Einschränkung des Berufungsantrages durch den Kläger ein "willkürliches" Verhalten nicht gesehen werden, so ist seine - zulässig eingelegte - Berufung auch später zulässig geblieben. Das LSG hätte deshalb über den eingeschränkten Berufungsantrag sachlich entscheiden müssen und wird dies nach der Zurückverweisung des Rechtsstreits nachholen. Dabei wird es auch über die Kosten des Revisionsverfahrens mitentscheiden.
Fundstellen