Leitsatz (amtlich)
1. Für das "Wiederaufleben" des "Anspruchs" auf Witwenrente iS von RVO § 1291 Abs 2 S 1 genügt es, daß ein Stammrecht (Grundanspruch) zZt der Wiederheirat bestanden hat (Anschluß an BSG 1973-09-18 12 RJ 232/72 = SozR Nr 37 zu § 1291 RVO).
2. Ein wiederauflebensfähiger Anspruch auf Witwenrente kann seit 1959-01-01 auch bestanden haben, wenn die Wiederheirat seit diesem Zeitpunkt in der DDR erfolgt ist (Abgrenzung zu BSG 1963-04-23 1 RA 349/62 = BSGE 19, 97 und BSG 1966-05-18 11/1 RA 132/63 = BSGE 25, 20).
Normenkette
RVO § 1291 Abs. 2 S. 1 Hs. 1 Fassung: 1972-10-16, § 1317 Fassung: 1960-02-25
Verfahrensgang
LSG Bremen (Entscheidung vom 15.06.1976; Aktenzeichen L 1 J 18/76) |
SG Bremen (Entscheidung vom 27.02.1976; Aktenzeichen S 7 J 260/75) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 15. Juni 1976 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Streitig ist die Witwenrente aus der Versicherung des ersten Ehemannes nach Auflösung der zweiten Ehe (§ 1291 Abs 2 Satz 1 Reichsversicherungsordnung - RVO -).
Der erste Ehemann der Klägerin (der Versicherte R.) starb 1970 in der DDR. Dort bezog die Klägerin Witwenrente, bis sie im Mai 1971 H.S. heiratete. Diese Ehe wurde im Mai 1974 durch das Kreisgericht L. rechtskräftig geschieden. Im Januar 1975 übersiedelte die Klägerin in die Bundesrepublik Deutschland. Im folgenden Monat beantragte sie die Witwenrente nach dem Versicherten. Die Beklagte lehnte den Antrag ab: Ein Anspruch auf Witwenrente nach dem Recht der Bundesrepublik Deutschland könne nicht wiederaufleben, weil der Klägerin zum Zeitpunkt der zweiten Eheschließung ein solcher nicht zugestanden habe; die Zahlung einer Witwenrente in der DDR begründe keinen Anspruch auf entsprechende Leistungen in der Bundesrepublik Deutschland (Bescheid vom 29. August 1975).
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen, das Landessozialgericht (LSG) die Berufung zurückgewiesen und im Urteil vom 15. Juni 1976 sinngemäß ausgeführt:
Bei dem ursprünglichen, durch Wiederheirat erloschenen Witwenrentenanspruch müsse es sich um einen auf Bundes- oder früherem Reichsrecht beruhenden handeln, der von einem Versicherungsträger im Bundesgebiet zu erfüllen gewesen wäre; daran fehle es. Auch § 14 Fremdrentengesetz (FRG) stelle auf das Bundesrecht ab und lasse daher den Witwenrentenanspruch, der bis zur Wiederheirat nur in der DDR bestanden habe, nicht wieder aufleben. Die Ruhensvorschriften der §§ 1315 ff RVO kämen als Rechtsgrundlage nicht in Betracht. Das Ruhen der Rente nach § 1315 Abs 1 RVO bedeute, daß ein wegen eines bestimmten Sachverhaltes zeitweilig nicht zu erfüllender Anspruch bestehe; ein solcher sei hier aber zu keiner Zeit gegeben gewesen.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision wendet sich die Klägerin gegen die im angefochtenen Urteil vertretene Rechtsauffassung, da diese dem Grundgedanken des FRG widerspreche.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
die Urteile des LSG vom 15. Juni 1976 und des SG vom 27. Februar 1976 sowie den Bescheid der Beklagten vom 29. August 1975 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihr einen Bescheid über die Gewährung von Hinterbliebenenrente aus der Versicherung ihres ersten Ehemannes R. für die Zeit seit Februar 1975 zu erteilen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und vertritt die Ansicht, es gäbe keine Vorschrift im Fremdrentenrecht, aufgrund deren die Klägerin so zu behandeln wäre, als hätte sie bis zur Wiederverheiratung im Bundesgebiet gewohnt.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit zurückverwiesen werden muß.
Nach § 1291 Abs 2 Satz 1 RVO lebt der Anspruch auf Witwenrente wieder auf, wenn die Witwe wieder geheiratet hat und diese Ehe aufgelöst worden ist. Da nur wieder aufleben kann, was schon vorher einmal existent gewesen war, wird damit vorausgesetzt, daß der Witwenrentenanspruch zum Zeitpunkt der Wiederheirat bestanden hatte (zB BSGE 14, 238, 240 = SozR Nr 2 zu § 1291 RVO; BSGE 16, 202 = SozR Nr 3 aaO). Der "wiederaufgelebte" Anspruch der Witwe richtet sich gegen einen Versicherungsträger im Geltungsbereich der RVO; deshalb muß wegen des so gekennzeichneten Bezugsmoments der "ursprüngliche", durch Wiederverheiratung weggefallene Anspruch auf Vorschriften des Reichsrechts oder des Bundesrechts beruht haben (vgl BSGE 25, 20, 23 = SozR Nr 15 zu § 1291 RVO). Daher ist es auch, wie das Berufungsgericht zu Recht ausgeführt hat, für die hier zu treffende Entscheidung unerheblich, daß der Klägerin in der DDR bis zur Wiederheirat im Mai 1971 eine Witwenrente dortigen Rechts gewährt wurde. Das LSG hat aber nicht genügend beachtet, daß andererseits die Klägerin zur Zeit der Wiederheirat keine Witwenrente von einem Versicherungsträger in der Bundesrepublik Deutschland bezogen, also keine tatsächliche Leistung von einem solchen Träger im Mai 1971 erhalten haben muß, sondern lediglich ein damaliger "Anspruch" auf Witwenrente vorausgesetzt wird. Darunter ist nicht - jedenfalls nicht notwendig - auch der Anspruch auf Rente im Sinne des Anspruchs auf Zahlung des jeweils fällig werdenden einzelnen (monatlichen) Betrages, sondern das sogenannte Stammrecht (Grundanspruch, Gesamtanspruch) zu verstehen (vgl SozR Nr 37 zu § 1291 RVO; BSG vom 19. März 1976 - 11 RA 92/75 - in DAngVers 1976, 372; ferner BSGE 5, 4, 6; Kommentar des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger zum 4. und 5. Buch der RVO, Stand 1. Juli 1976, Anm 7 zu § 1291 RVO und - zur Systematik - Vorbem §§ 1245 ff).
Ein solches Stammrecht kann der Klägerin nicht mit der Begründung versagt werden, sie habe, als sie im Mai 1971 wieder heiratete, in der DDR gewohnt und sei vom dortigen Sozialversicherungssystem erfaßt gewesen. Denn seit dem 1. Januar 1959 - dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetzes (FANG) vom 25. Februar 1960 - entsteht der Anspruch im Sinne des (Renten-) Stammrechts unabhängig vom Aufenthalt im Geltungsbereich der RVO. Daß auch das Ruhen der Witwenrente beim Auslandsaufenthalt das Stammrecht nicht untergehen läßt mit der Folge, daß beim Eintritt der anderen Voraussetzungen die wieder aufgelebte Witwenrente zu zahlen ist, hat das Bundessozialgericht (BSG) bereits entschieden (SozR Nr 37 zu § 1291 RVO); das gilt aufgrund des FANG auch im Verhältnis zum Aufenthalt (Wohnsitz) in der DDR. Es war ein erklärtes Ziel der Gesetzgebung zum FANG, die in der RVO und im Fremdrenten- und Auslandsrentengesetz (FAG) vom 7. August 1953 verstreuten sowie in systematischer Hinsicht voneinander abweichenden Vorschriften über die Gewährung von Renten bei Aufenthalt außerhalb der Bundesrepublik Deutschland zu einem einheitlichen Ruhenstatbestand in der RVO zusammenzufassen; der Unterschied gegenüber der vorherigen Regelung (zB § 1 Abs 1, §§ 8, 9 FAG) liegt darin, daß im jetzigen Auslandsrentenrecht die Anspruchsgrundlagen für die Rentengewährung nicht mehr geschaffen, sondern vorausgesetzt werden (vgl Begründung zu Art 2 Nr 4, Allgemeines, und zu § 1318 in BT-Drucks III/1109). Ob ein Anspruch auf Rente besteht, ist nach den allgemeinen Vorschriften der RVO einschließlich der §§ 15 ff FRG zu beurteilen; die §§ 1315 ff RVO sind lediglich Zahlungsvorschriften (vgl Eicher, BArbBl 1960, 344, 345, 347). Deshalb kann zwar kein Witwenrentenanspruch wieder aufleben, wenn die neue Eheschließung vor dem 1. Januar 1959 in der DDR stattgefunden hat, weil bis zu diesem Zeitpunkt nach Bundesrecht kein Anspruch entstehen konnte (§ 1 Abs 1 FAG; BSGE 25, 20, 22; 19, 97 ff). Andererseits scheitert aber der "Wiederauflebensanspruch" nicht daran, daß die neue, inzwischen wieder aufgelöste Ehe in der DDR geschlossen wurde, sofern dies seit dem 1. Januar 1959 geschah (Eicher/Haase/Rauschenbach, Die Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten, 5. Aufl, Anm 5 zu § 1291 RVO).
Die hiergegen und die anscheinend überwiegende Praxis der Rentenversicherungsträger im Komm zum Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) von Koch/Hartmann/v. Altrock/Fürst (Stand: Mai 1969, 20. Lfg, Seite V 468) vorgebrachten Argumente können nicht überzeugen; insbesondere läßt sich mit dem Hinweis, das Ruhen der Renten bei Aufenthalt in der DDR sei auch im Sprachgebrauch des FRG eine Rechtsfolge eigener Art geblieben, nichts gegen die Erkenntnis gewinnen, daß es für das "Wiederaufleben" nur auf das Stammrecht ankommt und ein solcher Grundanspruch seit dem 1. Januar 1959 auch beim Aufenthalt in der DDR entstehen kann. Der Wohnsitzgrundsatz, der infolge des staatlichen Zusammenbruchs im Jahre 1945 zum Untergang früherer sowie durch die Spaltung Deutschlands zur Entstehung neuer Ansprüche nur gegen den im jeweiligen Herrschaftsbereich befindlichen Sozialversicherungsträger geführt hatte (zB BSGE 17, 144, 145 und die dort zitierte Rechtsprechung) und auch im FAG zum Ausdruck gekommen war (vgl BSG 11, 271, 273), gilt seitdem für Ansprüche der gesetzlichen Rentenversicherung nicht mehr (vgl BSGE 29, 57, 62). Die vom LSG und von der Beklagten erwähnten Entscheidungen des BSG (BSGE 25, 20 und 19, 97) widerstreiten der Ansicht des Senats nicht, da in den dort entschiedenen Fällen die neue Eheschließung in der DDR vor dem 1. Januar 1959 stattgefunden hatte; zudem ist das Datum des Inkrafttretens des FRG im Leitsatz der letztgenannten Entscheidung hervorgehoben worden. Wenn es hiernach für das Wiederaufleben von Witwenrentenansprüchen keinen Unterschied mehr macht, ob nach dem 31. Dezember 1958 die neue Ehe im Bundesgebiet oder in der DDR geschlossen wurde, so steht dieses Ergebnis auch mit dem Eingliederungsprinzip des FRG im Einklang.
Eine Entscheidung in der Sache selbst ist dem Senat verwehrt. Denn das LSG hat - ausgehend von seiner anderen Rechtsauffassung - keine Feststellungen darüber getroffen, ob die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für den geltend gemachten Anspruch vorliegen, insbesondere ob die Wartezeit erfüllt ist. Dies wird nunmehr nachzuholen sein.
Die Kostenentscheidung bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen