Entscheidungsstichwort (Thema)

Auslegung von Prozeßhandlungen und zum Folgenbeseitigungsanspruch

 

Orientierungssatz

Zur Auslegung von Prozeßhandlungen und zum Folgenbeseitigungsanspruch:

1. Auch bei der Auslegung prozessualer Willenserklärungen ist in entsprechender Anwendung der Vorschriften des bürgerlichen Rechts der sich aus dem Erklärungsinhalt und den Umständen für den Empfänger der Erklärung ergebende wirkliche Wille zu erforschen und nicht an dem buchstäblichen Sinn des Ausdrucks zu haften. Für eine Auslegung ist aber kein Raum, wenn die Erklärung eindeutig ist.

2. Eine Verwaltungsbehörde ist verpflichtet, die Folgen zu beseitigen, die sich aus Maßnahmen ergeben, die sie vor Eintritt der Rechtskraft des Urteils zur Regelung des streitigen Rechtsverhältnisses getroffen hat, wenn diese Maßnahmen mit dem rechtskräftig gewordenen Urteil im Widerspruch stehen.

 

Normenkette

SGG §§ 96, 153; BGB § 133

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 25.06.1959)

 

Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 25. Juni 1959 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der 1914 geborene Kläger erlitt als Soldat im April 1940 einen Ohnmachtsanfall, der im Lazarett auf allgemeine vegetative Übererregbarkeit bei Asthenie zurückgeführt wurde. Eine Splitterverwundung an der rechten Schulter im Juni 1940 heilte ohne wesentliche Folgen ab. Auf Grund erneuter Anfälle im September 1941 wurde beim Kläger eine genuine Epilepsie angenommen, die im Juni 1943 zu seiner Entlassung aus der Wehrmacht führte. Versorgung wurde mit Bescheid vom 25. Juni 1943 abgelehnt, da es sich um eine anlagebedingte Epilepsie handle. Eine nervenfachärztliche Untersuchung ergab 1944 keine Epilepsie, sondern eine Gangstörung bezw. psychogene Störungen, die mit dem Wehrdienst nicht in ursächlichen Zusammenhang gebracht wurden. Das Reichsarbeitsministerium bestätigte am 24. November 1944 und am 15. Januar 1945 die Ablehnung des Versorgungsantrags.

1947 beantragte der Kläger unter Hinweis auf sehr starke Gehbehinderung und Kopfschmerzen Rente nach dem Bayerischen Körperbeschädigten-Leistungsgesetz (BKBLG). Die Untersuchung durch den Nervenfacharzt Dr. Z vom 1. September 1949 ergab neben psychogenen Störungen gesteigerte Reflexe, Störungen im Bereich der Augen und eine positive Pandyreaktion . Aus diesen Befunden schloß der Gutachter auf Multiple Sklerose (organisches Nervenleiden) und bewertete die Verschlimmerung dieses Leidens durch den Wehrdienst mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 v.H. Die Landesversicherungsanstalt als Versorgungsbehörde erkannte deshalb nach Zustimmung durch das Bayerische Staatsministerium für Arbeit und soziale Fürsorge mit Bescheid vom 31. Januar 1950 Granatsplitterverletzung rechte Schulter i.S. der Entstehung sowie organisches Nervenleiden (Multiple Sklerose) i.S. der Verschlimmerung an und gewährte ab 1. Februar 1947 Rente nach einer MdE um 50 v.H. Wegen der Höhe der MdE legte der Kläger Berufung beim Oberversicherungsamt ein. Die in diesem Verfahren mit der Untersuchung des Klägers beauftragten Gutachter der Neurologischen Universitätsklinik und Poliklinik Würzburg (Prof. Dr. Sch und Dr. W) führten am 24. Februar 1951 aus, es bestehe mit Sicherheit kein organisches Nervenleiden, insbesondere keine Multiple Sklerose; die demonstrierten Gesundheitsstörungen des Klägers seien rein psychogen. Von einer Streichung der Rente wurde jedoch abgeraten und Kapitalabfindung bezw. psychotherapeutische Behandlung vorgeschlagen. Als der Nervenfacharzt Dr. D im Gutachten vom 8. August 1951 dieser Beurteilung im wesentlichen zustimmte, nahm der Kläger seine Berufung zurück. Das Versorgungsamt sah vom Erlaß eines Zuungunstenbescheides mit Zustimmung des Bayerischen Staatsministeriums für Arbeit und soziale Fürsorge (vom 28. August 1952) ab, da es sich nach seiner Auffassung nur um eine abweichende ärztliche Beurteilung handelte, und übernahm in seinem Umanerkennungsbescheid vom 11. September 1952 Schädigungsfolgen und MdE aus dem Bescheid vom 31. Januar 1950.

Von Februar bis Mai 1953 wurde der Kläger im Versorgungskrankenhaus Bayreuth untersucht und behandelt. Das Abschlußgutachten vom 27. Mai 1953 stellte eine völlige Beseitigung der funktionellen Gangstörung fest und führte aus, im Hinblick auf den bisherigen Verlauf und wegen des Erfolges der Suggestivbehandlung könne mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein organisches Nervenleiden ausgeschlossen werden. Wehrdienstbeschädigung für die funktionellen Mechanismen sei abzulehnen, da es sich um den Ausdruck einer abartigen seelischen Einstellung gehandelt habe. Mit Bescheid vom 27. Juli 1953 stellte das Versorgungsamt nach § 86 Abs. 3 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) fest, ein organisches Nervenleiden bestehe nicht mehr, und entzog die Rente ab 1. September 1953.

Die Berufung des Klägers gegen diesen Bescheid ging bei Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) vom Oberversicherungsamt als Klage auf das Sozialgericht (SG) über.

Das SG hob mit Urteil vom 15. September 1955 den angefochtenen Bescheid auf, verurteilte den Beklagten zur Weiterzahlung der Rente in der bisherigen Höhe und führte aus, wenn auch ein wehrdienstbedingtes organisches Nervenleiden beim Kläger nicht bestehe und somit eine zum Bezug von Versorgungsrente berechtigende MdE nicht vorhanden sei, so fehle es doch an den Voraussetzungen des § 86 Abs. 3 BVG, denn es habe vor Erlaß des Umanerkennungsbescheides eine fachärztliche Nachuntersuchung stattgefunden. Eine Umdeutung des auf § 86 Abs. 3 BVG gestützten Bescheides in einen solchen nach § 62 BVG sei nicht möglich gewesen, da im Bescheid ausdrücklich vermerkt sei, eine wesentliche Änderung der Verhältnisse liege nicht vor.

Gegen dieses Urteil legte der Beklagte rechtzeitig Berufung ein. Sodann hob er durch Berichtigungsbescheid vom 27. Januar 1956 nach § 41 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (VerwVG) die Bescheide vom 31. Januar 1950 und 11. September 1952 insoweit auf, als darin "Organisches Nervenleiden (Multiple Sklerose)" anerkannt worden war, stellte fest, durch die verbleibende Schädigungsfolge "Granatsplitterverletzung rechte Schulter" werde eine MdE um 25 v.H. nicht bedingt und verzichtete auf die Rückforderung der zu Unrecht empfangenen Versorgungsbezüge. Der Bescheid wurde am 1. Februar 1956 zwecks Zustellung zur Post gegeben. Mit Schriftsatz vom 5. September 1956 nahm der Beklagte seine Berufung gegen das Urteil des SG mit dem Hinweis zurück, im Streit stehe nur mehr der Berichtigungsbescheid vom 27. Januar 1956, der gemäß §§ 96 und 153 SGG Gegenstand des Verfahrens geworden sei. Der Kläger beantragte die Aufhebung des Berichtigungsbescheides. Er wies darauf hin, daß Dr. Z vor seiner Entlassung aus dem Versorgungskrankenhaus Bayreuth Zweifel geäußert habe, ob der dort erzielte Heilungserfolg von Dauer sein werde und legte den Bericht des behandelnden Arztes Dr. G vom 19. Juni 1958 vor, wonach die Gangstörung ungefähr fünf Wochen nach der Entlassung des Klägers aus dem Versorgungskrankenhaus Bayreuth im Jahre 1953 in verstärktem Maße wieder auftrat und fortbestand. Das Landessozialgericht (LSG) hob mit Urteil vom 25. Juni 1959 den Bescheid vom 27. Januar 1956 auf und ließ die Revision zu. Er führte aus, der Umanerkennungsbescheid vom 11. September 1952 sei in Kenntnis der Gutachten der Neurologischen Universitätsklinik Würzburg und des Dr. D ergangen, aus denen sich mit einer jeden vernünftigen Zweifel ausschließenden Sicherheit ergeben habe, daß beim Kläger kein organisches Nervenleiden, sondern nur psychogene Störungen bestanden. Wenn im Umanerkennungsbescheid gleichwohl der Leidenszustand des Klägers unter der offenbar unrichtigen Leidensbezeichnung der Multiplen Sklerose als Schädigungsfolge mit einer MdE um 50 v.H. anerkannt worden sei, so folge daraus nicht seine tatsächliche und damit auch rechtliche Unrichtigkeit, denn er sei nach erschöpfender Prüfung und Würdigung aller hinsichtlich der Leidensbezeichnung bestehenden Zweifel ergangen. Eine tatsächliche Unrichtigkeit ergebe sich auch nicht aus dem erst nach Erlaß des Umanerkennungsbescheides im Versorgungskrankenhaus Bayreuth erzielten Erfolg einer psychotherapeutischen Behandlung, da dieser im Gutachten der Neurologischen Universitätsklinik Würzburg vorausgesagt worden sei. § 41 VerwVG rechtfertige daher die Berichtigung des Umanerkennungsbescheides nicht. Aber auch der Bescheid vom 31. Januar 1950 habe durch den Berichtigungsbescheid nicht geändert werden dürfen. Bei Erlaß des Bescheides vom 31. Januar 1950 sei die Versorgungsverwaltung von der unzutreffenden Annahme eines organischen Nervenleidens ausgegangen. Sie sei daher zunächst befugt gewesen, ihren Bescheid in diesem Punkt zu ändern. Dieses Recht habe sie indes verwirkt, denn sie habe trotz Kenntnis von der Unrichtigkeit ihrer Annahme eines organischen Nervenleidens im Umanerkennungsbescheid das Leiden nochmals als Schädigungsfolge anerkannt, ferner noch den Neufeststellungsbescheid vom 27. Juli 1953 erlassen und insgesamt sechs Jahre lang an der Anerkennung festgehalten. In entsprechender Anwendung von § 144 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) entfalle unter diesen Voraussetzungen das Recht der Verwaltung zur Aufhebung eines Bescheides im Wege der Berichtigung, weil hier der der Abänderung unterliegende Verwaltungsakt in Kenntnis des Berichtigungsgrundes bestätigt worden sei. Der Umanerkennungsbescheid bedeute schließlich auch einen Verzicht auf die vor seinem Erlaß bekannten und gewürdigten Aufhebungsgründe.

Mit der Revision rügt der Beklagte unrichtige Anwendung des § 41 VerwVG. Nach der Rechtsprechung des Bayerischen Landesversicherungsamts im Jahre 1951 habe ein bindender Bescheid gemäß § 84 Abs. 3 BVG in Verbindung mit Art. 30 Abs. 4 BKBLG zuungunsten des Berechtigten nur berichtigt werden dürfen, wenn seine Unrichtigkeit außer Zweifel gestanden habe. Da der Neurologe Dr. Z und die Universitätsklinik Würzburg aus dem Liquorbefund einander widersprechende Folgerungen gezogen hätten, habe die Unrichtigkeit des Bescheides vom 31. Januar 1950 danach nicht außer Zweifel gestanden; die Versorgungsverwaltung sei, wie auch aus der Entschließung des Bayerischen Staatsministeriums für Arbeit und soziale Fürsorge vom 28. August 1952 hervorgehe, damals nicht von der tatsächlichen und rechtlichen Unrichtigkeit dieses Bescheides überzeugt gewesen (BSG 6, 106). Die Voraussetzungen für einen Berichtigungsbescheid seien mithin erst durch das Gutachten des Versorgungskrankenhauses Bayreuth vom 27. Mai 1953 geschaffen worden, denn erst auf Grund des Erfolges der Suggestivbehandlung habe ein organisches Nervenleiden mit Sicherheit ausgeschlossen werden können. Sei aber die Versorgungsverwaltung im Zeitpunkt der Umanerkennung von der tatsächlichen Unrichtigkeit des Bescheides vom 31. Januar 1950 noch nicht überzeugt gewesen, so habe sie auch kein Berichtigungsrecht geltend machen können. Folglich beruhe auch der Umanerkennungsbescheid noch auf dieser tatsächlichen Unrichtigkeit und liege weder eine Verwirkung des Berichtigungsrechts noch ein Verzicht auf Berichtigung des Bescheides vor. Der Beklagte beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung bezw. Klage gegen den Berichtigungsbescheid vom 27. Januar 1956 zurück- bezw. abzuweisen.

Der Kläger hält das angefochtene Urteil im Ergebnis für zutreffend und beantragt, die Revision zurückzuweisen. Die Feststellung des LSG, bei Erlaß des Umanerkennungsbescheides habe mit einer jeden vernünftigen Zweifel ausschließenden Sicherheit festgestanden, daß beim Kläger kein organisches Nervenleiden vorlag, habe die Revision nicht angegriffen. Die Versorgungsverwaltung habe auch den Antrag des Klägers auf Heilbehandlung mit Bescheid vom 9. März 1952 aus denselben Gründen abgelehnt. Wenn sie sodann im Umanerkennungsbescheid vom 11. September 1952 wiederum das strittige Leiden anerkannt habe, so falle diese offensichtlich fehlerhafte Regelung eindeutig in ihren Verantwortungsbereich. Die Berichtigung erst im Jahre 1956 verstoße unter diesen Umständen gegen Treu und Glauben und sei insbesondere aus Gründen der Rechtssicherheit untragbar.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Die durch Zulassung statthafte Revision (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 164, 166 SGG) und somit zulässig. Sachlich ist sie jedoch nicht begründet.

Das SG hat im Tenor seines Urteils den "Neufeststellungsbescheid" vom 27. Juli 1953 aufgehoben und den Beklagten verurteilt, dem Kläger über den 1. August 1953 hinaus Rente nach einer MdE um 50 v.H. zu gewähren. Es kann dahingestellt bleiben, ob das SG zu Recht das Klagebegehren des Klägers auch insoweit für begründet gehalten hat, als dieses Begehren nicht nur auf die Aufhebung des "Neufeststellungsbescheides" vom 27. Juli 1953, sondern auch auf die Verurteilung des Beklagten zur Leistung gerichtet gewesen ist; jedenfalls hat das SG auch die Verurteilung des Beklagten zur Leistung, nämlich zur Gewährung von Rente über den 1. August 1953 hinaus im Tenor seines Urteils ausgesprochen. Dieses Urteil ist rechtskräftig geworden; der Beklagte hat die Berufung gegen dieses Urteil in dem Schriftsatz vom 5. September 1956 zurückgenommen. Die Erklärung der Zurücknahme der Berufung ist eindeutig und unmißverständlich; es kommt nicht darauf an, ob der Beklagte sich bei Abgabe dieser Erklärung über ihre rechtlichen Folgen, nämlich über den Eintritt der Rechtskraft des Urteils des SG auch insoweit, als darin die Verpflichtung des Beklagten zur Weitergewährung der Rente ausgesprochen und damit auch der "Berichtigungsbescheid" berührt worden ist, im klaren gewesen ist. Zwar ist auch bei der Auslegung prozessualer Willenserklärungen in entsprechender Anwendung der Vorschriften des bürgerlichen Rechts (vgl. Rosenberg, Lehrbuch des Deutschen Zivilprozeßrechts, 8. Aufl. S. 283) der sich aus dem Erklärungsinhalt und den Umständen für den Empfänger der Erklärung ergebende wirkliche Wille zu erforschen und nicht an dem buchstäblichen Sinn des Ausdrucks zu haften (vgl. § 133 BGB). Für eine Auslegung ist aber kein Raum, wenn die Erklärung eindeutig ist. Der Wille des Beklagten ist eindeutig darauf gerichtet gewesen, daß im Verfahren vor dem LSG nur noch über die Rechtmäßigkeit des "Berichtigungsbescheides" entschieden werden solle. Diesen Willen hat der Beklagte ausdrücklich auch dadurch bekundet, daß er dem ersten Satz des Schriftsatzes vom 5. September 1956, in dem er die Zurücknahme der Berufung erklärt hat, noch den Satz beigefügt hat: "In Streit steht daher nur mehr der Berichtigungsbescheid des Versorgungsamtes Bayreuth vom 27.1.56, der gem. §§ 96, 153 SGG Gegenstand des Verfahrens geworden ist". Dieser Satz macht die Erklärung über die Zurücknahme der Berufung nicht unklar und auslegungsbedürftig, ... der Beklagte hat damit nur eine Rechtsfolge zum Ausdruck gebracht, die sich aus den §§ 96, 153 SGG ergeben hat. Auch nach der Zurücknahme der Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG ist der Bescheid vom 27. Januar 1956, der nach den §§ 96, 153 SGG Gegenstand des Verfahrens des LSG geworden ist, Gegenstand dieses Verfahrens geblieben, das LSG hat über diesen Bescheid, den der Beklagte erst nach dem Erlaß des Urteils des SG erlassen und durch den er den Neufeststellungsbescheid vom 27. Juli 1953 "ersetzt" hat, in dem anhängigen Verfahren entscheiden müssen. Das Begehren des Klägers im Verfahren vor dem LSG ist, auch wenn das Berufungsverfahren auf die Berufung des Beklagten hin rechtshängig geworden ist, auf die Aufhebung des Bescheides vom 27. Januar 1956 gerichtet gewesen, der Kläger hat die Aufhebung dieses Bescheides auch ausdrücklich beantragt, über dieses Begehren hat das LSG entscheiden müssen, auch wenn der Beklagte seine Berufung zurückgenommen hat. Es kommt im vorliegenden Fall nicht darauf an, ob das LSG das Begehren des Klägers auf Aufhebung des "Berichtigungsbescheides" als Klage (so Urteil des BSG vom 30. Januar 1963 - 2 RU 35/60 -) oder als Berufung (so noch BSG 11, 146) hat ansehen müssen. Da der Beklagte die Berufung gegen das Urteil des SG zurückgenommen hat, hat das LSG im vorliegenden Falle nur noch darüber zu entscheiden gehabt, ob der Berichtigungsbescheid hat ergehen oder bestehen bleiben dürfen. Es hat dies im Ergebnis zu Recht verneint, weil der Regelung, die der Beklagte in diesem Bescheid getroffen hat, die Rechtskraft des Urteils des SG entgegengestanden hat (vgl. BSG 15, 248 ff, 250; ebenso BSG 11, 231 ff, 232). Dabei kann im vorliegenden Fall dahingestellt bleiben, ob im sozialgerichtlichen Verfahren, in dem - anders als im Zivilprozeß - die Rücknahme eines Rechtsmittels den Verlust des Rechtsmittels bewirkt (§§ 156 Abs. 2, 165 SGG), die Rechtskraft des Urteils des SG rückwirkend mit dem Ablauf der Rechtsmittelfrist eintritt (so für den Zivilprozeß Stein-Jonas-Schönke, ZPO, 18. Aufl. § 705 Anm. II 4; Rosenberg, aaO § 147 II 1b S. 733), oder ob die Rechtskraft erst in dem Zeitpunkt eintritt, in dem die Rücknahme erklärt wird (so für den Zivilprozeß Wieczorek, ZPO, § 705 B IVc 2; Baumbach-Lauterbach, Komm. zur ZPO, 26. Aufl. Anm. 4 A zu § 515 ZPO; RG in JW 1907, 310 und 392; ebenso für die Rücknahme der Revision: OLG Hamburg in OLG-Rechtspr. 14, 230 und zur Frage der Rückwirkung nach Verwerfung der Revision als unzulässig: BGH, Beschluß vom 8. Januar 1952, NJW 1952, 425 Nr. 16). Denn im vorliegenden Fall ist infolge der Rücknahme der Berufung die Rechtskraft des SG-Urteils zu einer Zeit eingetreten, als jedenfalls die Berufung oder ... Klage des Klägers gegen den Berichtigungsbescheid noch rechtshängig, dieser also noch nicht bindend gewesen ist. Die materielle Rechtskraft stand einer erneuten Überprüfung durch das LSG soweit entgegen, wie die Rechtskraft reicht. Urteile sind der Rechtskraft nur insoweit fähig, als über den Streitgegenstand entschieden ist (vgl. § 141 Abs. 1 SGG). Streitgegenstand in dem Verfahren vor dem SG, in dem der Beklagte die Abweisung der Klage auf Aufhebung des Bescheides vom 27. Juli 1953 begehrt hat, war der vom Kläger bestrittene "Anspruch" des Beklagten, daß er zur Rücknahme des früheren Umanerkennungsbescheides über die Anerkennung des Leidens des Klägers als Schädigungsfolge und die Gewährung von Rente als nunmehr fehlerhaft (vgl. BSG in SozR BVG § 62 Ca 1 Nr. 2) befugt sei, diesen Anspruch hat er im Verfahren vor dem SG auf § 86 Abs. 3 BVG gestützt, das SG hat auch nur über die Rechtmäßigkeit des auf § 86 Abs. 3 BVG gestützten Bescheides vom 27. Juli 1953 entschieden. Der Beklagte ist grundsätzlich nicht gehindert gewesen, den Anspruch auf Rücknahme des früheren Bewilligungsbescheides nach dem Erlaß des Bescheides vom 27. Juli 1953 in dem anhängigen Verfahren unter einem anderen rechtlichen Gesichtspunkt, nämlich dadurch geltend zu machen, daß er die beiden vorausgegangenen Bewilligungsbescheide nunmehr als von Anfang an rechtswidrig durch den neuen Bescheid vom 27. Januar 1956 zurückgenommen hat. Er hat aber nach Erlaß dieses Berichtigungsbescheides eine Prozeßhandlung vorgenommen, die den Eintritt der Rechtskraft des SG-Urteils - zumindest im Zeitpunkt der Berufungsrücknahme - bewirkte. Durch das Urteil des SG ist rechtskräftig entschieden worden, daß der Beklagte den Umanerkennungsbescheid und die damit ausgesprochene Anerkennung des Leidens nicht hat zurücknehmen dürfen und ferner, daß er deshalb dem Kläger weiterhin Rente zu gewähren hat. Der Beklagte hat daher im Hinblick auf die Rechtskraft dieses Urteils die früheren Bescheide über die Bewilligung von Leistungen wegen des anerkannten Leidens mit dem angefochtenen Bescheid vom 27. Januar 1956 nicht unter einem anderen rechtlichen Gesichtspunkt wirksam zurücknehmen können. Er ist auch dann, wenn die Rechtskraft des Urteils erst nach dem Erlaß dieses Bescheides eingetreten ist, auf Grund dieses Urteils verpflichtet gewesen, die Folgen zu beseitigen, die sich aus Maßnahmen ergeben, die er vor Eintritt der Rechtskraft des Urteils zur Regelung des streitigen Rechtsverhältnisses getroffen hat, wenn diese Maßnahmen mit dem rechtskräftig gewordenen Urteil im Widerspruch stehen. Zu diesen Maßnahmen hat im vorliegenden Fall auch der Erlaß des "Berichtigungsbescheides" gehört, durch den der Beklagte den im Streit befangenen Neufeststellungsbescheid "ersetzt" hat. Wenn der Beklagte nach Eintritt der Rechtskraft des Urteils des SG den "Berichtigungsbescheid" nicht zurückgenommen hat, obwohl die Regelung in diesem Bescheid im Widerspruch zu dem später rechtskräftig gewordenen Urteil gestanden hat, so hat dieser Bescheid auf den Antrag des Klägers hin vom Gericht aufgehoben werden müssen, Dies hat das LSG auch getan. Es hat allerdings verkannt, daß es sachlich-rechtlich über diesen Bescheid nicht hat entscheiden dürfen, weil es nicht den Sachverhalt, über den das SG bereits rechtskräftig entschieden gehabt hat, erneut hat würdigen dürfen ("ne bis in idem"). Im Ergebnis ist das Urteil des LSG aber zutreffend. Der Senat hat daher nicht zu prüfen, ob der Berichtigungsbescheid sachlich gerechtfertigt war, ob er insbesondere nicht ergehen durfte, weil sich die für die Berichtigung wesentliche Annahme vollständiger Beseitigung der Gangstörung durch Suggestivbehandlung offenbar schon nach ca. fünf Wochen, also lange Zeit vor Erlaß des Berichtigungsbescheides, als unzutreffend erwiesen hatte. Die Revision des Beklagten war sonach als unbegründet zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 2 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2380657

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