Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufsunfähigkeit
Orientierungssatz
Verweisbarkeit eines Maurers auf die Tätigkeit eines Baustellen-Magaziners.
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 19.12.1977; Aktenzeichen L 2 J 99/77) |
SG Koblenz (Entscheidung vom 27.04.1977; Aktenzeichen S 9 J 380/76) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 19. Dezember 1977 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Der Kläger beansprucht Rente wegen Berufsunfähigkeit (§ 1246 Reichsversicherungsordnung - RVO -). Er ist 1923 geboren, war bis 1941 als Metallarbeiter und nach Kriegsende als Maurer und Putzer beschäftigt. Im April 1972 legte er die Facharbeiterprüfung als Maurer ab; Ende März 1975 wurde er wegen Arbeitsmangels entlassen. Er bezog Arbeitslosengeld, dann Krankengeld und erhält seit Oktober 1977 Arbeitslosenhilfe. Als Schädigungsfolge ist nach dem Bundesversorgungsgesetz eine Nervenschädigung am linken Arm mit dadurch bedingter Beschränkung der Leistungsfähigkeit der linken Hand mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 30 vH anerkannt.
Den im Mai 1976 gestellten Antrag auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 26. Juli 1976). Das Sozialgericht Koblenz (SG) hat die auf Gewährung der Berufsunfähigkeitsrente gerichtete Klage abgewiesen (Urteil vom 27. April 1977), das Landessozialgericht Rheinland-Pfalz (LSG) die Berufung zurückgewiesen und im Urteil vom 19. Dezember 1977 ausgeführt: Der Kläger könne zwar wegen Schwindelneigung und Wirbelsäulenveränderungen die üblichen Arbeiten eines Maurers nicht mehr verrichten, aber noch leichte bis mittelschwere körperliche Arbeiten im Sitzen, Gehen und Stehen in geschlossenen Räumen und im Freien vollschichtig ausüben. Hinsichtlich seiner Verweisbarkeit finde sich kein überzeugender Anlaß, den vom Bundessozialgericht (BSG) im Urteil vom 20. Januar 1976 - 5/12 RJ 132/75 - (BSGE 41, 129 = SozR 2200 § 1246 Nr 11) eingeschlagenen Weg zu beschreiten. Die einem Facharbeiter zumutbaren Verweisungstätigkeiten, namentlich Überwachungs- und Kontrolltätigkeiten, seien in vielen Wirtschaftszweigen üblich und von den jeweiligen Tarifverträgen erfaßt. Mit Rücksicht darauf seien konkrete Nachforschungen in einzelnen Tarifverträgen entbehrlich, da diese ohnehin nur die bereits bekannten Tatsachen erhärten könnten, daß sich in vielen Tarifverträgen Beschreibungen für betrieblich bedeutsame oder angelernte Arbeiten mit einer Entlohnung finden ließen, die einem angelernten Arbeiter oder entsprechend qualifizierten Arbeiter zustehe. Selbst bei im Einzelfall zunächst erfolglosen Nachforschungen könne nicht auf das Fehlen zumutbarer Verweisungstätigkeiten insgesamt geschlossen werden. Im übrigen seien derartig zeitraubende Nachforschungen den Versicherungsträgern kaum zumutbar. Es müsse genügen, die Art der zumutbaren Verweisungstätigkeiten so allgemein und doch so hinreichend bestimmt zu bezeichnen wie im Urteil des BSG vom 6. Februar 1976 - 4 RJ 125/75 - (Die Sozialversicherung 1976, 188). Für den Kläger kämen mit Rücksicht auf seinen bisherigen Beruf insbesondere Arbeiten eines Lager- und Geräteverwalters in großen Bauunternehmungen und Baustoffhandlungen, eines Bauhofaufsehers, Platzverwalters in Betracht (Hinweis auf die Berufsdokumentation des LSG Nordrhein-Westfalen).
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision macht der Kläger geltend, das Berufungsgericht verweise ihn unzulässigerweise abstrakt auf zahlreiche Berufstätigkeiten, ohne Feststellungen getroffen zu haben, ob er überhaupt in der Lage sei, tatsächlich eine dieser Verweisungstätigkeiten zu verrichten. Bei Überwachungs-, Kontroll- und ähnlichen Tätigkeiten hänge die hohe Beanspruchung von der Gestaltung der einzelnen Tätigkeit sowie den individuellen Eigenschaften des Versicherten ab. Die Auswirkungen solcher Belastungen führten zu vegetativer Labilität, Reizbarkeit und Überempfindlichkeit. Dem seien ältere Arbeitnehmer nur im Ausnahmefall gewachsen. Die Arbeiten eines Lager- und Geräteverwalters, Bauhofaufsehers, Platzverwalters oder -meisters müßten für die Verweisung ausscheiden, da es sich um Angestelltentätigkeiten handele, die ihn wissens- und könnensmäßig überforderten; deren Ausübung stehe zudem, was auch für Kontrolltätigkeiten gelte, seine beginnende Cerebralsklerose entgegen. Im übrigen habe das LSG mit dem Hinweis auf die im Urteil erwähnte Berufsdokumentation verfahrensfehlerhaft auf Ergebnisse aus anderen Prozessen zurückgegriffen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 19. Dezember 1977, das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 27. April 1977 sowie den Bescheid vom 26. Juli 1976 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm für die Zeit seit Mai 1976 Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren,
hilfsweise,
den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit zurückverwiesen werden muß. Die Feststellungen des LSG genügen für eine abschließende Entscheidung nicht.
Das Berufungsgericht hat festgestellt, daß der Kläger, der "Berufsschutz als Maurer" genieße, aus gesundheitlichen Gründen weder Gerüstarbeiten leisten noch schwer heben und tragen könne und daher für eigentliche Maurerarbeiten auf Gerüsten und an Baustellen nicht mehr einsatzfähig sei.
Soweit das LSG ausgeführt hat, der Kläger sei gleichwohl nicht berufsunfähig, weil er neben Überwachungs- und Kontrollarbeiten sowie Apparatebedienung insbesondere die Tätigkeiten eines Lager- und Geräteverwalters in großen Bauunternehmungen oder Baustoffhandlungen, eines Bauhofaufsehers, Platzverwalters oder -meisters ausüben könne und - da solche Arbeiten seiner beruflichen Vorbildung entsprächen - nicht befürchtet werden müsse, er sei könnens- und wissensmäßig überfordert, sind diese Feststellungen zu Recht mit der Revision angegriffen worden.
Die Frage nach der Berufsunfähigkeit beurteilt sich, wie auch den Ausführungen des Berufungsgerichts zu entnehmen ist, nicht allein danach, ob der "bisherige Beruf" (Hauptberuf) noch ausgeübt werden kann. In die Betrachtung einzubeziehen sind vielmehr auch die sogenannten Verweisungstätigkeiten. Diese müssen den Kräften und Fähigkeiten des Versicherten (objektiv) entsprechen und ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit (subjektiv) zumutbar sein (§ 1246 Abs 2 Satz 2 RVO). Der Kläger macht mit der Revision nicht in erster Linie geltend, die ihm vom LSG angesonnenen Verweisungstätigkeiten seien ihm wegen ihrer beruflich-sozialen Qualität nicht zuzumuten; er rügt vielmehr, daß es ihm an den geistigen und seelischen Kräften sowie an der beruflichen Fähigkeit, Vorbildung und Erfahrung für die Verrichtung einer entsprechenden Tätigkeit mangele; zumindest sei die gegenteilige Feststellung des LSG verfahrensfehlerhaft zustande gekommen. Diese letztere Rüge greift durch.
Ob das LSG, wie der Kläger meint, im Hinblick auf die internistisch festgestellte beginnende Cerebralsklerose und die damit in Zusammenhang gebrachten Befunde (allgemeine Antriebsverlangsamung, wiederkehrende Schwindelgefühle) eine weitere Sachaufklarung, etwa durch Hinzuziehung eines Arbeitspsychologen, hätte durchführen sollen, kann auf sich beruhen.
Immerhin kann danach mit einem herabgesetzten Umstellungs- und Anpassungsvermögen des jetzt 55-jahrigen Klägers gerechnet werden. Jedenfalls läßt sich der angefochtenen Entscheidung nicht sicher entnehmen, ob der Kläger den genannten Tätigkeiten geistig-seelisch sowie wissens- und könnensmäßig entspricht. Der Hinweis auf die berufliche Vorbildung reicht nach der gesamten Sachlage als revisionsgerichtlich nachprüfbare Begründung nicht aus. Der Senat hat zum ähnlich liegenden Streitfall 4 RJ 23/78 im Urteil vom 20. Dezember 1978 bereits ausgeführt, daß die getroffene Feststellung, sollte sie auf der im angefochtenen Urteil genannten "Berufsdokumentation des LSG Nordrhein-Westfalen" beruhen, fehlerhaft zustande gekommen wäre. Denn das LSG durfte die Dokumentation nicht als Beweismittel verwerten, ohne die Beteiligten vorher davon in Kenntnis zu setzen, für welche Verweisungstätigkeiten die Dokumentation herangezogen werden sollte. Sofern das Berufungsgericht die nicht im einzelnen bezeichneten Anforderungen an Verweisungstätigkeiten als offenkundige Tatsache hat feststellen wollen, wäre der Kläger ebenfalls vorher zu hören gewesen, weil es sich hier um keine allgemeinkundige, sondern um eine gerichtskundige Tatsache handelt: Allgemeinkundige Tatsachen sind solche, von denen verständige und erfahrene Personen regelmäßig ohne weiteres Kenntnis haben oder von denen sie sich durch allgemein zugängliche, zuverlässige Quellen unschwer überzeugen können; gerichtskundige Tatsachen sind diejenigen, die der Richter kraft seines Amtes kennt. Letztere darf das Gericht nur verwerten, wenn es sie in den Prozeß eingeführt und zum Gegenstand der Verhandlung gemacht hat (vgl das vorgenannte Urteil des Senats vom 20. Dezember 1978 unter Hinweis auf BVerfGE 10, 177, 183; BSGE 22, 19, 20; SozR Nr 91 zu § 128 SGG; SozR 1500 § 128 Nr 4 und § 62 Nr 3; Urteil des 5. Senats vom 25. Mai 1976 - 5/12 RJ 162/75; Beschluß des erkennenden Senats vom 31. Oktober 1978 - 4 RJ 149/78). Das ist nicht geschehen.
Da somit die Feststellungen des LSG eine Nachprüfung hinsichtlich der Verweisbarkeit des Klägers auf die genannten Tätigkeiten nicht zulassen oder diese Entscheidung verfahrensfehlerhaft zustande gekommen ist, muß das angefochtene Urteil aufgehoben werden. Das Berufungsgericht wird die körperlichen und geistigen Kräfte Sowie beruflichen Fähigkeiten des Klägers feststellen und mit den Anforderungen der in Aussicht genommenen Verweisungstätigkeiten vergleichen müssen. Wie vom Berufungsgericht auch nicht verkannt worden ist, kann der Kläger als Facharbeiter nicht nur auf Tätigkeiten eines "angelernten" Arbeiters, sondern auch auf ungelernte Arbeiten verwiesen werden, sofern sich diese aufgrund besonderer Merkmale - etwa durch eine Vertrauensstellung oder besondere Verantwortung - aus dem Kreis sonstiger Arbeiten herausheben (zB BSGE 19, 57; SozR Nr 4, 35 zu § 1246 RVO; BSGE 41, 129, 134; Urteile des Senats vom 29. April 1976 - 4 RJ 87/75 - und vom 19. Oktober 1977 - 4 RJ 141/76; SozR 2200 § 1246 Nr 21). Das gilt jedenfalls für solche ungelernten Tätigkeiten, die wegen ihrer Qualität tariflich wie sonstige Ausbildungsberufe eingestuft sind (vgl Urteil des Senats vom 19. Januar 1978 = SozR 2200 § 1246 Nr 25 S.69). Auch der 1. Senat bezieht ua diejenigen ungelernten Tätigkeiten ein, die wegen des qualitativen Wertes für den Betrieb wie ein sonstiger Ausbildungsberuf tariflich eingestuft sind (Urteil vom 15. Marz 1978 = SozR 2200 § 1246 Nr 29 S. 89).
Von den in die Berufssparte des Klägers gehörenden, im angefochtenen Urteil genannten Verweisungstätigkeiten ist jedenfalls diejenige des Lager- und Geräteverwalters sozial (subjektiv) zumutbar. Ob der Kläger mit der Ausübung einer solchen Arbeit wissens- und könnensmäßig überfordert wäre, müßte, wie dargelegt, noch geprüft werden, wobei der Maßstab hierfür nicht schon in der Zuordnung zur Angestelltenversicherung liegen wird, sondern darin, inwieweit kaufmännische Kenntnisse erforderlich sind. In diesem Zusammenhang ist auch die Tätigkeit des "Baustellen-Magaziners" zu berücksichtigen. Diese Berufsbezeichnung hat neuerdings (seit 1. Juli 1978) im Anhang zum Bundesrahmentarifvertrag für das Baugewerbe - Berufsgruppen für die Berufe des Baugewerbes - in der Berufsgruppe V - Baufacharbeiter - (Arbeitnehmer, die ihre Berufsausbildung in der Form der Stufenausbildung mit der ersten Stufe abgeschlossen haben oder eine angelernte Spezialtätigkeit ausüben) ihren Niederschlag gefunden (vgl Urteile des Senats vom 20.Dezember 1978 - 4 RJ 23/78 - sowie vom 28. November 1978 - 4 RJ 127/77 -, wo ausgesprochen wurde, daß selbst einem Maurermeister die Tätigkeit des Baustellen-Magaziners zumutbar ist).
Sollte es auf die Prüfung weiterer Verweisungstätigkeiten ankommen, wird das LSG hinsichtlich der subjektiven Zumutbarkeit von Überwachungs-, Kontroll- und ähnlichen Arbeiten sich nicht lediglich auf das Urteil des Senats vom 6. Februar 1976 - 4 RJ 125/75 - berufen können. Zwar ist dort unter Hinweis auf eine frühere Entscheidung des BSG (SozR 107 zu § 1246 RVO) ausgeführt worden, die sich aus der Mechanisierung und Automation des Arbeitsprozesses ergebenden Überwachungs- und Kontrollarbeiten höben sich aus dem Niveau der einfachen ungelernten Arbeiten heraus und seien Facharbeitern zumutbar; damit sollte indessen, wie der Senat im Urteil vom 20. Dezember 1978 bereits ausgesprochen hat, keine undifferenzierte, gleichsam pauschale Verweisung ohne Prüfung der objektiven und subjektiven Gegebenheiten gebilligt werden. Denn berufliche und gesundheitliche Voraussetzungen für das weite Feld der Kontroll- und Überwachungsarbeiten sind je nach der Art der zu kontrollierenden Gegenstande, der zu überwachenden Vorgänge und überhaupt der Gestaltung der jeweiligen Tätigkeit unterschiedlich hoch und dementsprechend verschieden bewertet und entlohnt (vgl auch Urteil des Senats vom 28. November 1978 - 4 RJ 127/77).
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen