Entscheidungsstichwort (Thema)
Flucht vor Einbrecher. Bezug des OEG zum StGB. Auslegung und Kosten eines neuartigen Leistungsgesetzes. Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers
Leitsatz (amtlich)
1. Der "vorsätzliche tätliche Angriff" iS § 1 Abs 1 S 1 OEG setzt ein Handeln voraus, das in feindseliger Willensrichtung unmittelbar auf eine bestimmte Person zielt und auf diese einwirken soll.
2. Bleibt der Täter unbekannt, müssen wenigstens die äußeren Tatumstände überzeugende Hinweise auf den erforderlichen subjektiven Tatbestand geben.
Orientierungssatz
1. Eine Person, die sich einer drohenden Gefahr für Leib und Leben durch die Flucht entzieht, bevor Täter (hier: Einbrecher) und mögliches Opfer einander bemerkten, hat keinen Versorgungsanspruch nach § 1 Abs 1 S 1 OEG, wenn sie auf einer derartigen Flucht verunglückt.
2. Das OEG verwendet zur Beschreibung der Gewalttaten, die die Entschädigungspflicht des Staates auslösen, bestimmte, dem StGB entnommene Begriffe. Zwar ist die entscheidende Verletzungshandlung im OEG eigenständig ohne ausdrückliche Bezugnahme auf das StGB geregelt, aber es kann nicht unbeachtet bleiben, daß der Gesetzgeber rechtstechnische Begriffe verwandt hat, die in einem anderen Rechtsgebiet und in einem anderen Gesetz eine fest umrissene Bedeutung haben (vgl auch BSG, Urteil vom 1983-12-07 9a RV 40/82).
3. Auf dem Gebiet des Schutzes vor Straftaten kann der Staat nach der Rechtsordnung des Grundgesetzes nicht auf den Grundsatz verzichten, daß der einzelne Staatsbürger auch selber auf seinen Schutz vor Straftaten und Beschädigungen bedacht sein muß. Jedes Ausmaß sozialer Entschädigung liegt hier in der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers. Immer wird dieses Ausmaß nicht nur den Sinn staatlicher Hilfe für Opfer von Gewalttaten verwirklichen, sondern zugleich auch planvoll die Entschädigungslast des Staates begrenzen. Daran ist die Rechtsprechung gebunden.
Normenkette
OEG § 1 Abs. 1 S. 1; StGB §§ 121, 113
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 25.11.1982; Aktenzeichen L 7 V 114/82) |
SG Detmold (Entscheidung vom 11.06.1982; Aktenzeichen S 7 V 139/79) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin Anspruch auf Versorgung nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG) hat, weil sie sich auf der Flucht vor einem Einbrecher verletzte.
Die Klägerin wohnte allein über Geschäftsräumen eines zweigeschossigen Hauses, in dem sich des Nachts außer ihr niemand aufhielt. Im Mai 1978 wachte sie nachts gegen 1.30 Uhr auf. Sie hatte gehört, wie jemand die Scheibe in der Tür zu ihrer Wohnung zerschlug und in die Wohnung eindrang. Dadurch erschreckt, fürchtete sie, von dem Einbrecher entdeckt und verletzt zu werden. Hastig zog sie einen Bademantel über ihr Nachthemd und kletterte durch das Fenster ihres Schlafzimmers auf das flache Dach eines Anbaus, ohne den Täter gesehen zu haben. An der Regenrinne begann sie abzusteigen, verlor dabei in halber Höhe den Halt und stürzte zu Boden. Sie erlitt einen Unterschenkel- und Fersenbeinbruch des linken Beines. Der Eindringling bemerkte sie nicht. Er nahm einige Wertsachen der Klägerin an sich und verschwand. Die Polizei konnte den Täter bisher nicht ermitteln.
Der Beklagte lehnte den Versorgungsantrag der Klägerin nach dem OEG ab, weil kein vorsätzlicher tätlicher Angriff gegen eine Person stattgefunden habe (Bescheid vom 6. Februar 1979 und Widerspruchsbescheid vom 6. April 1979). Die Ablehnungsbescheide wurden den beigeladenen Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK), die mit Leistungen eingetreten waren, jeweils bekannt gemacht.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage aus den Gründen der angefochtenen Bescheide abgewiesen (Urteil vom 11. Juni 1982). Auch im Berufungsverfahren hat die Klägerin keinen Erfolg gehabt. Das Landessozialgericht (LSG) hat ausgeführt, es könne weder eine physische Kraftentfaltung noch eine Gewaltausübung festgestellt werden, die darauf gerichtet gewesen sei, den Widerstand einer Person zu brechen und ihre Willensfreiheit zu beeinträchtigen (Urteil vom 25. November 1982).
Die zu 1) beigeladene AOK hat die - vom LSG zugelassene - Revision eingelegt.
Sie meint, mit seinem gewaltsamen Eindringen in die von der Klägerin bewohnten Räume habe der Einbrecher einen tätlichen Angriff gegen die Klägerin iS des § 1 Abs 1 OEG begonnen. Es entspreche der allgemeinen Lebenserfahrung, daß solche Gewalttäter, die lautstark in Wohnungen eindrangen, zumindest den bedingten Vorsatz hätten, angetroffene Wohnungsinhaber auch tätlich anzugreifen. Mit diesem gegenwärtigen und andauernden Angriff hätten der Schock der Klägerin, ihre Flucht und die dabei erlittene Verletzung in einem ursächlichen Zusammenhang gestanden. Es widerspräche dem Gesetzeszweck, Opfern von Gewalttaten zu helfen, wollte man in Fällen der vorliegenden Art noch nicht den Schutz des Gesetzes eingreifen lassen und dem zu Schützenden zumuten, sich erst einer direkten Konfrontation mit vergrößerter Verletzungsgefahr auszusetzen. Stattdessen sei das Aufbrechen der Wohnungstür einem Angriff auf die Klägerin gleichzusetzen.
Die Beigeladene zu 1) beantragt, die angefochtenen Entscheidungen aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, der Klägerin Versorgung nach dem OEG zu gewähren.
Der Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Er hält die angefochtenen Urteile für zutreffend.
Die Klägerin und die Beigeladene zu 2) schließen sich den Ausführungen und dem Antrag der Beigeladenen zu 1) an.
Entscheidungsgründe
Der Revision der beigeladenen AOK, die durch ihre Hinzuziehung zum Verwaltungsverfahren das Recht erlangte, den Anspruch der Klägerin im eigenen Interesse geltend zu machen (vgl BSGE 52, 281, 283 = SozR 3800 § 2 Nr 3), muß der Erfolg in der Sache versagt bleiben.
Nach § 1 Abs 1 Satz 1 OEG erhält derjenige Versorgung, der durch einen "vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff gegen seine oder eine andere Person" - oder durch dessen rechtmäßige Abwehr - eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat (OEG vom 11. Mai 1976 - BGBl I 1181 - idF des Gesetzes vom 10. August 1978 - BGBl I 1217 -). Damit ist klargestellt, daß entgegen der Überschrift des Gesetzes nicht die Opfer aller Gewalttaten entschädigungsberechtigt sind. Wären alle Gewalttaten gemeint, so könnte es durchaus sinnvoll sein, auch der Klägerin soziale Entschädigung zuzubilligen, weil sie in ursächlichem Zusammenhang mit dem gewaltsamen Eindringen in ihre Wohnung vernünftig und verantwortungsbewußt handelte. Sie ließ es nicht erst darauf ankommen, daß sie möglicherweise gewaltsam verletzt oder getötet werde, sondern entzog sich der drohenden Gefahr für Leib und Leben durch die Flucht, bevor Täter und mögliches Opfer einander bemerkten; auf einer derartigen Flucht verunglückte sie dann. Obwohl sie bei einer zweckmäßigen Maßnahme zur Verhütung einer Verletzung verunglückte, kann ihr jedoch Entschädigung nicht gewährt werden, weil die Tat nicht zu den Gewalttaten gehört, die das Gesetz meint.
Schon der Wortlaut zeigt, daß das Gesetz zur Beschreibung der Gewalttaten, die die Entschädigungspflicht des Staates auslösen, bestimmte, dem Strafgesetzbuch (StGB) entnommene Begriffe verwendet (vgl Schoreit in Schoreit und Düsseldorf, Kommentar zum OEG, Berlin 1977, § 1 Rdz 33 ff, 40; Schätzler, VersorgB 1976, 65; Schulz-Lüke/Wolf, Gewalttaten- und Opferentschädigung, Berlin-New York 1977, Anm 59 ff zu § 1 OEG; Prechtel, Das OEG in: Der Sozialrichter, Heft 28, Juli 1977 S. 40). Zwar ist die entscheidende Verletzungshandlung im OEG eigenständig ohne ausdrückliche Bezugnahme auf das StGB geregelt, aber es kann nicht unbeachtet bleiben, daß der Gesetzgeber rechtstechnische Begriffe verwandt hat, die in einem anderen Rechtsgebiet und in einem anderen Gesetz eine fest umrissene Bedeutung haben (vgl auch BSG, Urteil vom 7. Dezember 1983 - 9a RV 40/82 - zur Veröffentlichung bestimmt). Er hat den allgemeinen Gewaltbegriff im Strafrecht - wie ihn die Überschrift des Gesetzes zunächst nahelegte - eindeutig eingeschränkt, indem er ihn durch den des "tätlichen Angriffs" ersetzt hat. Das hat der Gesetzgeber auch bewußt getan, weil dieser allgemeine Begriff zu weit reicht; insbesondere wollte er Kraftentfaltungen gegen Sachen und die bloße Androhung von Gewalt ausgrenzen (vgl die Begründung zum Regierungsentwurf eines OEG - RegierungsE -, BT-Drucks 7/2506, S 10, II B Nrn 1 und 3). Die Vorinstanzen haben zutreffend erkannt, daß der Gesetzgeber des OEG nur diejenigen tätlichen Angriffe auf Personen meinte, die schon nach der Rechtsprechung des Reichsgerichts (RG) "eine in feindseliger Willensrichtung u n m i t t e l b a rauf den Körper eines anderen zielende Einwirkung" erfordern (vgl RGSt 59, 264, 265; so auch BSGE 49, 98, 100 = SozR 3800 § 1 Nr 1). Das gilt nach wie vor für diesen zB noch in den §§ 113 und 121 StGB verwendeten Begriff des "tätlichen Angriffs". Im Strafrecht wird gegenwärtig dazu betont, daß es zu aggressiven Handlungen gekommen sein muß, die unmittelbar auf den Körper eines bestimmten Menschen einwirken und ihn verletzen sollen. Es kommt dabei allerdings nicht darauf an, ob der beabsichtigte Erfolg auch eingetreten ist (vgl BGHSt 23, 46 ff; v. Bubnoff in Leipziger Kommentar zum StGB -LK-, 10. Aufl 1978, Rdz 17 zu § 113 und Rdz 30 zu § 121; Schoreit, aaO, Rdz 40 ff zu § 1 Abs 1).
Das deckt sich mit dem Sinn und Zweck des OEG und gilt auch für die vorsätzliche Angriffshandlung iS des § 1 Abs 1 OEG (vgl BSGE 49, 98, 100). Damit soll die Entschädigungslast des Staates von vornherein begrenzt werden. Zwar ging der Gesetzgeber einerseits davon aus, es sei Aufgabe des Staates, die Bürger vor Gewalttaten zu schützen, und er müsse sich für die Entschädigung des Opfers verantwortlich fühlen, wenn er diese Pflicht im Einzelfall nicht erfüllen könne (vgl RegierungsE , BT-Drucks 7/2506 S 7 I A und 10 II A). Andererseits mußten die Gesetzgebungsorgane auch wegen der noch unübersehbaren Kosten des neuartigen Gesetzes dafür sorgen, daß das Gesetz nicht im Laufe der Zeit in Richtung auf eine allgemeine Volksversicherung gegen schwere Unfälle jeder Art ausgeweitet werde (vgl RegierungsE , aaO, S 10 II A, S 12 IV und Stellungnahme des Bundesrats in BT-Drucks 7/2506 S 21 Nr 6 zu § 5; BT-Drucks 7/4614, S 3, A 2). Obwohl die Entschädigung hier mit den gesetzgeberischen Motiven übereinstimmen könnte, läßt das Gesetz selbst eine entsprechende Ausweitung der genannten Entschädigungsvoraussetzung nicht zu. Das folgt aus den Eigenheiten des Regelungsbereichs. Auf dem Gebiet des Schutzes vor Straftaten kann der Staat nach der Rechtsordnung des Grundgesetzes nicht auf den Grundsatz verzichten, daß der einzelne Staatsbürger auch selber auf seinen Schutz vor Straftaten und Beschädigungen bedacht sein muß (vgl in den Gesetzesmaterialien BT-Drucks 7/4614 S 3, A 2). Jedes Ausmaß sozialer Entschädigung liegt hier in der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers. Immer wird dieses Ausmaß nicht nur den Sinn staatlicher Hilfe für Opfer von Gewalttaten verwirklichen, sondern zugleich auch planvoll die Entschädigungslast des Staates begrenzen. Daran ist die Rechtsprechung gebunden.
In dem zu entscheidenden Rechtsstreit fehlt es an einem Tun oder Unterlassen, das unmittelbar auf eine Person zielt und auf diese einwirken soll. Nach den Feststellungen des LSG hat der Straftäter nur auf die Wohnungstür als eine Sache gewaltsam eingewirkt. Da der Täter nicht gefaßt wurde, lassen sich allerdings Feststellungen über die innere Tatseite, also den Vorsatz und die Zielrichtung, nur schwer treffen. Aber auch wenn man zugunsten des Opfers bemüht ist, dem Sinn des OEG trotzdem Rechnung zu tragen, müssen doch wenigstens die äußeren Tatumstände überzeugende Hinweise auf den Willen geben, unmittelbar gegen eine Person vorzugehen. Solche Tatumstände liegen nicht vor. Zwar kann in dem lautstarken Eindringen in die Wohnung eine Warnung an alle gesehen werden, die sich etwa in der Wohnung aufhalten. Die Klägerin hat offenbar einen solchen Eindruck gehabt. Überzeugend ist diese Meinung aber nicht. Zumindest ebenso nahe liegt, daß der Täter geflohen wäre, wenn er erkannt hätte, daß die Räume des Obergeschosses nicht zu den Geschäftsräumen des Erdgeschosses gehörten, sondern auch zur Zeit des Einbruchs bewohnt waren. Somit liegen nicht die tatbestandsmäßigen Voraussetzungen einer Verletzungsmaßnahme iS von § 1 Abs 1 Satz 1 OEG vor.
Dementsprechend kann die Revision nicht die bei dem besonderen Problem des Schockschadens anzuwendenden Grundsätze heranziehen (vgl BSGE 49, 98 ff, und SozR 3100 § 5 Nr 6). In den dazu vom BSG entschiedenen Fällen war jeweils die Tat unbestritten gegen eine Person gerichtet, es lag ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff gegen einen Menschen vor. Fraglich war nur, ob eine Entschädigung geboten war, wenn der Betroffene durch eine zweifelsfrei festgestellte Angriffshandlung gegen eine andere Person selbst in Mitleidenschaft gezogen wird (vgl BSGE 49, 98, 101). Der Betroffene war, wie der Senat später verdeutlicht hat, von dem tatbestandsmäßigen Gewaltgeschehen selbst tangiert, der Schockeffekt als weiterer Schaden trat unmittelbar in der Psyche des Betroffenen ein (BSGE 54, 206, 207 = SozR 3100 § 1 Nr 29). Das steht im Einklang damit, daß der nur mittelbar Geschädigte keine Versorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) beanspruchen kann (BSGE 54, 206 ff).
Zu Recht haben die Vorinstanzen danach einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff auf die Klägerin verneint. Es ist danach auch ausgeschlossen, daß die Klägerin bereits dem Beginn eines tätlichen Angriffs auf eine Person gemäß § 1 Abs 1 OEG ausgesetzt war. Dazu fehlt es an Tatumständen, die auf die Unmittelbarkeit der Willensrichtung in dem oben dargelegten Sinne schließen lassen.
Es kann schließlich auch nicht festgestellt, werden, daß der Täter die Klägerin in diesem Sinne unmittelbar bedroht hat. Auch hier fehlt es an Tatumständen, die auf eine bestimmte Willensrichtung des Täters schließen lassen. Der erkennende Senat hat deshalb noch nicht die im Schrifttum umstrittene Frage zu entscheiden, ob eine Drohung mit Gewalt - im Unterschied zum Beginn einer vorsätzlichen vollendeten oder versuchten Körperverletzung - überhaupt einen tätlichen Angriff auf eine Person im Sinne von § 1 Abs 1 OEG darstellen kann (vgl zB für die Fälle von Schreckschüssen: Schoreit, aaO, Rdz 51 zu § 1 OEG; Weintraud, Staatliche Entschädigung für Opfer von Gewalttaten in Großbritannien und der Bundesrepublik Deutschland, Baden-Baden 1980, S 104; v. Bubnoff, LK, aaO, Rdz 17 zu § 113).
Dementsprechend steht auch der Klägerin keine Versorgung nach dem OEG zu.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 und Abs 4 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).
Fundstellen
BSGE, 234 |
Breith. 1984, 885 |