Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 29. Oktober 1965 wird aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Der 1901 geborene Kläger ist gelernter Kesselschmied und in diesem Beruf seit 1919 – unterbrochen durch Arbeiten als Elektroschweißer – tätig, zuletzt seit 1956 bei der Hamburger Dampfkessel- und Behälterbaufirma I. & W.. Am 18. Juli 1960 erschien er bei der Sektion der Beklagten und erklärte folgendes: Sechs Wochen zuvor habe er sich bei dem HNO-Arzt Dr. B. die Ohren ausspritzen lassen, wonach sein Gehör rechts wieder gut funktioniert habe, während er links gar nichts mehr höre; Dr. B. habe – ebenso wie zwei Jahre vorher ein Vertrauensarzt – gemeint, das Ohrenleiden sei als eine Berufskrankheit (BK) aufzufassen. Seit den 40iger Jahren bemerke er eine zunehmende Verschlechterung seines Gehörs; er beantrage, das Feststellungsverfahren einzuleiten und zu prüfen, ob eine entschädigungspflichtige BK vorliege, ggf. bitte er um Überlassung eines Hörgeräts.
Die Beklagte ermittelte die Beschäftigungszeiten und früheren Erkrankungen des Klägers; dabei ergab sich kein Anhaltspunkt für frühere HNO-ärztliche Behandlungen. Dr. B. führte in seinem Gutachten vom 2. Mai 1962 aus: Den Kläger habe er im Juni 1960 mit einer einmaligen Ceruminalspülung behandelt. Bei dem jetzigen Befund einer mittelgradigen Schwerhörigkeit rechts nebst praktischer Ertaubung links benötige der Kläger ein Hörgerät, dieses sei jedoch nicht von der Beklagten zu gewähren; der beiderseits verschiedene Grad des Hörverlusts spreche dafür, daß nur rechts eine reine Lärmschädigung, links hingegen zusätzlich ein konstitutionelles Ohrenleiden vorliege. Eine Entschädigungspflicht nach der 5. BK-Verordnung (BKVO) bestehe nicht, da Umgangssprache noch aus 2,5 m Entfernung binaural gehört werde. Nachdem der Staatliche Gewerbearzt diesem Gutachten zugestimmt hatte, lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 6. August 1962 die Gewährung einer BK-Entschädigung ab: Die 6. BKVO vom 28. April 1961 finde auf Grund ihres § 4 Abs. 2 Satz 1 keine Anwendung, da der Versicherungsfall der BK im Sinne von Nr. 26 der Anlage zur 3./6. BKVO schon im Juni 1960 eingetreten sei, als der Kläger erstmalig wegen Schwerhörigkeit behandelt wurde. Im Sinne der damals geltenden Nr. 35 der Anlage zur 3./5. BKVO habe jedoch noch keine durch Lärm verursachte Taubheit oder an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit vorgelegen, so daß eine Entschädigung nach der 5. BKVO nicht zu gewähren sei.
Der Kläger beantragte mit seiner hiergegen erhobenen Klage, ihm eine Rente von 25 v.H. wegen Lärmschwerhörigkeit gemäß Nr. 26 der Anlage zur 3./6. BKVO zuzusprechen. Der als Zeuge gehörte Firmenchef L. bekundete, der Kläger sei bei seinen seit 1956 verrichteten Stemmarbeiten erheblichem Lärm ausgesetzt; es sei nicht ausgeschlossen, daß beim Kläger schon zur Zeit seines Eintritts das Hörvermögen etwas gemindert gewesen sei, im Laufe der Tätigkeit sei es aber erheblich schlechter geworden. Der Sachverständige Privatdozent Dr. V. stellte als Befund links praktische Taubheit, rechts Hörvermögen für Umgangssprache auf 3 bis 3,5 m Entfernung fest. Die Schwerhörigkeit sei durch die Lärmarbeit verursacht, die Ursache der linksseitigen Ertaubung lasse sich nicht mehr klären; der Beginn der rechtsseitigen Schwerhörigkeit liege zwischen August 1960 und Mai 1962, genauer lasse er sich nicht bestimmen. Von der insgesamt durch den Gehörschaden bedingten Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 40 v.H. entfalle auf den Lärmschaden eine MdE um 25 v.H. Dr. B. vertrat demgegenüber die Auffassung, die Hörminderung sei in der Zeit seit dem 7. Mai 1961 wahrscheinlich nicht erheblich fortgeschritten. Das Sozialgericht (SG) Hamburg hat am 22. Oktober 1963 die Beklagte antragsgemäß verurteilt: Die Voraussetzungen der Nr. 26 der Anlage zur 3./6. BKVO seien erfüllt. § 4 Abs. 2 Satz 1 der 6. BKVO stehe dem nicht entgegen; denn die Annahme der Beklagten, eine Schwerhörigkeit rentenberechtigenden Grades habe schon vor dem 7. Mai 1961 bestanden, sei weder erwiesen noch wahrscheinlich; die Ceruminalspülung durch Dr. B. im Juni 1960 sei keine Behandlung wegen Schwerhörigkeit gewesen. Nach der Bekundung des Zeugen L. sei der Kläger in dessen Betrieb auch erheblichem Lärm ausgesetzt.
Im Verfahren über die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) Hamburg u. a. die Sachverständigen Prof. Dr. Z. und Privatdozent Dr. Dr. L. gehört. Prof. Dr. Z. hat die gesamte Hörstörung – abzüglich einer physiologischen Alterskomponente – als lärmbedingt bezeichnet, hierfür eine MdE von 30 v.H. angenommen und den Eintritt einer MdE von 20 v.H. als sicher nachweisbar seit Mai 1962 erachtet. Nach den Darlegungen des Privatdozenten Dr. Dr. L. soll sich beim Kläger etwa 1945 bis 1950 eine Otosklerose ausgebildet haben, auf die sich durch die seit 1956 bestehende intensive Lärmexposition eine weitere Hörverschlechterung aufgepfropft habe, welche wahrscheinlich erst nach Mai 1961 eine MdE von 10 v.H. bedingte. Die jetzt (Juni 1965) bestehende, ausschließlich lärmbedingte MdE betrage 10 bis 15 v.H.; der Vorschaden infolge der Otosklerose sei für 1961 mit einer MdE von etwa 30 v.H. zu bewerten; wegen der Lärmgefährdung sei ein sofortiger Arbeitsplatzwechsel geboten. Das LSG hat durch Urteil vom 29. Oktober 1965 die Klage abgewiesen: Da der Kläger Umgangssprache noch aus 2 1/2 bis 3 1/2 m Entfernung verstehe, seien die Voraussetzungen der Nr. 35 der Anlage zur 3./5. BKVO zweifelsfrei nicht gegeben. Nr. 26 der Anlage zur 3./6. BKVO sei wegen der – verfassungsrechtlich bedenkenfreien (BSG 22, 63) – Vorschrift des § 4 Abs. 2 Satz 1 der 6. BKVO hier nicht anwendbar, weil der Versicherungsfall der Lärmschwerhörigkeit im Sinne von Nr. 26 der Anlage zur 3./6. BKVO beim Kläger schon längere Zeit vor dem 7. Mai 1961 eingetreten sei. Weder der Beginn der Krankheit noch der Beginn der Erwerbsunfähigkeit liege nach diesem Stichtag. Der Beginn der Krankheit sei auf Juli 1960 anzusetzen; denn der Kläger habe damals das Bedürfnis nach Lieferung eines Hörgeräts empfunden und ein solches von der Beklagten begehrt. Für den Beginn der Erwerbsunfähigkeit komme es auf den MdE-Grad von 10 v.H. an; mit diesem Vomhundertsatz sei die Lärmschwerhörigkeit des Klägers schon vor dem 7. Mai 1961 zu bewerten. Daß die MdE erst nach dem Stichtag den Grad von 20 v.H. erreicht habe, sei für den Eintritt des Versicherungsfalles nicht mehr maßgeblich. Das LSG hat die Revision zugelassen.
Gegen das am 4. Januar 1966 zugestellte Urteil hat der Kläger am 1. Februar 1966 Revision eingelegt und sie am 7. Februar 1966 folgendermaßen begründet: Das LSG habe zu Unrecht angenommen, daß der Versicherungsfall der Lärmschwerhörigkeit im Sinne der Nr. 26 der Anlage zur 3./6. BKVO beim Kläger vor dem 7. Mai 1961 eingetreten sei. Maßgebend für den Beginn der Erwerbsunfähigkeit sei der Normalfall einer MdE von 20 v.H. und nicht der Ausnahmefall einer MdE von 10 v.H. Da nach der Feststellung des LSG die BK-bedingte MdE den rentenberechtigenden Grad von 20 v.H. erst nach Mai 1961 erreicht habe, sei die Nr. 26 auf den Kläger anwendbar. Gehe man jedoch mit dem LSG davon aus, daß bereits eine MdE von 10 v.H. den Versicherungsfall auslöse, so habe das angefochtene Urteil nicht verfahrensrechtlich einwandfrei klargestellt, zu welchem Zeitpunkt dieser Grad erreicht worden sei. Insoweit leide das Berufungsverfahren an wesentlichen Mängeln. Auch der Beginn der Krankheit liege – entgegen der Annahme des LSG – erst nach dem 7. Mai 1961.
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidung in Änderung des erstinstanzlichen Urteils die Beklagte zur Entschädigungsleistung nach einer MdE von 30 v.H. zu verurteilen.
Die Beklagte beantragt
Zurückweisung der Revision.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
II
Die Revision ist statthaft und zulässig. Sie hatte auch insofern Erfolg, als die Sache unter Aufhebung des angefochtenen Urteils an die Vorinstanz zurückverwiesen werden mußte.
Da die Gehörschädigung des Klägers den Erfordernissen der Nr. 35 der Anlage zur 3./5. BKVO unstreitig nicht genügt, kommt für die Begründung des Klaganspruchs allein die Nr. 26 der Anlage zur 3./6. BKVO in Betracht. Die hierin aufgeführte BK „Lärmschwerhörigkeit” ist – wie der erkennende Senat entschieden hat (vgl. BSG 22, 63) – zulässigerweise von jeglicher Rückwirkung ausgenommen, d. h., der Versicherungsfall dieser BK darf erst nach dem 7. Mai 1961 eingetreten sein. Es kommt somit darauf an (vgl. § 3 Abs. 2 Satz 1 der 3. BKVO und § 551 Abs. 3 Satz 2 RVO), ob der Beginn der MdE oder der Beginn der Krankheit im Sinne der Krankenversicherung erst nach diesem Zeitpunkt eingetreten ist; der „Unfallzeitpunkt” als maßgebendes Kriterium des Versicherungsfalls bestimmt sich nach einem dieser beiden Ereignisse je nachdem, wie es „für den Versicherten günstiger ist”. Von den beiden zur Auswahl gestellten Terminen ist nicht – wie das LSG meint (ebenso Heuel, BG 1954, 34 und die Beklagte in ihrer Revisionserwiderung) – von vornherein stets der frühere deshalb als „günstiger” anzusehen, weil er dem Versicherten auch schon für einen früheren Zeitpunkt Leistungen verschaffe. Eine solche Betrachtungsweise versagt in Fällen der vorliegenden Art, in denen es dem Versicherten ja darauf ankommen muß, erst einmal die Rückwirkungssperre des § 4 Abs. 2 Satz 1 der 6. BKVO zu überwinden; „günstiger” ist dabei für ihn nicht der – bloß theoretisch – frühere Leistungsbeginn, sondern ein „Unfallzeitpunkt”, der erst nach dem 7. Mai 1961 liegt, da ihm nur dann überhaupt praktisch ein Leistungsanspruch eröffnet wird. Was als „günstiger” zu erachten ist, läßt sich also nicht schematisch, sondern nur aus den Umständen des jeweiligen Einzelfalls bestimmen (ebenso RVA, EuM 45, 153, 156; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 6. Aufl., S. 490 t; Lauterbach, Unfallversicherung, 3. Aufl., Anm. 26 a zu § 551; vgl. auch BSG 1, 246, 252). Im vorliegenden Fall ist es für den Kläger günstiger, wenn wenigstens eine der beiden Alternativen des Versicherungsfalls erst nach dem Inkrafttreten der 6. BKVO verwirklicht worden ist; unter diesen Umständen muß bei der Anwendung des § 4 Abs. 2 Satz 1 der 6. BKVO auf den spätestmöglichen Unfallzeitpunkt abgestellt werden.
Das LSG hat angenommen, beide Alternativen des Versicherungsfalls seien beim Kläger schon vor dem 7. Mai 1961 verwirklicht worden; die im angefochtenen Urteil hierfür gegebene Begründung trifft nach Ansicht des erkennenden Senats jedoch nicht zu.
Bezüglich des Beginns der MdE (§ 551 Abs. 3 Satz 2 RVO) bzw. – gleichbedeutend – „Erwerbsunfähigkeit” (§ 3 Abs. 2 der 3. BKVO) meint das LSG, schon das Erreichen einer MdE von 10 v.H. sei generell der hierfür maßgebende Zeitpunkt, denn manche Versicherten hätten einen Rentenanspruch schon bei diesem MdE-Grad (ebenso Heuel, aaO; Podzun, ZfS, 1957, 296). Dem kann der erkennende Senat nicht uneingeschränkt beipflichten. Mit dem LSG ist er zwar der Auffassung, daß es in diesem Zusammenhang auf eine MdE in rechtserheblichem Ausmaß, also in einem rentenberechtigenden Grad, ankommt. Hierunter ist jedoch – entgegen dem vom LSG vertretenen Standpunkt – im Regelfall nicht eine MdE um 10 v.H., sondern eine solche um 20 v.H. zu verstehen (so auch RVA, EuH 43, 102, 104; Brackmann aaO S. 490 s, t; Koetzing/Linthe, Die Berufskrankheiten, Anm. 1 zu § 3 Abs. 2 der 3. BKVO). Erst von 20 v.H. an besteht in der Regel ein Rentenanspruch (§ 559 a Abs. 3 RVO aF; § 581 Abs. 1 Nr. 2 RVO). Eine MdE von nur 10 v. H. wirkt sich allein beim Zusammentreffen mehrerer Unfall- oder Kriegsschäden aus und bildet damit einen Sondertatbestand, der für Lärmschwerhörige ohne sonstige Gesundheitsstörungen keinerlei Bedeutung haben kann. Wie die Rechtslage zu beurteilen ist, wenn ausnahmsweise beim Zusammentreffen mehrerer Unfall- oder Kriegsschädigungen Rente doch schon wegen einer MdE um 10 v.H. zu gewähren ist, braucht anläßlich dieses Falles nicht entschieden zu werden, weil insoweit keine Feststellungen über den Kläger ersichtlich sind. Von seinem abweichenden Rechtsstandpunkt aus hat das LSG auch nicht festgestellt, von welchem Zeitpunkt an die Lärmschwerhörigkeit des Klägers eine MdE um 20 v.H. verursacht hat; eine solche Feststellung kann nach Ansicht des Senats noch nicht hinreichend bestimmt der Bemerkung in den Gründen des angefochtenen Urteils entnommen werden, es spreche vieles dafür, daß die BK-bedingte MdE schon vor dem 7. Mai 1961 höher als 10 v.G. gewesen sei, allerdings habe sie erst nach diesem Stichtag den Wert von 20 v.H. erreicht.
Offengeblieben ist auch bisher die Frage, von welchem Zeitpunkt an die „Krankheit im Sinne der Krankenversicherung” beim Kläger begonnen haben könnte. Da für Arbeitsunfähigkeit des Klägers infolge der BK keinerlei Anhaltspunkt ersichtlich ist, käme in diesem Zusammenhang nur eine Behandlungsbedürftigkeit des Klägers in Betracht (vgl. Brackmann aaO S. 383 ff). HNO-ärztliche Behandlungen vor dem 7. Mai 1961 haben nicht stattgefunden, abgesehen von der Ceruminalspülung durch Dr. B. im Juni 1960; diese hat aber nach der – vom LSG nicht beanstandeten – Auffassung des SG keine Behandlung von Schwerhörigkeit dargestellt. Das LSG meint indessen, das im Juli 1960 vom Kläger geäußerte Bedürfnis nach Lieferung eines Hörgeräts bezeichne bereits den Beginn der Krankheit im Sinne der Krankenversicherung. Dem kann jedoch nicht gefolgt werden. Denn nicht auf das subjektive Verlangen des Versicherten, sondern allein auf die objektive Notwendigkeit der Gewährung eines Hörgeräts kommt es hierbei an (vgl. Lauterbach aaO Anm. 26). Der bisher festgestellte Sachverhalt läßt nicht erkennen, ob das vom Kläger damals gewünschte Hörgerät überhaupt etwas mit der Lärmschwerhörigkeit zu tun gehabt haben könnte. Da der Kläger das Gerät damals wohl kaum – wie das LSG annimmt – für das lärmgeschädigte rechte Ohr, sondern vermutlich für sein schlechter hörendes linkes Ohr haben wollte – der Sachverständige Prof. Dr. Z. erzielte noch Ende 1964 an diesem Ohr mit einem solchen Gerät ein Hörvermögen für Umgangssprache auf 1,5 m Entfernung –, fehlen für die vom LSG hergestellte Verbindung dieses vom Kläger geäußerten Wunsches mit der Berufserkrankung die ausreichenden Grundlagen.
Auf die hiernach begründete Revision muß das angefochtene Urteil aufgehoben werden. Da die bisherigen Feststellungen eine Entscheidung des Senats in der Sache selbst nicht ermöglichen, muß die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden, dem auch die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens obliegen werden.
Unterschriften
Brackmann, Demiani, Dr. Baresel
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 28.04.1967 durch Hoppe RegObSekretär als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle
Fundstellen