Leitsatz (amtlich)
Die Kriegsgefangenschaft (§ 1251 Abs 1 Nr 1 RVO) eines volksdeutschen Vertriebenen mit früherem Wohnsitz im Ausland und ausländischer Staatsangehörigkeit ist erst mit seiner Freilassung nach Deutschland in den Grenzen vom 31.12.1937 beendet.
Normenkette
RVO § 1251 Abs 1 Nr 1
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 09.04.1987; Aktenzeichen L 14 Ar 403/86) |
SG Landshut (Entscheidung vom 25.03.1986; Aktenzeichen S 10 Ar 215/85) |
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist die Anerkennung einer weiteren Ersatzzeit vom 16. Juli 1956 bis 24. Juni 1979 streitig.
Der 1926 in der Ukraine/UdSSR geborene Kläger ist deutscher und sowjetischer Staatsangehöriger. Er wurde Ende des 2. Weltkrieges zur deutschen Wehrmacht einberufen, kam zum Fronteinsatz und geriet im April 1945 auf dem Gebiet des damaligen Deutschen Reiches in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Im Dezember 1945 wurde er als Kriegsgefangener in die Sowjetunion verbracht. Nach geglückter Flucht wurde er Ende Dezember 1946 verhaftet und bis Juni 1953 in verschiedenen Haftlagern festgehalten. Von Juni 1953 an konnte er trotz Fortbestehens der Internierung auf verschiedenen Arbeitsstellen erwerbstätig sein. In dieser Zeit arbeitete er tagsüber auf einer Arbeitsstelle, mußte aber nachts im Lager sein. 1956 erhielt er einen Paß und konnte sich mit Ausnahme seines Heimatgebietes in der UdSSR frei bewegen; er durfte jedoch nicht ausreisen. Er ging verschiedenen Beschäftigungen nach. Den Willen zur Ausreise hatte er nicht aufgegeben. Am 24. Juni 1979 kam er als Spätaussiedler in die Bundesrepublik Deutschland. Er erhielt den Vertriebenenausweis A (ausgestellt vom Landratsamt L. am 24. Januar 1980).
Die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) bewilligte dem Kläger ab 1. Juni 1980 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (Bescheid vom 3. Dezember 1981). Sie wies darauf hin, daß die Rente nur aus dem bisher nachgewiesenen Zeitraum berechnet sei. Für die Weiterzahlung der Rente und die weiteren Ermittlungen sei die Beklagte zuständig. Mit dem Widerspruch machte der Kläger geltend, auch die Zeit bis 1956 sei anzuerkennen. Die Kürzung seiner Versicherungszeiten auf 5/6 sei unberechtigt. Die BfA wies den Widerspruch zurück und gab die Akten an die Beklagte ab (Widerspruchsbescheid vom 6. Juli 1983). Im Klageverfahren erkannte die Beklagte die Zeit vom 1. Januar 1947 bis 15. Juni 1953 als Ersatzzeit iS von § 1251 Abs 1 Nr 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) an. Darauf nahm der Kläger die Klage zurück.
Die Beklagte führte das Anerkenntnis aus und stellte die Rente neu fest (Bescheid vom 12. September 1984). Mit dem hiergegen eingelegten Widerspruch machte der Kläger die Anerkennung einer weiteren Ersatzzeit bis zum 24. Juni 1979 geltend, weil er nach der ihm erteilten Heimkehrerbescheinigung erst zu diesem Zeitpunkt aus der Kriegsgefangenschaft entlassen worden sei. Dies lehnte die Beklagte unter Hinweis auf die im Vorprozeß zurückgenommene Klage ab (Widerspruchsbescheid vom 7. März 1985).
Auf die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) die Beklagte verurteilt, die Zeit vom 16. Juni 1953 bis 15. Juli 1956 als Ersatzzeit zu berücksichtigen; im übrigen hat es die Klage abgewiesen (Urteil vom 25. März 1986). Auf die lediglich vom Kläger eingelegte Berufung hat das Landessozialgericht (LSG) die Beklagte verurteilt, den Zeitraum vom 16. Juli 1956 bis 24. Juni 1979 als weitere Ersatzzeit zu berücksichtigen (Urteil vom 9. April 1987). Es hat im wesentlichen ausgeführt: Der Kläger sei als anerkannter Heimkehrer bis 1979 noch Verschleppter gewesen. Die Verschleppung iS des § 1251 Abs 1 Nr 2 RVO habe begonnen, als der Kläger als Kriegsgefangener in die Sowjetunion verbracht worden sei. Sie habe erst geendet, als er die Sowjetunion habe verlassen können. Die Beklagte sei deshalb gemäß § 44 Abs 1 Sozialgesetzbuch - Zehntes Buch - (SGB 10) verpflichtet, die streitige Zeit als Ersatzzeit anzuerkennen.
Die Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie hält die Klage für unzulässig und rügt im übrigen eine Verletzung des § 1251 Abs 1 RVO.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 25. März 1986 zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die durch Zulassung statthafte Revision der Beklagten ist nicht begründet.
Entgegen der Auffassung der Beklagten fehlt es nicht an einem - für die erhobene Leistungsklage gemäß § 54 Abs 1, 2 und 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) erforderlichen - ablehnenden Verwaltungsakt. Der Kläger hat mit seinem Widerspruch gegen den das Teilanerkenntnis aus dem Vorprozeß ausführenden Bescheid vom 12. September 1984 die zusätzliche Anerkennung einer weiteren Ersatzzeit bis 24. Juni 1979 begehrt. Der Widerspruch enthält damit sinngemäß den Antrag auf Erlaß eines begünstigenden Verwaltungsaktes nach § 44 Abs 1 SGB 10, den die Beklagte abgelehnt hat. Dies ergibt sich jedenfalls aus ihrer Einlassung im Klageverfahren, weil sie in ihrem Schriftsatz vom 28. August 1985 ausgeführt hat, sie sehe auch unter Beachtung des § 44 SGB 10 keinen Anlaß, ihre im Widerspruchsbescheid vertretene Rechtsauffassung zu revidieren.
Der zusätzlichen Berücksichtigung der streitigen Zeit als Ersatzzeit bei der dem Kläger bewilligten Versichertenrente steht auch nicht - wie die Beklagte meint - die Einigung der Beteiligten im Vorprozeß entgegen, mit der sie die Anerkennung der Zeit vom 1. Januar 1947 bis 15. Juni 1953 als Ersatzzeit vereinbart hatten. Der erkennende Senat folgt der insoweit übereinstimmenden Rechtsprechung des 2., 9. und 11. Senats des Bundessozialgerichts (BSG), wonach es sich hier lediglich um einen sogenannten prozessualen Verzicht des Klägers im Vorprozeß handelt mit der Folge, daß dieser nichts an der Verpflichtung der Beklagten ändert, den Ausführungsbescheid vom 12. September 1984 als rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsakt gemäß § 44 Abs 1 SGB 10 zurückzunehmen, soweit er nicht der materiellen Rechtslage entspricht (vgl BSG in SozR 2200 § 1251 Nr 115 S 321 mwN). Dies ist vom LSG bezüglich der streitigen Ersatzzeit im Ergebnis zu Recht bejaht worden.
Nach den für das Revisionsgericht gemäß § 163 SGG bindenden Feststellungen des LSG geriet der Kläger als deutscher Wehrmachtsangehöriger im April 1945 in Kriegsgefangenschaft und wurde von der russischen Gewahrsamsmacht ohne Unterbrechung bis Juni 1979 gehindert, in das deutsche Reichsgebiet "in den Grenzen des Jahres 1939" zurückzukehren. Der erkennende Senat sieht bei einem derartigen Sachverhalt für den genannten Gesamtzeitraum die Voraussetzungen für die Anrechnung einer Ersatzzeit gemäß § 1251 Abs 1 Nr 1 RVO wegen bestehender Kriegsgefangenschaft iS dieser Vorschrift als erfüllt an. Das LSG will demgegenüber die streitige Zeit gemäß § 1251 Abs 1 Nr 2 RVO als Ersatzzeit wegen Verschleppung berücksichtigt wissen und geht dabei davon aus, daß eine solche für in Kriegsgefangenschaft geratene Wehrmachtsangehörige nicht ausgeschlossen sei. Hiergegen bestehen im Hinblick auf die Systematik der in § 1251 Abs 1 RVO enumerativ aufgeführten Ersatzzeittatbeständen Bedenken. Auf die von der Beklagten mit der Revision vorgetragene diesbezügliche Rechtsauffassung kommt es indes für die hier zu treffende Entscheidung letztlich nicht an.
Der Kläger ist nämlich so lange kriegsgefangen gewesen, so lange er noch nicht nach Deutschland zurückkehren durfte. Die Kriegsgefangenschaft endete hier also nicht vor seiner Ausreise nach Deutschland. Dabei spielt es keine Rolle, daß der Kläger bereits geraume Zeit vor seiner Ausreise ein weitgehend normales Leben führen konnte. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) endet die Kriegsgefangenschaft außer durch gelungene Flucht nur durch Freilassung und Heimschaffung. Auf das Urteil des BVerwG vom 22. September 1986 (Buchholz 412.4. § 2 KgfEG Nr 41 mwN) wird insoweit besonders verwiesen. Danach ist, wer noch zwangsweise im Gewahrsamsland festgehalten wird, noch gefangen. Dabei spielt ein Wechsel der Gewahrsamsmacht und/oder des Festhaltegrundes im Laufe der Gefangenschaft keine Rolle. Maßgebend ist allein der ursprüngliche Grund der Festnahme. Die Heimschaffung, mit der die Kriegsgefangenschaft endet, bedeutet die Rückführung des Kriegsgefangenen in seine Heimat, wobei Heimat für ihn jener Staat ist, von dem er abhängt. Für Kriegsgefangene deutscher Volkszugehörigkeit ist dies Deutschland. Sie sind erst heimgeschafft, wenn sie - so ausdrücklich das BVerwG in dem genannten Urteil - "irgendwohin nach Deutschland in den Grenzen vom 31. Dezember 1937" verbracht worden sind. Das gilt auch für volksdeutsche Kriegsgefangene, die - wie der Kläger - früher im Ausland beheimatet waren und auch die ausländische Staatsangehörigkeit besitzen. Der erkennende Senat macht sich diese Auslegung des Begriffs der Kriegsgefangenschaft auch für den Ersatzzeittatbestand des § 1251 Abs 1 Nr 1 RVO jedenfalls für den - hier vorliegenden - Fall zu eigen, daß der streitige Zeitraum wegen des Festhaltens des Versicherten durch feindliche Maßnahmen im Ausland gemäß § 1251 Abs 1 Nr 3 RVO als Ersatzzeit anzurechnen wäre, wenn der Versicherte - anders als der Kläger - kein Kriegsteilnehmer gewesen wäre (vgl Urteil des erkennenden Senats vom 8. April 1987 in SozR 2200 § 1251 Nr 126). Es würde der ratio legis der Ersatzzeitenregelung widersprechen, insoweit zwischen einem "ursprünglich" in Gefangenschaft geratenen Wehrmachtsangehörigen und einem von Anfang an den Status einer Zivilperson besitzenden Versicherten iS der Besserstellung der letzteren zu unterscheiden.
Der Entscheidung des erkennenden Senats steht die bisherige Rechtsprechung des BSG nicht entgegen. Das BSG hat den in § 1251 Abs 1 Nr 1 RVO nicht näher definierten Begriff der Kriegsgefangenschaft stets völkerrechtlich interpretiert. Danach ist Kriegsgefangener, wer wegen seiner Zugehörigkeit zu einem militärischen oder militärähnlichen Verband gefangengenommen worden ist und von einer feindlichen (ausländischen) Macht festgehalten wird (vgl Urteil des 4a Senats des BSG vom 28. November 1985 in SozR 2200 § 1251 Nr 117 mwN, unter Hinweis auf die Genfer Abkommen vom 27. Juli 1929 - RGBl II 1934, 227 - und 12. August 1949 - BGBl II 1954, 781 -). Beide Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall für den streitigen Zeitraum zu bejahen. Nach der Rechtsprechung des BSG kann allerdings - abweichend von dem Urteil des BVerwG vom 22. September 1986 aaO - eine Kriegsgefangenschaft nur so lange andauern, so lange eine innere Beziehung zwischen der Festnahme als Kriegsgefangener und dem späteren Grund des Gefangenhaltens besteht. Einen derartigen inneren Zusammenhang hat das BSG indes - soweit ersichtlich - nur für Zeiten eines aus politischen Gründen verhängten sogenannten "automatischen Arrestes" verneint (vgl BSG in SozR Nr 47 zu § 1251 RVO; SozR 2200 § 1251 Nrn 69, 75, 82 und 85). Im vorliegenden Fall handelt es sich aber nicht um derartige Zeiten. Desgleichen besteht hier kein ausreichender Anhalt dafür, daß sich beim Kläger der Grund für die ursprüngliche Festnahme als Kriegsgefangener geändert haben soll.
Die Entscheidung des erkennenden Senats widerspricht auch nicht dem Urteil des 4. Senats vom 1. März 1967 (SozR Nr 25 zu § 1251 RVO). Der 4. Senat hat in diesem Urteil die für das Recht der Kriegsopferversorgung (KOV) vertretene Auffassung, Kriegsgefangener könne nicht mehr gewesen sein, wer sich in einem - nach arbeitsrechtlichen Vorschriften zu beurteilenden - Arbeitsverhältnis befunden und dem Schutz der Sozialversicherung unterstanden habe (vgl BSGE 3, 268), für die Auslegung des § 1251 Abs 1 Nr 1 RVO nicht generell, sondern nur für die Rechtssituation übernommen, die durch Art 3 § 1 der 4. Zusatzvereinbarung zum Allgemeinen Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich über soziale Sicherheit vom 10. Juli 1950 (BGBl II 1951, 177, 195) geschaffen worden ist. Abgesehen davon, daß die vom Kläger im streitigen Zeitraum im Gewahrsamsland ausgeübten Beschäftigungen nach den Ausführungen des LSG weder Beitrags- noch Beschäftigungszeiten iS der §§ 15, 16 des Fremdrentengesetzes sind, hat der 9. Senat des BSG mit Urteil vom 23. August 1960 (BSGE 13, 16, 17) auch für den Bereich der KOV entschieden, daß eine - beim Kläger bis zur Ausreise im Jahre 1979 gegebene - beschränkte örtliche Bewegungsfreiheit die Kriegsgefangenschaft nicht beendet und diese jedenfalls in den Ostblockstaaten auch dann fortbesteht, wenn sie in ein ziviles Arbeitsverhältnis "überführt" wird.
Schließlich ist der erkennende Senat an seiner Entscheidung auch nicht durch das Urteil des 4a Senats des BSG vom 28. November 1985 aaO gehindert. Denn dort ist eine Kriegsgefangenschaft iS des § 1251 Abs 1 Nr 1 RVO für die Zeit der Inhaftierung eines Franzosen in Frankreich nach dem 2. Weltkrieg aufgrund der Verurteilung durch ein französisches Militärgericht verneint worden. Insoweit fehlt es also an einem mit dem vorliegenden Fall vergleichbaren Sachverhalt, zumal dem dortigen Versicherten die deutsche Staatsangehörigkeit erst später durch besondere Urkunde verliehen wurde, während beim Kläger die Eigenschaft als volksdeutscher Vertriebener und damit als Deutscher iS des Art 116 Grundgesetz bereits durch den Vertriebenenausweis A verbindlich festgestellt ist (vgl §§ 1 Abs 1, 15 Abs 5 Bundesvertriebenengesetz).
Der Revision der Beklagten mußte nach alledem der Erfolg versagt bleiben; sie war zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen