Entscheidungsstichwort (Thema)

Bestehen einer Unterhaltsverpflichtung. Anspruch auf Geschiedenenwitwenrente

 

Orientierungssatz

Ein Anspruch auf Geschiedenenwitwenrente besteht auch dann, wenn der Unterhalt, den die frühere Ehefrau zur Zeit des Todes des geschiedenen Ehemannes erhalten hat, nur 23,02 % des zeitlich und örtlich notwendigen Mindestbedarfs ausmacht. Die geringfügige Unterschreitung der mit der Entscheidung des BSG vom 1964-10-27 4 RJ 383/61 = BSGE 22, 44 festgelegten Prozentzahl (25 %) muß noch als ausreichend für die Bejahung einer Unterhaltsverpflichtung iS des RKG § 65 S 2 Nr 1 (= RVO § 1265 S 2 Nr 1) angesehen werden.

 

Normenkette

RKG § 65 S 2 Nr 1 Fassung: 1972-10-16; RVO § 1265 S 2 Nr 1 Fassung: 1972-10-16

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 05.09.1978; Aktenzeichen L 15 Kn 1/77)

SG Dortmund (Entscheidung vom 10.11.1976; Aktenzeichen S 23 Kn 35/76)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin eine Geschiedenenrente aus der knappschaftlichen Rentenversicherung zu zahlen ist, obwohl der Unterhalt, den die Witwe von dem Versicherten zur Zeit seines Todes zu erhalten hatte, nur 23,02 % ihre notwendigen Mindestbedarfs ausmachte.

Die 1914 geborene Klägerin war bis 1947 mit dem Versicherten verheiratet. Bei der Scheidung der Ehe im Jahre 1947 aus dem Verschulden des Versicherten schloß die Klägerin mit dem Versicherten einen Unterhaltsvergleich, mit dem der Versicherte sich verpflichtete, neben den Zahlungen an die beiden ehelichen Kinder an die Klägerin eine Unterhaltsrente von 50 RM monatlich zu erbringen. Der Versicherte verzichtete auf Abänderung dieser Rente bei eigener Wiederheirat, die Beklagte verzichtete auf höhere Unterhaltsansprüche. Während der Versicherte von 1956 bis 1958 zum zweiten und vom Juni 1967 bis zu seinem Tode zum dritten Male verheiratet war, ging die Klägerin keine neue Ehe mehr ein.

Als der Versicherte am 27. Juni 1967 starb, gewährte die Hessische Knappschaft der Witwe Witwenrente aus der knappschaftlichen Versicherung und der Rentenversicherung der Angestellten. Diese Rente wurde 1970 abgefunden, weil sich die Witwe im Mai 1970 wiederverheiratet hatte.

Einen Antrag der Klägerin auf Hinterbliebenenrente lehnte die Hessische Knappschaft 1968 mit der Begründung ab, weil die Voraussetzungen des § 65 Reichsknappschaftsgesetz (RKG) in der damals gültigen Fassung nicht erfüllt seien. Einen erneut gestellten Antrag der Klägerin auf Hinterbliebenenrente lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 2. Oktober 1973 ab, weil nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) eine frühere Ehefrau des Versicherten erst nach Ablauf von 5 Jahren seit der Wiederheirat der Witwe Hinterbliebenenleistungen verlangen könne, und auch nur dann, wenn der (abgefundene) Anspruch auf Witwenrente in der Zwischenzeit nicht wieder aufgelebt sei. Ein Anspruch nach § 65 Satz 2 RKG bestehe deshalb während des Abfindungszeitraumes vom Juni 1970 bis Mai 1975 nicht. Im Januar 1975 beantragte die Klägerin erneut Hinterbliebenenrente. Die Beklagte lehnte diesen Antrag ab (Bescheid vom 6. Juni 1975; Widerspruchsbescheid vom 13. Februar 1976). Die im Unterhaltsvergleich vereinbarten Zahlungen in Höhe von monatlich 50 RM stellten keinen Unterhalt dar, der durch den Tod des Versicherten fortgefallen sei. Auf höheren Unterhalt habe die Klägerin verzichtet.

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 10. November 1976). Mit Urteil vom 5. September 1978 hat das Landessozialgericht (LSG) die Berufung zurückgewiesen und im wesentlichen ausgeführt:

Unterhalt iS des § 65 RKG liege nur dann vor, wenn der geschuldete Betrag wenigstens etwa ein Viertel des notwendigen Mindestbedarfs der geschiedenen Frau erreiche. Der Umfang dieses Mindestbedarfs richte sich nach den örtlich und zeitlich maßgebenden Regelsätzen der Sozialhilfe zuzüglich Unterkunftsbedarf, der entsprechend § 3 der Regelsatzverordnung nach der Höhe der tatsächlichen Aufwendungen für die Wohnung zu bestimmen sei. Der Regelsatz der Sozialhilfe habe in der Zeit von Juni 1966 bis zum Tod des Versicherten im Juni 1967 137,-- DM betragen. Die Klägerin habe seit September 1966 zur Abdeckung der Miet- und Nebenkosten einen Betrag von 75,70 DM plus 4,50 DM = 80,20 DM monatlich aufbringen müssen. Daraus errechne sich ein notwendiger Mindestbedarf von 217,20 DM, so daß der aus den Gründen des § 65 Satz 2 RKG weggefallene Unterhaltsanspruch der Klägerin einem Betrag von etwa 54,30 DM entsprochen haben müßte. Dieser Grenzwert werde aber mit dem vereinbarten Unterhalt von 50,-- DM unterschritten, der lediglich 23,02 % des notwendigen Mindestbedarfs ausmache. Eine Aufrundung auf 25 % sei nicht möglich. Denn bei einem Unterschied von annähernd 2 % lasse sich nicht mehr feststellen, daß der entgangene Unterhalt "etwa" 25 % des notwendigen Mindestbedarfs erreicht habe, zumal dieser Wert ohnehin eine Mindestgröße darstelle.

Mit der zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 65 Satz 2 RKG durch das Berufungsgericht.

Die Klägerin beantragt,

das angefochtene Urteil sowie das Urteil des

Sozialgerichts Dortmund vom 10. November 1976

und die Bescheide der Beklagten vom 6. Juni 1975

und 13. Februar 1976 aufzuheben und die Beklagte

zu verurteilen, der Klägerin ab 1. Januar 1973

Geschiedenenrente zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin ist hinsichtlich der ab 1. Juli 1975 begehrten Hinterbliebenenrente begründet, hinsichtlich des vor diesem Zeitpunkt liegenden Zeitraumes ist sie unbegründet.

Wie das LSG richtig ausgeführt hat, steht aufgrund der bindend gewordenen Bescheide aus den Jahren 1968 und 1973 fest, daß ein Hinterbliebenenrentenanspruch der Klägerin gem § 65 RKG in der damals geltenden Fassung (und damit in der Fassung des heutigen § 65 Abs 1 Satz 1 RKG) nicht besteht. Keine bindende Feststellung getroffen - jedenfalls für die Zeit seit dem 1. Juli 1975 - ist darüber, ob ein Anspruch der Klägerin nach § 65 Satz 2 RKG idF des Rentenreformgesetzes vom 16. Oktober 1972 (BGBl I, 1965 entstanden ist.

Nach den Feststellungen des LSG liegt im Falle der Klägerin jeweils eine der in Nr 2 und 3 des § 65 Satz 2 RKG alternativ aufgeführten Voraussetzungen vor. Das Berufungsgericht hat den Hinterbliebenenrentenanspruch der Klägerin lediglich deshalb abgelehnt, weil eine Unterhaltsverpflichtung iS der Nr 1 der Vorschrift unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des BSG zum Mindestbedarf eines Unterhaltsberechtigten zu verneinen sei. Dem kann nicht gefolgt werden.

Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG ist zwar nicht jeder Betrag, den ein Versicherter an seinen früheren Ehegatten zu zahlen hatte, auch Unterhalt iS des § 65 RKG. Unter Berücksichtigung der grundsätzlichen Unterhaltsersatzfunktion der Hinterbliebenenrente und ihrer Höhe, die nicht vom konkret gezahlten Unterhalt, sondern von der Gestaltung der Versicherung des Verstorbenen abhängt, und unter Berücksichtigung der evtl Aufteilung der vom Versicherungsträger geschuldeten Hinterbliebenenrente zwischen der Witwe und der früheren Ehefrau hat das BSG in ständiger Rechtsprechung entschieden, daß als Unterhalt iS des Hinterbliebenenrentenrechts nur ein Betrag anzusehen ist, der nominell ins Gewicht fällt; als solchen Betrag hat es einen Unterhaltsanspruch oder eine Zahlung angesehen, von der gesagt wird, sie mache "in der Regel etwa 25 vH" oder "wenigstens 25 vH" des Betrages aus, der unter den gegebenen zeitlichen und örtlichen Verhältnissen zur Deckung des notwendigen Mindestbedarfs benötigt werde (Urteile vom 27. Oktober 1964, BSGE 22, 44 = SozR Nr 26 zu § 1265 RVO; 14. März 1968, SozR Nr 41 zu § 1265 RVO; 22. November 1968, 11 RA 62/68; 20. März 1969, SozR Nr 49 zu § 1269 RVO; 18. Dezember 1974, SozR 2200 § 1265 Nr 3; 4. Juni 1975, SozR 2200 § 1265 Nr 4; 25. Juni 1975, SozR § 1265 Nr 5; 29. Juni 1976, 5 RKn 16/75; 16. März 1977, SozR 2200 § 1265 Nr 26; 24. November 1978, SozR 2200 § 1265 Nr 36).

Das LSG hat den zwischen der Klägerin und dem Versicherten vereinbarten Unterhalt nach den Berechnungsgrundsätzen dieser Entscheidungen richtig mit 23,02 vH des notwendigen Mindestbedarfs errechnet. Wie der Senat bereits im Urteil vom 29. Juni 1976 aaO ausgeführt hat, besteht keine Notwendigkeit, den grundsätzlichen Grenzwert von 25 vH als exakt genaue Prozentsatzzahl anzusehen. Die gesamte genannte Rechtsprechung des BSG geht auf die Entscheidung des 4. Senats vom 27. Oktober 1964 aaO zurück. In dieser Entscheidung wird ausgeführt, es entspreche nicht der Verkehrsauffassung, verschwindend geringfügige, wenn auch regelmäßige, Zuwendungen als Unterhaltsleistung iS des § 1265 RVO zu bezeichnen. Für einen Hinterbliebenenrentenanspruch sei vielmehr in der Regel etwa 25 vH des zeitlich und örtlich notwendigen Mindestbedarfs eines Unterhaltsberechtigten erforderlich. Dieser, auch allen nachfolgenden Urteilen zugrunde liegende, Gedanke - alle Urteile wiederholen ihn oder nehmen auf dieses erste Urteil des 4. Senats vom 24. Oktober 1964 Bezug - läßt erkennen, daß der Anspruch nicht schon dann verneint werden darf, wenn die exakte Grenze von 25 vH des notwendigen Mindestbedarfs nicht ganz erreicht wird. Gerade deshalb werden bereits in dieser ursprünglichen Entscheidung und auch in nahezu allen der Urteile, die später ergangen sind, die Worte "in der Regel etwa 25 vH" gebraucht. Dieser ungefähre Betrag kann deshalb nur als Grenzwert gelten, von dem ab auf jeden Fall eine Unterhaltsleistung nicht mehr "verschwindend geringfügig" ist. Soweit Urteile des BSG davon sprechen, der zu zahlende Unterhaltsbetrag müsse "wenigstens 25 %" des Unterhalts decken (so die Urteile vom 18. Dezember 1974 und 16. März 1977 aaO) oder soweit die Grenze von 25 % ausnahmsweise ohne den Zusatz des Wortes "etwa" genannt wird (so zB Urteil vom 24. November 1978 aaO), handelt es sich um Fälle, in denen die Rente zugesprochen wurde oder der Unterhaltsanspruch bzw gezahlte Unterhalt auch absolut außerordentlich niedrig war, so daß damit ein Mindestbedarf von etwa 25 vH ohnehin nicht zu erreichen gewesen wäre.

Demgegenüber muß die hier vorliegende geringe Unterschreitung dieser Prozentzahl noch als ausreichend für die Bejahung einer Unterhaltsverpflichtung iS des § 65 Satz 2 Nr 1 RKG angesehen werden. Wie das LSG festgestellt hat, benötigte die Klägerin seit September 1966 zur Abdeckung der Miet- und Nebenkosten einen Betrag von 80,20 DM. Mit einer Unterhaltszahlung von 50,-- DM hätte sie daher mehr als die Hälfte ihrer Miet- und Nebenkosten decken können. Für die Klägerin wäre daher der vereinbarte Unterhalt keineswegs ein verschwindend geringfügiger Betrag gewesen. Damit im Einklang hat auch der 11. Senat des BSG im Urteil vom 22. November 1968 aaO sich nicht auf eine exakte Prozentzahl festgelegt, vielmehr es für den Anspruch genügen lassen, wenn der Betrag in den Jahren 1964/65 "etwa 40,-- bis 50,-- DM" betrug, weil eine solche Zahlung in den Regelfällen für die Lebenshaltungskosten der geschiedenen Frau damals meistens erheblich gewesen sei. Diesen Regelfall hat der 11. Senat dann bejaht, wenn der Betrag etwa 10 vH des sonstigen Nettoeinkommens der geschiedenen Frau aus Arbeitsverdienst ausmache. Im vorliegenden Fall kann dann für den hier maßgebenden Zeitraum (1966/1967) nichts anderes gelten, zumal die Klägerin nach den Feststellungen des LSG im Jahre 1967 ein Bruttoarbeitsentgelt von lediglich 5.842,-- DM hatte und demzufolge eine Unterhaltszahlung von monatlich 50,-- DM sogar mehr als 10 vH ihres Bareinkommens betragen hätte.

Wie das BSG bereits entschieden hat (BSGE 29, 296 = SozR Nr 50 zu § 1265 RVO), kann der Anspruch der früheren Ehefrau des Versicherten auf Hinterbliebenenrente frühestens nach Ablauf von 5 Jahren seit der Wiederheirat der Witwe entstehen. Da die Abfindung einen 5-Jahreszeitraum abdeckt, würde die Gewährung einer Rente an die frühere Ehefrau des Versicherten, die vor Ablauf dieses Zeitraums erfolgt, auf eine Doppelzahlung hinauslaufen, die § 65 Satz 2 RKG gerade vermeiden will. Da die Witwe des Versicherten im Mai 1970 wieder geheiratet hatte, lehnte die Beklagte im Einklang mit der genannten Entscheidung des BSG im bindend gewordenen Bescheid vom 2. Oktober 1973 einen Anspruch der Klägerin für den von der Abfindung an die Witwe umfaßten Zeitraum vom Juni 1970 bis Mai 1975 ab. Seit dem 1. Juni 1975 lagen somit die Voraussetzungen für die Gewährung der Rente vor. Nach § 82 Abs 1 Satz 1 RKG iVm Abs 4 der Vorschrift, hat deshalb die Klägerin Hinterbliebenenrente erst ab dem 1. Juli 1975 zu erhalten. Soweit die Klägerin die Rente bereits für die davor liegende Zeit ab 1. Januar 1973 begehrt, muß ihrer Revision der Erfolg versagt bleiben.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs 1 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1657410

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