Entscheidungsstichwort (Thema)

Letzter wirtschaftlicher Dauerzustand

 

Leitsatz (amtlich)

Der Anspruch des Ehemannes auf Witwerrente nach RVO § 1266 scheitert nicht daran, daß er nach dem Tode seiner versicherten Frau seinen Unterhalt aus den Einkünften eines Geschäfts bestreitet, das er von der Versicherten geerbt hat und weiterführt.

 

Orientierungssatz

Der letzte wirtschaftliche Dauerzustand beginnt mit der letzten wesentlichen Änderung der wirtschaftlichen Verhältnisse eines Familienmitglieds mit Dauerwirkung und endet mit dem Tode der Versicherten. Letzteres kann auch dann gelten, wenn dem Tode der Versicherten eine Zeit der Erkrankung mit einer dadurch verursachten Verschlechterung der Unterhaltslage vorausgegangen ist. Auch eine solche Erkrankung kann, insbesondere, wenn sie sich über einen längeren Zeitraum erstreckt hat, den letzten wirtschaftlichen Dauerzustand prägen und deshalb bei dessen Bestimmung nicht generell außer acht bleiben. Im Einzelfall kann es dann, wenn die Erkrankung in verhältnismäßig kurzer Zeit zum Tode geführt und somit gleichermaßen die Vorstufe des Todes dargestellt hat, aus Billigkeitsgründen gerechtfertigt sein, die durch sie bewirkte Verschlechterung der Unterhaltslage nicht als Prüfungsmaßstab für die Voraussetzungen der Witwerrente anzulegen und statt dessen das Ende des letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes auf den Beginn der zum Tode führenden Krankheit festzulegen (vgl hierzu insbesondere BSG vom 1973-03-08 11 RA 246/72 = BSGE 35, 243, BSG vom 1978-05-30 1 RA 71/77 = SozR 2200 § 1266 Nr 7).

 

Normenkette

AVG § 43 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1266 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

LSG Berlin (Entscheidung vom 16.08.1978; Aktenzeichen L 6 J 55/77)

SG Berlin (Entscheidung vom 20.01.1977; Aktenzeichen S 25 J 1922/74)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 16. August 1978 aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Streitig ist ein Anspruch auf Witwerrente. Der 1912 geborene, kriegsbeschädigte Kläger, gelernter Friseur, ist der Witwer der am 13. Januar 1974 verstorbenen selbständigen Friseurmeisterin und Versicherten S K. Ihr hatte die Beklagte ab 1. April 1973 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit gewährt. In dem unter ihrem Namen betriebenen Friseurgeschäft arbeitete der Kläger mit. Er führt nach dem Tode seiner Frau dieses Geschäft weiter.

Den Antrag des Klägers auf Witwerrente lehnte die Beklagte mit der Begründung ab, der Kläger habe schon vor dem Tode der Frau überwiegend die Einkünfte aus dem Gewerbebetrieb erzielt (Bescheid vom 24. Juli 1974).

Im Streitverfahren hat das Landessozialgericht (LSG) unter Aufhebung des entgegenstehenden Urteils des Sozialgerichts (SG) diesen Bescheid bestätigt. Es ist der Auffassung, es sei gleichgültig, wer durch seine Arbeitskraft bis zum Tode der Versicherten den Gewinn erzielt habe. Ausschlaggebend sei, daß der Kläger nach dem Tode der Versicherten seinen Unterhalt aus den Einnahmen des Friseurgeschäfts bestreite. Die Einkünfte aus dem Geschäft seien nach dem Todesfall nicht wesentlich abgefallen. Da für den Kläger durch den Tod seiner Ehefrau kein Unterhalt weggefallen sei, sei kein Unterhaltsbeitrag der Versicherten durch die Gewährung einer Witwerrente auszugleichen.

Gegen dieses Urteil richtet sich die vom LSG zugelassene Revision des Klägers. Er führt aus, die Tatsache, daß das von ihm weitergeführte Friseurgeschäft seinen Lebensunterhalt sicherstelle, könne mangels einer gesetzlichen Bestimmung nicht gerichtlich überprüft werden. Anderenfalls hätte ausdrücklich Entsprechendes bestimmt werden müssen. Die Tatsache, daß er besser gestellt sei als andere Witwer, rechtfertige nicht die Ablehnung der Gewährung einer Witwerrente.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des Landessozialgerichts Berlin vom 16. August 1978 und des Bescheides der Beklagten vom 24. Juli 1974 kostenpflichtig zu verurteilen, ihm mit Wirkung ab 1. Februar 1974 Witwerrente zu gewähren,

hilfsweise,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für richtig.

Im Termin zur mündlichen Verhandlung war für die Beteiligten niemand erschienen. Der Senat hat hierauf beschlossen, gemäß § 126 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) nach Lage der Akten zu entscheiden.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision ist mit ihrem Hilfsantrag auf Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz begründet.

Nach § 1266 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung - RVO - (§ 43 Abs 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG) erhält der Ehemann nach dem Tode der versicherten Ehefrau Witwerrente, wenn die Verstorbene den Unterhalt ihrer Familie überwiegend bestritten hat.

Entgegen der Ansicht des LSG entfällt die Anwendbarkeit dieser Vorschrift nicht dann, wenn der Witwer unter Einsatz eines von der Versicherten ererbten Vermögens durch eine eigene Erwerbstätigkeit Einkünfte erzielt, mit denen er seinen Lebensunterhalt bestreiten kann. Weder Wortlaut noch der mit ihm zu verbindende Sinngehalt lassen eine solche Begrenzung der Anwendungsbreite des § 1266 RVO erkennen. Da die Witwerrente - wie grundsätzlich alle Leistungen aus der Sozialversicherung - nicht von der Bedürftigkeit des Empfängers abhängt, wäre eine solche Begrenzung der Vorschrift aus den vom LSG dargelegten Gründen auch ungewöhnlich.

Die Annahme des LSG, der Kläger werde ungerechtfertigt besser gestellt als der Witwer, dessen Frau zuletzt abhängig gearbeitet hat, geht fehl. Auch eine solche Frau könnte ihrem Ehemann - eine entsprechende Vermögenslage vorausgesetzt - Vermögenswerte hinterlassen, mit deren Hilfe er sich seinen Unterhalt erwerben könnte. Daß ein Witwer nach seiner Frau selbst dann gemäß den Vorschriften des Erbrechts erben kann, wenn er Anspruch auf Witwerrente hat, beruht darauf, daß nach der deutschen Rechtsordnung Erbrecht und Sozialrecht unabhängig nebeneinander bestehen.

Im übrigen wird die vom LSG für unerträglich empfundene Situation gerade in einem Fall der vorliegenden Art in der Lebenswirklichkeit nur sehr selten angetroffen werden können. Sind beide Ehegatten "vom Fach", so werden sie das einem von ihnen gehörende Geschäft vielfach unabhängig von der nach außen gewählten Rechtsform gemeinschaftlich betreiben mit der Folge, daß keiner von ihnen den Unterhalt der Familie "überwiegend bestritten" haben wird. Denn dann liegt regelmäßig eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts im Innenverhältnis vor, die bei fehlender abweichender Bestimmung jeden Ehegatten berechtigt, von den Einkünften aus dem gemeinsamen Geschäft die Hälfte zu erhalten (vgl BSG SozR 2200 § 1266 Nr 1; Entscheidung des erkennenden Senats BSGE 40, 161 = SozR 2200 § 1266 Nr 3).

Nach § 1266 Abs 1 RVO hängt der Anspruch des Ehemannes auf Witwerrente davon ab, daß die Verstorbene den Unterhalt der Familie überwiegend bestritten hat. Maßgebend für die Beurteilung des Anspruchs ist mithin ein Zeitpunkt oder eine Zeitspanne bei oder vor dem Tode der versicherten Ehefrau. Näher konkretisiert hat dies die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG). Nach ihr kommt es darauf an, ob die Verstorbene während des letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes, der ihrem Tode vorausgegangen ist, den Unterhalt überwiegend bestritten hat (vgl BSGE 14, 129, 132 = SozR Nr 1 zu § 1266 RVO; BSGE 31, 90, 94 = SozR Nr 7 zu § 1266 RVO; BSGE 34, 35, 36 = SozR Nr 11 zu § 1266 RVO; BSGE 35, 243, 244 = SozR Nr 13 zu § 1266 RVO; BSG SozR Nr 2, 3, 4, 6 zu § 1266 RVO; Urteil des erkennenden Senats vom 13. März 1979 - 1 RA 33/78). Der letzte wirtschaftliche Dauerzustand beginnt mit der letzten wesentlichen Änderung der wirtschaftlichen Verhältnisse eines Familienmitglieds mit Dauerwirkung und endet mit dem Tode der Versicherten. Letzteres kann auch dann gelten, wenn dem Tode der Versicherten eine Zeit der Erkrankung mit einer dadurch verursachten Verschlechterung der Unterhaltslage vorausgegangen ist. Auch eine solche Erkrankung kann, insbesondere, wenn sie sich über einen längeren Zeitraum erstreckt hat, den letzten wirtschaftlichen Dauerzustand prägen und deshalb bei dessen Bestimmung nicht generell außer acht bleiben. Im Einzelfall kann es dann, wenn die Erkrankung in verhältnismäßig kurzer Zeit zum Tode geführt und somit gleichermaßen die Vorstufe des Todes dargestellt hat, aus Billigkeitsgründen gerechtfertigt sein, die durch sie bewirkte Verschlechterung der Unterhaltslage nicht als Prüfungsmaßstab für die Voraussetzungen der Witwerrente anzulegen und statt dessen das Ende des letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes auf den Beginn der zum Tode führenden Krankheit festzulegen (vgl hierzu insbesondere BSGE 35, 243, 245 = SozR Nr 13 zu § 1266 RVO; BSG SozR 2200 § 1266 Nr 7).

Was nun speziell die Frage des Bestreitens des überwiegenden Unterhalts angeht, wird das LSG außer der oben angegebenen Entscheidung des erkennenden Senats BSGE 40, 161 zusätzlich allgemein zu berücksichtigen haben, daß seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 24. Juli 1963 (SozR Nr 52 zu Art 3 GG) klargestellt ist, daß hierzu auch die - nicht entlohnte - Arbeitsleistung im Familienverband zählt.

Sowohl bei der Ermittlung des letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes als auch bei der Frage, ob die Verstorbene den Familienunterhalt überwiegend bestritten hat, wird das LSG zu prüfen haben, inwieweit die von der Beklagten anerkannte Erwerbsunfähigkeit der Versicherten hierbei eine entscheidende Rolle spielt.

Da das LSG in bezug auf eine Zeit vor dem Tode der Versicherten weder ausreichende tatsächliche Feststellungen noch eine rechtliche Würdigung des § 1266 RVO vorgenommen hat, war das angefochtene Urteil auf den Hilfsantrag des Klägers aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zurückzuverweisen. Das LSG hat die erforderlichen Feststellungen nachzuholen und hernach über den Anspruch des Klägers auf Witwerrente erneut zu entscheiden.

Die Kostenentscheidung hat der Senat der Endentscheidung in der Sache vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1655693

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