Entscheidungsstichwort (Thema)

Zusammenarbeit der Rehabilitationsträger. Voraussetzung für den Erstattungsanspruch nach § 104 SGB 10

 

Leitsatz (amtlich)

Die dem Versicherten vom Sozialhilfeträger während einer stationären Heilbehandlung des Rentenversicherungsträgers gewährten Leistungen in Form von Taschengeld und Bekleidungsbeihilfe sind weder als Leistungen der medizinischen Rehabilitation (§ 1237 RVO) noch als ergänzende Leistungen (§ 1237b RVO) vorgesehen (Abgrenzung zu BSG vom 3.3.1964 4 RJ 193/60 = BSGE 20, 226 = SozR Nr 1 zu § 1237 RVO). Sie können nur zusätzliche Leistungen iS des § 1306 RVO sein.

 

Orientierungssatz

1. Der in § 5 Abs 2 RehaAnglG normierte Grundsatz der einheitlichen und vollständigen Gewährung von Rehabilitationsleistungen kann keine Ansprüche begründen, die nach dem Gesetz nicht gegeben sind. Denn die Art der Leistungen richtet sich nach den für den Rehabilitationsträger geltenden besonderen Rechtsvorschriften (§ 9 Abs 1 RehaAnglG).

2. In den Fällen, in denen der Berechtigte iS des § 104 Abs 1 S 1 SGB 10 eine Ermessensleistung beanspruchen kann, ist ein Anspruch der nachrangig verpflichteten Leistungsträger auf Erstattung der Leistungen dann gegeben, wenn der vorrangig leistungspflichtige Träger nach Ausübung seines pflichtgemäßen Ermessens zur Leistung verpflichtet ist.

 

Normenkette

RVO §§ 1237, 1237b Abs 2 Fassung: 1974-08-07, § 1306 Abs 1, § 1242 Fassung: 1974-08-07, § 1237b Abs 1 Nr 6 Fassung: 1974-08-07; RehaAnglG § 5 Abs 2 S 1, § 9 Abs 1; SGB 10 § 104 Abs 1 S 1

 

Verfahrensgang

SG Speyer (Entscheidung vom 27.06.1988; Aktenzeichen S 2 J 722/87)

 

Tatbestand

Der klagende Landkreis verlangt von der Beklagten die Erstattung von Kosten für Taschengeld und Bekleidungsbeihilfe, die dem Versicherten W S         während einer von der Beklagten gewährten stationären Heilbehandlung als Sozialhilfeleistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) gewährt worden sind.

Die Beklagte hatte gegenüber dem Versicherten die Gewährung von Übergangsgeld mit Bescheid vom 12. Januar 1983 und die Gewährung von Taschengeld mit Schreiben vom 22. August 1983 anläßlich des in der Zeit vom 24. August 1982 bis 24. Februar 1984 durchgeführten Heilverfahrens abgelehnt. Der Versicherte erhielt während der Heilbehandlung vom Landesamt für Jugend und Soziales des Landes Rheinland-Pfalz Taschengeld und Bekleidungsbeihilfe in Höhe von insgesamt 2.710,50 DM. Der Kläger verlangte von der Beklagten die Erstattung dieser Kosten, was die Beklagte ablehnte.

Die Klage wurde vom Sozialgericht (SG) abgewiesen (Urteil vom 27. Juni 1988). Mit der zugelassenen Sprungrevision macht der Kläger unter Hinweis auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 3. März 1964 (BSGE 20, 226) geltend, Taschengeld sei Teil der medizinischen Leistungen zur Rehabilitation. Der zur Erreichung des Rehabilitationszieles erforderliche Lebensbedarf sei zur Verfügung zu stellen. Das Rehabilitations-Angleichungsgesetz (RehaAnglG) vom 7. August 1974 (BGBl I S 1881) habe eine einheitliche Kostenträgerschaft bewirken sollen (§ 5 Abs 2 RehaAnglG). Im übrigen ermögliche auch § 1305 Reichsversicherungsordnung (RVO) die Gewährung von Taschengeld.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Speyer aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 2.710,50 DM zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie trägt vor, nach der Neuordnung des Rehabilitationsrechts durch das RehaAnglG bestehe keine Möglichkeit mehr zur Zahlung eines Taschengeldes. Diese Möglichkeit sei auch durch die Streichung des Mindestübergangsgeldes nicht wiederaufgelebt. Für die Gewährung von Taschengeld im Rahmen des § 1305 RVO stünden keine Mittel zur Verfügung.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die durch Zulassung statthafte und formgerecht eingelegte Sprungrevision führt zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das SG.

Gemäß § 104 Abs 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch (SGB 10), hat ein Leistungsträger, der lediglich deshalb zur Leistung verpflichtet war, weil ein anderer Leistungsträger die ihm obliegende Leistung nicht rechtzeitig erbracht hat, einen Erstattungsanspruch gegen den vorrangig Verpflichteten. Dabei richtet sich der Umfang des Erstattungsanspruchs nach den Vorschriften, die für den vorrangig Verpflichteten gelten (§ 104 Abs 3 SGB 10). Der Versicherte hat Bekleidungsbeihilfe nach § 21 Abs 2 iVm § 12 BSHG und nach § 21 Abs 3 BSHG Taschengeld bzw einen Barbetrag (so die seit dem 1. Januar 1983 geltende Bezeichnung) als Hilfe zum Lebensunterhalt erhalten.

Wie das SG zutreffend ausgeführt hat, sind derartige Leistungen weder als Leistungen der medizinischen Rehabilitation (§ 1237 RVO) noch als ergänzende Leistungen (§ 1237b RVO) vorgesehen. Allerdings hat das BSG im Urteil vom 3. März 1964 (BSGE 20, 226) entschieden, daß ein geringfügiges Taschengeld als Nebenleistung einer Heilbehandlung dieser Heilbehandlung zugerechnet werden könne. Die in diesem Urteil unter der Geltung der §§ 1236 ff RVO idF des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) vom 23. Februar 1957 (BGBl I, S 45) angeführten Gründe sind aber auf die derzeitige Gesetzeslage nicht übertragbar.

Das BSG hat in der genannten Entscheidung ausgeführt, die Formulierung des § 1237 Abs 2 RVO lasse neben den medizinischen Leistungen solche Leistungen zu, die den medizinischen Maßnahmen unmittelbar zugehörten. Der Gesetzgeber habe die Vorschrift nach der amtlichen Begründung bewußt als Rahmenvorschrift gestaltet. Dafür verwies das BSG auf die Begründung des Gesetzes, in der es heißt, die Vorschrift solle dem Versicherungsträger möglichst weiten Spielraum lassen, weil für die Ausgestaltung der Rehabilitation im heutigen Sinne noch nicht genügend Erfahrungen vorliegen (BT-Drucks II/2437, S 67). Im übrigen habe der Gesetzgeber bei der Neugestaltung des Rentenversicherungsrechts 1957 die Taschengeldgewährung als eine jahrzehntelange übereinstimmende Verwaltungsübung der Versicherungsträger vorgefunden. Er habe die Gegebenheit, die sich unter der Eigenverantwortung der Versicherungsträger entwickelt hätte, gebilligt.

Insoweit hat sich indes die Rechtslage seit der Neuregelung der Rehabilitation durch das am 1. Oktober 1974 in Kraft getretene RehaAnglG grundlegend geändert. Zwar ist die Regelung über den Umfang der Leistungen der medizinischen Rehabilitation durch dieses Gesetz weiterhin offen gefaßt geblieben, es wird aber nunmehr deutlich zwischen medizinischen und ergänzenden Leistungen unterschieden. Der Begriff "Heilbehandlung", dem das BSG die Taschengeldzahlung zugeordnet hat, wird als Gegenstand einer Leistung nicht mehr genannt. Bei den genannten Leistungen der medizinischen Rehabilitation handelt es sich nach den in § 1237 RVO beispielhaft aufgezählten Leistungen um Maßnahmen, die unmittelbar der Erhaltung oder Besserung des Gesundheitszustandes des Versicherten dienen (vgl BSG-Urteil vom 24. Juni 1980 in BSGE 50, 156, 159). Insbesondere im Zusammenhang mit der durch das RehaAnglG neu eingeführten Regelung der ergänzenden Leistungen iS des § 1237b RVO wird deutlich, daß Nebenleistungen, die nicht selbst medizinischen Charakter haben, darunter nicht mehr gefaßt werden können. Zwar sieht der (abschließende) Katalog der ergänzenden Leistungen außer den im einzelnen aufgeführten Leistungen auch sonstige Leistungen vor (§ 1237b Abs 1 Nr 6 RVO). Danach können Leistungen unter Berücksichtigung von Art oder Schwere der Behinderung gewährt werden, die erforderlich sind, um das Ziel der Rehabilitation zu erreichen oder zu sichern (§ 1242 RVO). § 1237b Abs 2 RVO, der sich nach seinem systematischen Standort auch auf sonstige Leistungen bezieht, schließt aber Barleistungen, die zur Sicherung des Lebensunterhalts und des Lebensbedarfs dienen, als ergänzende Leistungen ausdrücklich aus, weil sie nach dieser Vorschrift durch das Übergangsgeld abgegolten werden.

Dieses Verbot, Taschengeld als ergänzende Leistung zu gewähren, beschränkt sich nicht auf die Fälle, in denen Übergangsgeld tatsächlich zu zahlen ist. Eine abweichende Auslegung wäre zwar nach dem Wortlaut des § 1237b Abs 2 RVO möglich. Die Entwicklung des Rehabilitationsrechts spricht indes gegen einen derartigen Inhalt des Gesetzes. Bei der Einführung dieser Vorschrift war es das erklärte Ziel des Gesetzgebers, eine Taschengeldleistung auszuschließen (Begründung des Entwurfs eines Gesetzes über die Angleichung der Leistungen der Rehabilitation, BT-Drucks 7/1237, S 70). Die Vorschrift ist danach so zu lesen, daß ein Aufwendungsersatz ausschließlich durch Übergangsgeld erfolgt.

Zunächst ergriff § 1237b Abs 2 RVO aus systematischen Gründen sämtliche Versicherte, denen eine medizinische Rehabilitation gewährt wurde. Nach § 1241 Abs 4 RVO idF des RehaAnglG erhielten auch sonstige Betreute - erfaßt waren Betreute, für die keine Berechnungsgrundlage zu ermitteln war - als Übergangsgeld für den Kalendertag den 600. Teil der für Monatsbezüge geltenden Beitragsbemessungsgrenze (sog. Mindestübergangsgeld). Dies waren 1974 4,17 DM täglich. Das Mindestübergangsgeld wurde aber mit dem Gesetz zur 20. Rentenanpassung und zur Verbesserung der Finanzgrundlagen der Rentenversicherung vom 27. Juni 1977 (BGBl I, S 1040) abgeschafft. Nunmehr erhält ein Teil der Betreuten kein Übergangsgeld mehr und damit auch keine Barleistung zur Deckung des Lebensbedarfs, der während einer medizinischen Rehabilitation auftritt. Dies ist vom Gesetzgeber so gewollt. Es spricht nichts dafür, daß für den Personenkreis, der nunmehr kein Übergangsgeld mehr erhält, ein Anspruch auf sonstige Barleistungen entstehen soll, zumal die gestrichene Leistung der Höhe nach einem Taschengeld entspricht (vgl Ilgenfritz in ZfS 1977, S 177, 179). Nach der Begründung des Regierungsentwurfs erfolgte die Streichung des Mindestübergangsgeldes, weil die Regelung (durch die Verringerung der Zahl der Anspruchsberechtigten) zum Teil gegenstandslos geworden sei, sich auch nicht bewährt habe und aufgrund von Anrechnungsbestimmungen zu sozialpolitischen Härten geführt habe. Die damit im Zusammenhang stehende Änderung des § 1240 RVO (nach "Übergangsgeld" wurde "nach Maßgabe der §§ 1241 bis 1241f" eingefügt) erfolgte, um klarzustellen, "daß der Personenkreis, der bisher das Mindestübergangsgeld erhalten hat, während der Kur keinen Anspruch auf eine Bargeldleistung des Rentenversicherungsträgers hat" (BT-Drucks 8/165, S 44).

Gegen die Absicht des Gesetzgebers, einen Barleistungsanspruch neben dem Übergangsgeld zu begründen, spricht auch, daß durch das Haushaltsbegleitgesetz (HBegleitG) 1983 vom 20. Dezember 1982 (BGBl I S 1857) eine Zuzahlung zu den Aufwendungen für eine stationäre Heilbehandlung eingeführt worden ist, und zwar auch für die Versicherten oder Rentner, die nach der früheren Regelung Mindestübergangsgeld erhalten hätten (§ 1243 RVO). Die Gewährung eines Taschengeldes als Nebenleistung bei einer stationären Heilbehandlung wäre mit dieser neuen Zuzahlungs-Vorschrift schwerlich zu vereinbaren.

Die Gewährung von Taschengeld als ergänzende Leistung ist schließlich auch nicht für den Personenkreis möglich, der ansonsten Sozialhilfeleistungen in Anspruch nehmen muß. Zwar ist in § 5 Abs 2 RehaAnglG der Grundsatz der einheitlichen und vollständigen Gewährung von Rehabilitationsleistungen normiert. Diese Vorschrift kann aber keine Ansprüche begründen, die nach dem Gesetz nicht gegeben sind. Denn die Art der Leistungen richtet sich nach den für den Rehabilitationsträger geltenden besonderen Rechtsvorschriften (§ 9 Abs 1 RehaAnglG). Im übrigen hat der Gesetzgeber bei der Streichung des Mindestübergangsgeldes die Leistungsgewährung durch verschiedene Träger ersichtlich in Kauf genommen.

Ein Anspruch auf Taschengeld und Bekleidungshilfe kommt indes - wie der Kläger erstmals in der Revisionsbegründung vorträgt - als zusätzliche Leistung aus der Versicherung iS der §§ 1305 ff RVO in Betracht. Gemäß § 1306 Abs 1 RVO kann nämlich der Träger der Rentenversicherung Mittel der Versicherung über die Regelleistungen hinaus zum wirtschaftlichen Nutzen der Rentenberechtigten, der Versicherten und ihrer Angehörigen aufwenden. Von dieser Regelung werden gerade Leistungen erfaßt, die das Gesetz als solche ausdrücklich nicht vorsieht, also auch dem Übergangsgeld entsprechende Leistungen an Personen, die - wie hier der Versicherte - keinen Anspruch auf Übergangsgeld haben (vgl Verbandskommentar zur RVO, 6. Aufl, Anm 3 zu § 1306 RVO und Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Band IV, S 666 n I).

Einem auf § 104 Abs 1 Satz 1 SGB 10 gestützten Erstattungsanspruch des Klägers steht nicht entgegen, daß der Versicherte selbst die zusätzliche Leistung iS des § 1306 RVO nicht ausdrücklich geltend gemacht hat und es sich hierbei um eine Ermessensleistung handelt (vgl BSG-Urteil vom 14. Mai 1985 in SozR 1300 § 104 Nr 6). Ein Erstattungsanspruch entsteht aber nicht schon dann, wenn die Leistung nach einer Vorschrift, die Ermessen einräumt, möglich ist. Der vorrangig verpflichtete Leistungsträger kann dem nachrangigen Träger entgegenhalten, daß evidente Gründe für eine Ablehnung der Kannleistung vorliegen (so bereits BSG-Urteil vom 14. Mai 1985 aaO). Derartige Gründe für die Ablehnung einer zusätzlichen Leistung iS der §§ 1305 ff RVO hat die Beklagte in ihrer Revisionserwiderung zwar dargelegt. Da diese Gründe aber auch neues Tatsachenvorbringen beinhalten, dessen Überprüfung dem Revisionsgericht verwehrt ist, war allein deshalb die Zurückverweisung des Rechtsstreits an das SG geboten (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

Nach der Entscheidung des BSG vom 14. Mai 1985 aaO folgt aus der prozessualen Mitwirkungs- und Förderungspflicht des vorrangigen Trägers im Erstattungsstreitverfahren, bis zur letzten mündlichen Verhandlung vor der Tatsacheninstanz darzulegen, daß und welche dem Ermessensbereich zuzuordnende Umstände einer Leistungsgewährung an den Berechtigten entgegengestanden hätten. Dieser Grundsatz führt hier zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an die Tatsacheninstanz zur Durchführung der ihr vorbehaltenen tatsächlichen Ermittlungen (§ 103 Satz 1 SGG), weil - anders als in dem im Urteil des BSG vom 14. Mai 1985 aaO entschiedenen Fall - das SG eine Ermessensleistung nach § 1306 RVO als Anspruchsgrundlage für den Erstattungsanspruch des Klägers nicht in Betracht gezogen hat und deshalb die Beklagte im Verfahren des SG auch keinen Anlaß gehabt hat, ihre Gründe für eine Ablehnung einer derartigen Ermessensleistung darzulegen.

Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1654679

BSGE, 174

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