Beteiligte
Landesamt für Gesundheit und Soziales Berlin |
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 23. März 1999 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten um die Anerkennung und Entschädigung einer Tuberkuloseerkrankung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).
Der 1926 geborene und 1985 aus dem ehemaligen Ost-Berlin nach Berlin (West) umgezogene Kläger stellte im Dezember 1985 bei dem Beklagten einen Antrag auf Versorgung, mit dem er geltend machte, daß seine im Juli 1943 festgestellte Lungen-Tbc sowie eine Spondylarthrose der Hals- und Lendenwirbelsäule als Folge der Tbc-Erkrankung auf seinen Einsatz als Luftschutzhelfer und damit einhergehenden Erkältungen und Belastungen im Jahre 1942 zurückzuführen seien. In der DDR sei ihm wegen dieses mit 70 % bewerteten Körperschadens eine Kriegsbeschädigtenrente gewährt worden. Der Kläger legte einen entsprechenden Bescheid der Sozialversicherungsanstalt des Landes Brandenburg vom 5. Oktober 1948 vor, mit dem ihm Rente nach der „Verordnung über die Zahlung von Rente an Kriegsinvaliden und Kriegshinterbliebene” ab dem 1. November 1948 gewährt worden war, sowie zwei weitere Bescheide über die Gewährung einer Kriegsbeschädigtenrente des FDGB-Kreisvorstandes W. vom 14. Februar und 29. März 1978. Der Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 19. Mai 1987 und Widerspruchsbescheid vom 3. Dezember 1987 ab.
Die Klage blieb erfolglos. Auf die Berufung des Klägers wies das Landessozialgericht (LSG) Berlin den Rechtsstreit an das Sozialgericht (SG) mit der Begründung zurück, daß ein Einverständnis des Klägers mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung nicht vorgelegen habe. Mit Gerichtsbescheid vom 12. Juni 1995 wies das SG die Klage erneut ab. Auf die Berufung des Klägers holte das LSG ein internistisch-pneumologisches Gutachten vom Dr. S. ein, und der Beklagte legte eine weitere gutachtliche Stellungnahme des Arztes der Lungen- und Bronchialheilkunde G. sowie eine ergänzende Stellungnahme von Dr. S. vor. Einen daraufhin vom Kläger gestellten Befangenheitsantrag gegen diesen Gutachter wies das LSG mit Bescheid vom 18. März 1998 zurück.
Mit Urteil vom 23. März 1999 hat das LSG die Berufung zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Es könne nicht festgestellt werden, daß der Dienst als Luftschutzhelfer mit Wahrscheinlichkeit ursächlich für die Tuberkuloseerkrankung des Klägers geworden sei. Insbesondere Dr. S. und Dr. S. hätten überzeugend dargelegt, daß die Tätigkeit als Luftschutzhelfer neben der Berufsausbildung als Dreherlehrling keine erhebliche Belastung mit sich gebracht haben könne. Der Kläger könne sich auch nicht mit Erfolg darauf berufen, daß ihm in der DDR bereits Kriegsbeschädigtenrente gewährt worden sei, denn diese Entscheidung binde den Beklagten nicht.
Mit der – vom LSG zugelassenen – Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 85 BVG sowie des Art 19 Einigungsvertrag (EinigVtr) iVm Anlage I, Kapitel VIII, Sachgebiet K, Abschnitt III, Nr 1 Buchst h EinigVtr. Die Anerkennung des Leidens als Kriegsfolge durch die Sozialversicherungsanstalt des Landes Brandenburg sowie die weiteren vorgelegten Bescheide des FDGB-Kreisvorstandes W. führten zu einer Bindung des Beklagten. Auf das Gutachten von Dr. S. hätte sich das LSG nicht stützen dürfen, da der Sachverständige befangen gewesen sei. Im übrigen hätte sich das LSG gedrängt fühlen müssen, mehreren im Berufungsverfahren gestellten Beweisanträgen nachzukommen.
Der Kläger beantragt,
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angegriffene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision hat keinen Erfolg.
1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Versorgung nach §§ 1 Abs 3, 3 Abs 1 Buchst o BVG. Die Feststellung des LSG, die Lungenerkrankung könne nicht mit Wahrscheinlichkeit auf den Luftschutzdienst zurückgeführt werden, bindet das Bundessozialgericht (BSG) (§ 163 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫). Die dagegen erhobenen Rügen greifen nicht durch. Soweit die Revision die Verwertung des Gutachtens und der Stellungnahmen des Dr. S. mit Hinweis auf seine angebliche Befangenheit rügt, verkennt sie, daß der Beschluß des LSG vom 18. März 1998, mit dem der Befangenheitsantrag abgelehnt wurde, gemäß § 177 SGG nicht anfechtbar ist und nach § 202 SGG iVm § 548 Zivilprozeßordnung (ZPO) auch nicht der Beurteilung durch das Revisionsgericht unterliegt (vgl auch den allerdings anders gelagerten Sachverhalt in BSG SozR 1500 § 160 Nr 48 sowie BVerwG in Buchholz 310 § 132 Abs 2 Ziff 3 VwGO Nr 20).
2. Ohne Erfolg rügt die Revision auch eine Verletzung des § 103 SGG. Diese Rüge hätte nur Erfolg haben können, wenn die Behauptung des Klägers, der Infektionszeitpunkt für die Tbc-Erkrankung sei früher als 1943 anzunehmen, nach der dafür maßgeblichen Rechtsauffassung des LSG entscheidungserheblich gewesen wäre. Der Hinweis des Klägers, er habe im November 1942 an einer grippeähnlichen Erkältung gelitten, reicht dafür nicht aus. Das LSG hat den zeitlichen Zusammenhang zwischen Tbc-Infektion bzw Ausbruch dieser Erkrankung und dem Luftschutzdienst nicht bezweifelt. Es hat jedoch weder die Belastung durch den Luftschutzdienst noch die einmalige Durchnässung bei einem Löscheinsatz oder eine traumatisch oder sonst bedingte Resistenzschwäche als Schädigungstatbestand angesehen. Vielmehr hat es unter Berufung auf den Sachverständigen Dr. S. als überzeugend erachtet, daß sich der Kläger wahrscheinlich bei alltäglichen Kontakten mit dem seinerzeit häufig auftretenden Tbc-Erreger angesteckt habe. Bei dieser Auffassung mußte sich dem LSG die vom Kläger für erforderlich gehaltene ergänzende Beweisaufnahme nicht aufdrängen. Es konnte von einem zeitlichen Zusammenhang zwischen dem Dienst des Klägers als Luftschutzhelfer und der Tbc-Infektion ausgehen, aber mangels gesicherter Erkenntnisse nicht annehmen, daß sich der ursächliche Zusammenhang mit der hierfür notwendigen Wahrscheinlichkeit feststellen läßt (vgl Senatsurteil in SozR 3-3200 § 81 Nr 13 S 57; Wilke/Fehl, Soziales Entschädigungsrecht, Kommentar, 7. Aufl 1992, RdNr 64 zu § 1 mwN).
Entgegen der Auffassung des Klägers hat das LSG auch nicht gegen den Grundsatz der freien Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG) verstoßen, insbesondere nicht die Grenzen freier Beweiswürdigung überschritten. Das wäre nur anzunehmen, wenn die Richter allgemeine Erfahrungssätze oder Denkgesetze verletzt oder Verfahrensergebnisse überhaupt nicht berücksichtigt hätten und das Urteil auf diesen Mängeln beruhen könnte (SozR 1500 § 164 Nr 31). Davon kann hier aber – auch nach dem Vorbringen der Revision – keine Rede sein. Im übrigen hat das LSG die wesentlichen Aussagen der herangezogenen Sachverständigen kritisch nachvollzogen, gewürdigt und sich auf die für überzeugend erachteten Bekundungen gestützt. Damit hat es – § 128 Abs 1 Satz 1 SGG entsprechend – nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung entschieden.
3. Die vom Gesetz (§ 1 Abs 3 Sätze 1 und 2 BVG) eingeräumte Beweisregel, daß für die Annahme des ursächlichen Zusammenhangs zwischen Schädigung und späterer Gesundheitsstörung die Wahrscheinlichkeit ausreicht, hat das LSG beachtet. Zudem ist es zur Feststellung des Schädigungstatbestandes dem § 15 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG) vom 2. Mai 1955 (BGBl I, 202) idF der Bekanntmachung vom 6. Mai 1976 (BGBl I 1169) gefolgt. Es hat die Angaben des Klägers, soweit sie sich auf die mit der Schädigung in Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, geglaubt und der Entscheidung zugrunde gelegt.
4. Der Beklagte ist in der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhanges zwischen geschützter Tätigkeit und gesundheitlicher Schädigung nicht an den Bescheid der Sozialversicherungsanstalt des Landes Brandenburg vom 5. Oktober 1948 gebunden. § 85 BVG greift im vorliegenden Fall nicht. Nach dieser Vorschrift hat die Versorgungsverwaltung eine Entscheidung aus der Zeit vor dem Inkrafttreten des BVG als rechtsverbindlich hinzunehmen, soweit mit ihr nach versorgungsrechtlichen Vorschriften, die vor dem 1. Oktober 1950 gegolten haben, die Frage des ursächlichen Zusammenhangs einer Gesundheitsstörung mit einer Schädigung (wie sie jetzt § 1 BVG beschreibt) bejaht worden ist. Eine Bindung des Beklagten nach § 85 BVG scheitert hier jedenfalls an dem Umstand, daß es sich bei der dem Bescheid vom 5. Oktober 1948 zugrundeliegenden Verordnung über die Zahlung von Renten an Kriegsinvaliden und Kriegshinterbliebene vom 21. Juli 1948 (Zentralverordnungsblatt 1948 S 363) nicht um eine versorgungsrechtliche Vorschrift iS des § 85 BVG handelt (so bereits BSGE 25, 272, 274 f = SozR Nr 4 zu § 48 BVG; vgl auch Senatsurteil vom 16. Juni 1999, – B 9 V 15/98 R – SuP 1999, 736 = HVBG-INFO 1999, 2799 – zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Für den Senat besteht kein Anlaß, von dieser Rechtsprechung abzuweichen. Unter versorgungsrechtlichen Vorschriften iS des § 85 BVG sind solche Normen zu verstehen, die ausschließlich die Versorgung von Kriegsopfern regeln und den wesentlichen historisch gewachsenen Vorgaben des Kriegsopferrechts, vor allem also den Erfordernissen des § 1 BVG, entsprechen. Dafür kommen insbesondere die in der Verwaltungsvorschrift zu § 40a BVG genannten Vorschriften (Beilage Nr 15/69 zum BAnz Nr 119; zuletzt geändert durch AV vom 27. August 1986, BAnz Br 161), aber zB auch die „Verwaltungsverordnung über die vorläufige Versorgung von Kriegsbeschädigten und Kriegshinterbliebenen” vom 15. August 1946 – RegBl für das Land Thüringen, Teil II, Amtsbl, S 335 – vgl dazu das Senatsurteil vom 16. Juni 1999 – B 9 V 15/98 R – in Betracht. Nicht dazu gehören hingegen solche Vorschriften, die inhaltlich nicht den Erfordernissen der §§ 85 und 1 BVG entsprechen. Der Kläger hat gemäß § 2 Abs 2 der genannten Verordnung in der DDR eine Rente als Kriegsinvalide bezogen, weil er als Luftschutzhelfer einem Angehörigen der früheren deutschen Wehrmacht gleichgestellt und arbeitsunfähig geworden war. Als arbeitsunfähig galt nach Abs 2 der Vorschrift derjenige, der während der Zeit der militärischen Dienstleistung bzw seiner Dienstleistung als Luftschutzhelfer – durch Krankheit oder äußere Einwirkungen Gesundheitsstörungen erlitten hatte und dadurch mindestens 66 2/3 % dauernd oder vorübergehend erwerbsgemindert war. Nach dem ausdrücklichen Wortlaut und dem erkennbaren Zweck dieser Vorschrift genügte also bereits ein rein zeitlicher Zusammenhang zwischen einer geschützten Dienstleistung und einer Krankheit für den Versorgungsanspruch. Ein Kausalzusammenhang entsprechend § 1 BVG mußte aber nicht festgestellt werden.
5. Die Gewährung einer Kriegsbeschädigtenrente an den Kläger durch die Bescheide des FDGB-Kreisvorstandes W. vom 14. Februar und 29. März 1978 bindet den Beklagten ebenfalls nicht. § 85 BVG ist hier schon deshalb nicht einschlägig, weil die den vorgelegten Bescheiden zugrundeliegenden Vorschriften noch nicht vor dem 1. Oktober 1950 galten.
Auch aus Art 19 Einigungsvertrag vom 31. August 1990 (BGBl II, 889) lassen sich keine Rechtsfolgen zugunsten des Klägers herleiten. Zwar bleiben danach die vor dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik im Beitrittsgebiet ergangenen Verwaltungsakte grundsätzlich wirksam, aber sie binden iS des § 77 SGG nur den jeweils zuständigen „Rechtsnachfolger” (vgl BSGE 72, 50, 55 = SozR 3-8570 § 10 Nr 1; BSG SozR 3-8100 Art 19 Nrn 1 und 5). Die Bescheide des FDGB-Kreisvorstandes W. vom 14. Februar 1978 und 29. Mai 1978 über die Feststellung der Kriegsbeschädigtenrente und deren Veränderung sind als Verwaltungsakte eines Trägers der Sozialverwaltung ergangen. Mit diesen Entscheidungen ist dem Kläger eine sozialversicherungsrechtliche Rente und nicht etwa eine Leistung versorgungsrechtlicher Art bewilligt worden. Dies ergibt sich aus den der Bewilligung zugrundeliegenden Rechtsvorschriften (vgl insbesondere § 15 Verordnung über die Gewährung und Berechnung der Renten der Sozialpflichtversicherung vom 4. April 1974 ≪GBl I, 201≫) sowie der weiteren Rechtsentwicklung (vgl § 15 Verordnung über die Gewährung und Berechnung der Renten der Sozialpflichtversicherung vom 23. November 1979 ≪GBl I, 401≫ und insbesondere § 27 Abs 3 Sozialversicherungsgesetz vom 28. Juni 1990 ≪GBl I, 486≫). Da der Beklagte Träger der Versorgungsverwaltung, und damit nicht Rechtsnachfolger von Trägern der Sozialverwaltung der ehemaligen DDR ist, entfalten die Entscheidungen des FDGB-Kreisvorstandes W. für ihn keine Bindungswirkung.
Die Auffassung des Senats wird durch die weitere Rechtsentwicklung bestätigt. Bis zu dem gemäß Art 25 Rentenüberleitungsgesetz (RÜG) vom 25. Juli 1991 (BGBl I, 1606) eingeführten, ab 1. Januar 1992 geltenden § 86 BVG, neu gefaßt durch Art 8 des RÜG-Ergänzungsgesetzes vom 24. Juni 1993 (BGBl I, 1038), sind die in der ehemaligen DDR bewilligten Kriegsbeschädigtenrenten grundsätzlich nach sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften weitergezahlt worden. Doppelzahlungen (Leistungen nach DDR-Recht allein aufgrund einer Kriegsbeschädigung und Versorgung nach dem BVG) kamen jedoch im Hinblick auf die Ruhensvorschriften im EinigVtr, Anlage I, Kapitel VIII, Sachgebiet K, Abschnitt III, Nr 1 Buchstabe g nicht in Betracht (vgl Wilke/Fehl, aaO § 86 RdNrn 1 und 2). Durch § 86 BVG wurde schließlich sichergestellt, daß frühere Bezieher von Kriegsbeschädigtenrenten, sofern sie keinen Anspruch auf Versorgungsbezüge haben, jedenfalls vom zuständigen Rentenversicherungsträger anstelle der Kriegsbeschädigtenrente unter den in den einzelnen Absätzen der Vorschrift bezeichneten Voraussetzungen eine Ausgleichszahlung erhalten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 743324 |
NJ 2000, 616 |