Entscheidungsstichwort (Thema)
Begriff des Arbeitsunfalls
Leitsatz (amtlich)
Zum Begriff des Unfalls.
Leitsatz (redaktionell)
1. Unfall ist ein körperlich schädigendes, zeitlich begrenztes Ereignis. Soweit daneben zum Teil auch gefordert wird, das Ereignis müsse "von außen" auf den Menschen einwirken, soll damit lediglich ausgedrückt werden, daß ein aus innerer Ursache, aus dem Menschen selbst kommendes Ereignis nicht als Unfall anzusehen ist. Für eine Einwirkung von außen genügt es zudem, daß zum Beispiel der Boden beim Auffallen des Versicherten gegen seinen Körper stößt. Auch dadurch wirkt ein Teil der Außenwelt auf den Körper des Versicherten ein.
2. Zum Unfallversicherungsschutz nach RVO § 550, wenn die Ursache des zum Unfall führenden Sturzes nicht erkennbar ist.
Normenkette
RVO § 550 Abs. 1 Fassung: 1974-04-01
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 17.12.1975; Aktenzeichen L 3 U 76/75) |
SG Speyer (Entscheidung vom 11.04.1975; Aktenzeichen S 16 U 196/73) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 17. Dezember 1975 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Die Klägerin ist am 25. April 1973 vor ihrem Ladengeschäft auf dem Weg nach Hause zu Fall gekommen. Dadurch zog sie sich eine Infraktur des distalen Radius links zu. Die Beklagte lehnte durch Bescheid vom 26. Oktober 1973 eine Entschädigung ab, da nicht wahrscheinlich sei, daß die Klägerin infolge einer äußeren Ursache gefallen sei. Das Sozialgericht (SG) Speyer hat die Beklagte antragsgemäß verurteilt, der Klägerin unter Anerkennung des Ereignisses vom 25. April 1973 als Arbeitsunfall Unfallentschädigung zu gewähren (Urteil vom 11. April 1975). Es hat die Auffassung vertreten, die Klägerin brauche nicht nachzuweisen, welche Ursache der Sturz gehabt habe. Im übrigen lasse sich der Sturz zwanglos auf Hängenbleiben an der Treppenstufe oder am Kopfsteinpflaster des Bürgersteiges erklären. Die Klägerin habe daher am 25. April 1973 einen versicherten Arbeitsunfall erlitten. Von der Beklagten sei noch zu prüfen, inwieweit der Klägerin Leistungen zustehen. Die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz zurückgewiesen (Urteil vom 17. Dezember 1975). Zur Begründung hat es ausgeführt: Vom SG sei zu Recht entschieden worden, daß die Beklagte der Klägerin wegen des am 25. April 1973 erlittenen Unfalls Entschädigung zu gewähren habe. Voraussetzung für den Versicherungsschutz nach § 550 Abs 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) sei ua, daß zwischen der Zurücklegung des Weges von dem Ort der Tätigkeit und dem Unfall ein rechtlich wesentlicher ursächlicher Zusammenhang bestehe. Ein solcher Ursachenzusammenhang sei grundsätzlich abzulehnen, wenn der Unfall aus innerer Ursache, etwa wegen eines krankheitsbedingten Ohnmachtsanfalls, erfolgt sei. Aus der Tatsache, daß die Klägerin dem Durchgangsarzt keinen besonderen Grund für ihr Hinfallen angegeben und der Beklagten in der Unfallanzeige mitgeteilt habe, sie wisse nicht, warum sie gefallen sei, könne nicht auf einen Sturz aus innerer Ursache geschlossen werden. Zwar leide die Klägerin seit Jahren an einem Bluthochdruck und gelegentlichen Herzbeschwerden, jedoch habe sie nach Auskunft der behandelnden Ärztin nie über Kollapszustände oder akute Schwindelanfälle geklagt. Ein Sturz aus innerer Ursache liege daher nicht vor.
Der Versicherungsschutz nach § 550 RVO sei deshalb zu bejahen, ohne daß die Klägerin eine besondere, mit der Zurücklegung des Heimweges verbundene Unfallursache darlegen müsse. Der Auffassung der Beklagten, es gehe zu Lasten der Klägerin, daß sie keine bestimmte Unfallursache habe angeben können, sei nicht zu folgen. Denn durch eine sonstige Ursache allein hätte sich der Unfall nicht ereignen können. Vielmehr sei außerdem erforderlich gewesen, daß die Klägerin sich fortbewegt habe. Diese Tätigkeit sei als die rechtlich allein wesentliche Ursache des Unfalls anzusehen. Da sie auch der Zurücklegung des Heimweges von der Arbeitsstätte gedient habe, sei der nach § 550 Abs 1 RVO erforderliche innere Zusammenhang gegeben. Im übrigen würde der - vorliegend nicht festgestellte - Umstand, daß noch eine andere Ursache rechtlich wesentlich sei, nicht schon bedeuten, daß die Zurücklegung des Weges unwesentlich gewesen sei. Es könne daher dahingestellt bleiben, ob die Klägerin - wie sie später vorgetragen habe - über einen Pflasterstein gestolpert sei. Allein die Zurücklegung des Weges als rechtlich wesentliche Unfallursache bei fehlender Wahrscheinlichkeit eines Sturzes aus innerer Ursache reiche aus, den Versicherungsschutz nach § 550 Abs 1 RVO zu bejahen.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt und trägt vor, das LSG habe § 550 Abs 1 RVO verletzt. Allein die Zurücklegung des Weges ohne Hinzutreten einer weiteren äußeren Ursache könne nicht als rechtlich wesentliche, den Versicherungsschutz begründende Ursache gewertet werden.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des LSG Rheinland-Pfalz vom 17. Dezember 1975 und des SG Speyer vom 11. April 1975 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie trägt vor, das LSG habe festgestellt, daß ein äußerer Umstand, nämlich das Hängenbleiben an dem schlechten Pflaster bei Zurücklegung des Weges für ihren Sturz allein ursächlich gewesen sei. Demnach habe es sich um einen mit der versicherten Tätigkeit in ursächlichem Zusammenhang stehenden Unfall gehandelt.
Entscheidungsgründe
Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten sich damit einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).
Die Revision der Beklagten ist insofern begründet, als das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache zu erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist (§ 170 Abs 2 SGG).
Die Klägerin hat am 23. April 1973 einen Arbeitsunfall erlitten.
Nach § 550 Abs 1 RVO gilt als Arbeitsunfall ein Unfall auf einem mit einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO bezeichneten Tätigkeiten zusammenhängenden Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit.
Der Begriff des Unfalls ist in der RVO nicht bestimmt. Nach der in Rechtsprechung und Schrifttum seit langem und im wesentlichen einhellig vertretenen Auffassung ist Unfall ein körperlich schädigendes, zeitlich begrenztes Ereignis (vgl Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 8. Aufl, S 479 mit Nachweisen). Soweit daneben zum Teil auch gefordert wird, das Ereignis müsse "von außen" auf den Menschen einwirken, soll damit lediglich ausgedrückt werden, daß ein aus innerer Ursache, aus dem Menschen selbst kommendes Ereignis nicht als Unfall anzusehen ist (Brackmann aaO S 480 mit Nachweisen). Für eine Einwirkung von außen genügt es zudem, daß zB der Boden beim Auffallen des Versicherten gegen seinen Körper stößt. Auch dadurch wirkt ein Teil der Außenwelt auf den Körper des Versicherten ein (vgl OLG Hamm VersR 1976, 336; Gitter, Schadensausgleich im Arbeitsunfallrecht, S 90; von Heinz, Entsprechungen und Abwandlungen des privaten Unfall- und Haftpflichtversicherungsrechts in der gesetzlichen Unfallversicherung nach der RVO, S 190, 192). Ausgehend von dieser Begriffsbestimmung unterliegt es keinem Zweifel, daß die Klägerin am 25. April 1973 einen Unfall erlitten hat, als sie nach dem Verlassen ihres Geschäftes fiel und dabei eine Infraktion des linken Radius erlitt.
Der Unfall war auch ein Arbeitsunfall. Die Klägerin befand sich im Zeitpunkt des Unfalls auf dem Weg von der versicherten Tätigkeit nach Hause und der Unfall stand auch im ursächlichen Zusammenhang mit dieser Tätigkeit. Allerdings wäre ein solcher Zusammenhang zu verneinen, wenn der Unfall infolge nicht betriebsbedingter krankhafter Erscheinungen der Klägerin eingetreten wäre und zur Schwere der Verletzung keine Gefahren mitgewirkt hätten, denen die Klägerin auf dem Weg nach Hause ausgesetzt war (vgl BSG SozR Nr 18 zu § 543 RVO aF; Brackmann aaO S 480 r). Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG scheidet ein Sturz aus innerer Ursache jedoch aus. In tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht ereignete sich der Unfall in ursächlichem Zusammenhang mit dem Sichfortbewegen der Klägerin von dem Ort, an dem sie ihre versicherte Tätigkeit ausübte, nach Hause, ohne daß dabei dem persönlichen Lebensbereich zuzurechnende und deswegen unfallversicherungsrechtlich nicht erhebliche Umstände für das Schadensereignis ursächlich geworden sind. Das rechtfertigt, den Versicherungsschutz der Klägerin nach § 550 Abs 1 RVO und damit einen Arbeitsunfall zu bejahen (vgl BSG Praxis 1973, 182; Podzun, ZfS 1974, 101).
Obwohl somit dem angefochtenen Urteil im Grundsatz zuzustimmen ist, war es dennoch aufzuheben, weil die getroffenen Feststellungen für eine Verurteilung der Beklagten nicht ausreichen.
Das SG hat aufgrund der zusammengefaßten Anfechtungs- und Leistungsklage der Klägerin den Bescheid vom 26. Oktober 1973 aufgehoben und die Beklagte dem Grunde nach verurteilt, der Klägerin Unfallentschädigung zu gewähren. Für den Erlaß eines Grundurteils nach § 130 SGG ist Voraussetzung, daß im konkreten Fall der Anspruch auf Unfallentschädigung wenigstens in einer Mindesthöhe gegeben ist, da andernfalls das Bestehen eines Anspruchs überhaupt nicht bejaht werden kann. Dabei genügt es, ist aber auch erforderlich, daß das Gericht nach den getroffenen Feststellungen eine Mindesthöhe des Anspruchs als wahrscheinlich ansieht (BSGE 13, 178, 181; SozR Nr 4 zu § 130 SGG). In der vorliegenden Sache hat das SG lediglich festgestellt, daß die Klägerin sich eine Infraktion des distalen Radius links zugezogen hat. Daraus allein läßt sich jedoch nicht herleiten, daß eine der in § 547 RVO genannten Leistungsarten in Mindesthöhe in Betracht kommt. Das SG hat vielmehr der Beklagten zu prüfen aufgegeben, inwieweit der Klägerin Leistungen zustehen. Das ist für ein Grundurteil nicht ausreichend. Obwohl das Berufungsgericht nach § 157 SGG den Streitfall im gleichen Umfang wie das SG zu prüfen hat, finden sich auch im Urteil des LSG keine Feststellungen, die eine Verurteilung der Beklagten dem Grunde nach rechtfertigen. Deshalb mußte das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Revisionsverfahrens - an das LSG zurückverwiesen werden, damit dort die fehlenden Feststellungen nachgeholt werden können.
Fundstellen