Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Urteil vom 27.03.1990) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 27. März 1990 aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Der Rechtsstreit betrifft die Gewährung einer Rente wegen Erwerbs-, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit. Umstritten ist, unter welchen Voraussetzungen die Folgerung gerechtfertigt ist, daß die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Ansprüche nicht abschließend aufzuklären sind, und wer solchenfalls die objektive Beweislast trägt.
Die 1933 geborene Klägerin, die den Hauptschulabschluß, aber keine Berufsausbildung hat, arbeitete von August 1949 bis März 1985 (mit Unterbrechungen) versicherungspflichtig im Haushalt und (zuletzt) als Raumpflegerin; sie hat eine Beitragszeit von insgesamt 272 Monaten zurückgelegt.
Wegen der Auswirkungen ihrer Gesundheitsstörungen: Lendenwirbelsyndrom, Adipositas, Diabetes mellitus, postthrombotischer Symptomenkomplex mit Varizen der unteren Extremitäten und Zustand nach Ulcus cruris links sowie psychovegetatives Syndrom gewährte ihr die Beklagte mit Bescheid vom 30. Dezember 1986 eine Zeitrente wegen Erwerbsunfähigkeit für den Zeitraum vom 14. August 1986 bis 31. August 1987 (Versicherungsfall: 11. März 1985). Ihr Antrag vom März 1987 auf Weitergewährung der Rente wurde dagegen abgelehnt (Bescheid vom 26. Mai 1987; Widerspruchsbescheid vom 5. November 1987). Die Klägerin könne wieder vollschichtig leichte Arbeiten im Sitzen und Stehen im Wechselrhythmus verrichten.
Die hiergegen gerichtete Klage wurde abgewiesen (Urteil des Sozialgerichts Itzehoe vom 1. Dezember 1988). Auf die Berufung der Klägerin hob das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) das erstinstanzliche Urteil und die Bescheide der Beklagten auf und verurteilte diese, der Klägerin über den 31. August 1987 hinaus Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren (Urteil vom 27. März 1990). Der arbeitsmarkt- und berufskundige Sachverständige K. … vom Arbeitsamt F. …, Dienststelle Sch. …, habe alle leichten, einfachen Maschinenbedienungs- und Montagetätigkeiten sowie die Beschäftigung als Pförtnerin überzeugend ausgeschlossen. Es blieben demnach noch einfache Prüf- und Kontrolltätigkeiten in der industriellen Fertigung. Insoweit habe der chirurgische Sachverständige Dr. Sch. … jedoch Zweifel angemeldet, ob die Klägerin dem aufgrund ihrer starken Bewegungseinschränkungen im linken Arm gewachsen wäre. Ob bei diesen Tätigkeiten der enge Wechselrhythmus eingehalten werden könne – wie Dr. Sch. … voraussetze – sei ebenfalls problematisch, weil einfache Kontrolltätigkeiten nach Aussage des berufskundigen Sachverständigen mehr an den Arbeitsplatz gebunden seien. Letzterer habe schließlich bezweifelt, ob die Klägerin wegen ihres Alters und fehlender entsprechender Berufserfahrung zu derartigen Tätigkeiten eine reale Zugangschance hätte. Da der Sachverständige K. … beruflich über einen verläßlichen Überblick über die Erwerbsmöglichkeiten von Arbeitnehmern verfüge, sehe der Senat zu einer weitergehenden Beweisaufnahme keinen Anlaß.
Erwerbsunfähigkeit sei rechtlich aber schon aufgrund der verbleibenden sozialmedizinisch begründeten Zweifel anzunehmen. Die Folgen der Nichtfeststellbarkeit einer realen Erwerbschance belasteten den beklagten Rentenversicherungsträger. Das ergebe sich aus der Ausgestaltung der Voraussetzungen für die Erwerbsunfähigkeit als negatives Tatbestandsmerkmal des § 1247 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO).
Gegen dieses Urteil hat die Beklagte Revision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung des § 1247 Abs 2 RVO und des Grundsatzes der Beweislastverteilung sowie – hilfsweise – des § 103 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Entgegen der Auffassung des LSG trage die Versicherte die Beweislast für die – ihr günstige – Tatsache, daß sie mit ihrem verminderten Leistungsvermögen eine ihr konkret benannte Verweisungstätigkeit nicht ausüben kann.
Falls diesem Vorbringen zur Beweislastfrage nicht gefolgt werde, sei eine Verletzung des § 103 SGG zu rügen. Das LSG habe sich gedrängt fühlen müssen, weitere Ermittlungen anzustellen, etwa dadurch, daß dem berufskundigen Sachverständigen ein Auftrag erteilt wird, weitere Erkundigungen bezüglich einfacher Prüf- und Kontrolltätigkeiten in der industriellen Fertigung einzuholen und sein Gutachten insoweit zu ergänzen. Diese Ergänzung hätte es dem medizinischen Sachverständigen ermöglicht, eine eindeutige Aussage über das verbliebene Leistungsvermögen der Klägerin zu treffen. Möglichkeiten weitergehender Ermittlungen hätten schließlich in der Augenscheinseinnahme eines in Frage kommenden Arbeitsplatzes oder der Vernehmung dort tätiger Arbeitnehmerinnen als Zeuginnen bestanden.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts vom 27. März 1990 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Itzehoe zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie stützt sich zur Begründung ihres Antrags auf die in dem angefochtenen Urteil niedergelegten Gründe.
Beide Beteiligten haben sich damit einverstanden erklärt, daß der Rechtsstreit durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entschieden wird (§ 124 Abs 2 SGG).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das LSG (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).
Umstritten ist allein, ob die Klägerin weiterhin (und auf Dauer) erwerbsunfähig ist. Dies läßt sich anhand der bisher vom LSG getroffenen Feststellungen nicht abschließend beurteilen.
Rechtsgrundlage für die in erster Linie von der Klägerin angestrebte Erwerbsunfähigkeitsrente ist § 1247 RVO.
Erwerbsunfähig ist gemäß § 1247 Abs 2 Satz 1 RVO der Versicherte, der infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder von Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf nicht absehbare Zeit eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit nicht mehr ausüben oder nicht mehr als nur geringfügige Einkünfte durch Erwerbstätigkeit erzielen kann. Die Klägerin ist aufgrund umformender Wirbelsäulenveränderungen, eingeschränkter Beweglichkeit der Sprunggelenke links und beider Arme sowie einer chronischen schweren venösen Abflußstörung in beiden Beinen bei erheblichem Übergewicht in ihrer Leistungsfähigkeit erheblich eingeschränkt; sie kann vollschichtig nur noch leichte Arbeiten verrichten. An diese von der Revision nicht angegriffenen Feststellungen des LSG ist der Senat gemäß § 163 SGG gebunden. Die Fähigkeit der Klägerin, eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben (oder mehr als nur geringfügige Einkünfte durch Erwerbsfähigkeit zu erzielen), ist hierdurch aufgehoben, wenn es keine Tätigkeiten mehr gibt, die ihr nach den ihr verbliebenen Kräften und Fähigkeiten (sowie ggf nach sozialen Gesichtspunkten und der Höhe des Entgelts) zumutbar sind. Das Tatsachengericht muß das Vorhandensein solcher Tätigkeiten im Wege der Amtsermittlung prüfen und sie unter bestimmten Voraussetzungen im Urteil konkret benennen (ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ≪BSG≫, vgl BSG SozR 2200 § 1246 Nr 30, Nr 75, Nr 90).
Diese Konkretisierungspflicht besteht dann nicht, wenn der Versicherte auf mittelschwere oder leichtere Arbeiten des allgemeinen Arbeitsfeldes verwiesen werden kann; denn es gibt eine so große Anzahl derartiger Tätigkeiten, daß das Vorhandensein einer Verweisungstätigkeit offensichtlich ist (BSG SozR 2200 § 1246 Nr 30, Nr 90). Dies wird im Fall des § 1247 RVO zumeist der Fall sein, weil hier – anders als bei § 1246 RVO – das Kriterium der sozialen Zumutbarkeit nur selten relevant wird (vgl hierzu beispielsweise BSGE 19, 147, 150 = SozR Nr 6 zu § 1247) und der Versicherte daher generell auf Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes zu verweisen ist.
Jedoch besteht auch bei der Prüfung einer Erwerbsunfähigkeitsrente die Pflicht, eine konkrete Verweisungstätigkeit zu benennen, wenn die Arbeitsfähigkeit der Versicherten durch mehrere schwerwiegende gesundheitliche Einschränkungen oder eine besonders einschneidende Behinderung gemindert ist, weil dann wieder fraglich wird, ob es Tätigkeiten gibt, deren Anforderungen sie gewachsen ist. Eine Summierung ungewöhnlicher Leistungsbeschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung zwingt zur konkreten Benennung (BSG SozR 2200 § 1246 Nr 117, Nr 136; Urteil vom 7. August 1986 – 4a RJ 41/85 – S 7 f).
Einen derartigen Fall hat das LSG hier zutreffend angenommen. In tatsächlicher Hinsicht hat es dazu festgestellt, daß die Klägerin nur im Wechselrhythmus zwischen Sitzen und Stehen mit Arbeitsphasen von jeweils 20 bis 30 Minuten arbeiten könne, unterbrochen durch einen kurzzeitigen, bis zu einigen Minuten dauernden Wechsel durch Gehen und Lageänderungen; zu vermeiden seien Knien und Bücken und Arbeiten in Kälte und Nässe. Außerdem seien ihr schnelle Arm- und Handbewegungen nicht zuzumuten. Damit ist nicht nur die ohnehin gegebene Beschränkung auf leichtere Tätigkeiten näher beschrieben (was zur Begründung der Konkretisierungspflicht nicht ausreichen würde, BSG SozR 2200 § 1246 Nr 90, Nr 117), sondern ein Komplex zusätzlicher Beeinträchtigungen dargelegt. Insbesondere die Einschränkungen der Arm- und Handbeweglichkeit sind im Erwerbsleben eine schwere spezifische Leistungsbeeinträchtigung und lassen Zweifel an einer normalen betrieblichen Einsatzfähigkeit auch für leichtere Tätigkeiten gerechtfertigt erscheinen. Das gilt auch angesichts der festgestellten Notwendigkeit, einen ganz bestimmten Arbeitsryhthmus mit zwischengeschalteten Gehphasen einzuhalten, durch die die betriebliche Einsatzfähigkeit unter Umständen in ähnlicher Weise eingeschränkt sein kann wie bei dem Erfordernis zusätzlicher kurzzeitiger Pausen (vgl hierzu BSG SozR 2200 § 1246 Nr 136: 15minütige Pausen zur Lockerung der Wirbelsäule; Urteil vom 7. August 1986 – 4a RJ 41/85: zwei weitere Pausen von je 5 -15 Minuten zur Einnahme von Zwischenmahlzeiten).
Somit mußte das Tatsachengericht im vorliegenden Fall untersuchen, ob die Klägerin gesundheitlich bzw nach ihren Kenntnissen und Fähigkeiten in der Lage ist, mindestens eine konkrete Verweisungstätigkeit auszuüben, für die es für sie erreichbare Arbeitsplätze gibt. Die Aussage des LSG, dies könne vorliegend nicht geklärt werden, ist schon deswegen nicht ausreichend, weil sie auf der Grundlage einer fehlerhaften Rechtsanwendung getroffen worden ist. Das LSG hat nach Anhörung des berufskundigen Sachverständigen als allein noch mögliche Verweisungstätigkeit „einfache Prüf- und Kontrolltätigkeiten in der industriellen Fertigung” angeführt und insoweit näher untersucht, ob das verbliebene Leistungsvermögen der Klägerin hierfür ausreicht. Damit ist eine Verweisungstätigkeit aber nicht hinreichend konkret benannt worden. Denn hierzu genügt es nicht, einzelne Arbeiten oder Arbeitsvorgänge anzugeben; vielmehr muß ein typischer Arbeitsplatz benannt werden, der nicht nur in geringer Anzahl vorkommt, wobei eine typisierende Beschreibung des Arbeitsinhalts zu geben ist, aus der sich erkennen läßt, welche Anforderungen an das Leistungsvermögen sowie an die Kenntnisse und Fähigkeiten des Versicherten gestellt werden (BSG SozR 2200 § 1246 Nr 72; Urteil vom 30. Oktober 1985, 4a RJ 69/84; Urteil vom 27. April 1989, 5 RJ 29/88). Insbesondere für den Bereich der Kontroll-und Überwachungstätigkeiten hat der 4. Senat in seinem Urteil vom 28. Juni 1979 (BSG SozR 2200 § 1246 Nr 45, S 134) überzeugend ausgeführt, die beruflichen und gesundheitlichen Voraussetzungen hierfür seien je nach der Art der zu kontrollierenden Gegenstände, der zu überwachenden Vorgänge und überhaupt der Gestaltung des jeweiligen Arbeitsplatzes zu unterschiedlich, als daß mit allgemeinen Formeln die Verweisbarkeit auf einen derartigen Komplex von Tätigkeiten bejaht werden könne (in diesem Sinne zu Kontrolltätigkeiten auch: Urteil vom 15. Januar 1981, 4 RJ 5/80, S 6; vom 30. Oktober 1985, 4a RJ 68/84, S 8; vom 27. April 1989, 5 RJ 29/88, S 4). Vor allem angesichts der besonderen Leistungsbeeinträchtigungen der Klägerin im Bereich der Arme und Hände hängt auch im vorliegenden Falle die Verweisbarkeit auf Prüf- und Kontrolltätigkeiten davon ab, von welchem Arbeitsplatz und von welchen Kontrollgegenständen auszugehen ist. Die wiederum pauschalisierende Beschränkung auf „einfache” Tätigkeiten in der „industriellen Fertigung” helfen hierbei nicht weiter. Das Berufungsgericht hat daher noch zu untersuchen, auf welchen (typischen) Arbeitsplatz es die Klägerin verweisen möchte, wobei es hierzu – neben der erneuten Einholung berufskundlicher Auskünfte oder Gutachten – auch auf Tarifverträge zurückgreifen kann (BSG Urteile vom 15. Januar 1981, 4 RJ 5/80, S 6; vom 30. Oktober 1985, 4a RJ 69/84, S 8).
Demgegenüber hat sich das LSG mit der Anhörung des Verwaltungsrats K. … begnügt, der lediglich ausgesagt hat, daß einfache Prüf- und Kontrolltätigkeiten in der industriellen Fertigung in Betracht kommen, wobei zweifelhaft sei, ob die Klägerin ohne jede Berufserfahrung in industrieller Fertigung zu solchen Tätigkeiten eine reale Zugangschance habe. Hier hätte sich das LSG gedrängt fühlen müssen, weiter zu ermitteln, wie die in Betracht kommenden Arbeitsplätze ausgestaltet sind und welche Anforderungen dort gestellt werden. Hierzu hätte sich eine Anhörung von Betriebsleitern oder anderen mit diesen Tätigkeiten näher vertrauten Personen angeboten und bei weiterem Zweifel auch eine Augenscheinseinnahme auf einigen dieser Arbeitsplätze.
Bevor nach dem Ergebnis einer solchen Beweisaufnahme die Frage der Beweislastverteilung zu stellen ist, hat das LSG eine ausführliche Beweiswürdigung vorzunehmen, die in dem angefochtenen Urteil nahezu vollständig unterblieben ist. Das LSG hat sich damit begnügt, die Aussage des Verwaltungsrats K. … zu übernehmen, weil er „beruflich über einen verläßlichen Überblick über die Erwerbsmöglichkeiten von Arbeitnehmern” verfüge. Bei verbleibendem Zweifel durfte sich das LSG aber mit einer so allgemeinen Floskel, die gerade deutlich macht, daß der Sachverständige nur einen allgemeinen Überblick hat, nicht begnügen, sondern mußte sich damit auseinandersetzen, wieso der Inhalt dieser Aussage die Entscheidung des Rechtsstreits ermöglicht.
Unzureichend sind auch die vom LSG angestellten Ermittlungen zu der Fähigkeit der Klägerin, etwaige auf dem Arbeitsmarkt vorkommende Tätigkeiten noch zu verrichten. Das LSG hat sich auch hier damit begnügt, daß der Sachverständige Dr. Sch. … Zweifel angemeldet hat, ob „die insbesondere im linken Arm stark bewegungseingeschränkte, zu Ansatzreizen der Ellenbogensehnen neigende Klägerin” solchen Anforderungen gewachsen wäre; es komme auf eine Probe an; dabei lagen dem Sachverständigen nicht einmal konkrete Angaben über die Anforderungen auf solchen Arbeitsplätzen vor. Das LSG wird deshalb nach Klärung der konkreten Anforderungen auf den für die Klägerin evtl in Betracht kommenden Arbeitsplätzen den Sachverständigen noch konkret zu befragen haben, inwieweit die Klägerin mit dem ihr verbliebenen Leistungsvermögen den einzelnen Anforderungen solcher Arbeitsplätze gewachsen ist.
Auch hier erfordert die Entscheidung des Falles eine sorgfältige, ins einzelne gehende Beweiswürdigung, bevor die Frage der Beweislastverteilung zu entscheiden ist.
Sollten die weiteren Ermittlungen ergeben, daß die Klägerin nach ihren gesundheitlichen und sonstigen Fähigkeiten noch eine konkrete Verweisungstätigkeit ausüben kann, wird das LSG weiterhin prüfen müssen, ob sie dies auch unter den betriebsüblichen Arbeitsbedingungen tun kann, weil andernfalls Erwerbsunfähigkeit wegen Verschlossenheit des Arbeitsmarktes anzunehmen wäre. Bei tariflich erfaßten Vollzeittätigkeiten ist zwar generell davon auszugehen, daß es insoweit auch Arbeitsplätze in ausreichendem Umfang gibt, weil die Tarifparteien regelmäßig nur solche Tätigkeiten in die Tarifverträge aufnehmen, für die eine größere Zahl von Arbeitsplätzen besteht (BSGE 44, 39, 40 = SozR 2200 § 1246 Nr 19; BSG SozR 2200 § 1246 Nr 75, Nr 90). Anders ist die Lage aber ua dann, wenn der Versicherte nach seinem Gesundheitszustand zwar noch Vollzeittätigkeiten verrichten kann, aber nicht in der Lage ist, diese unter den in Betrieben in der Regel üblichen Arbeitsbedingungen auszuführen (BSGE 44, 39, 40 = SozR 2200 § 1246 Nr 19; BSG SozR 2200 § 1246 Nr 22; § 1247 Nr 33). Sind entsprechende Arbeitsplätze so selten, daß faktisch keine (auch keine schlechte) Chance mehr besteht, einen solchen zu erhalten, ist der Versicherte nach der ständigen Rechtsprechung des BSG (BSGE 56, 64, 69 = SozR 2200 § 1246 Nr 110; BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 137, 139) vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen und damit erwerbsunfähig.
Sollten die vom LSG nachzuholenden Ermittlungen erneut zu dem Ergebnis führen, daß nicht festgestellt werden kann, ob es auf dem Arbeitsmarkt Tätigkeiten gibt, die für die Klägerin in Betracht kommen, oder sollte fraglich bleiben, ob die Klägerin den Anforderungen dieser Arbeitsplätze gewachsen ist, gilt folgendes: § 1246 Abs 2 und § 1247 Abs 2 RVO beschreiben die Versicherungsfälle dahin, daß das Herabsinken der Fähigkeit, auf dem Arbeitsmarkt Einkommen zu erzielen, von einem bestimmten Grade an einen Rentenanspruch auslösen kann. Dazu hat das BSG in ständiger Rechtsprechung entschieden, daß das Leistungsvermögen und die Umsetzungsfähigkeit an den konkreten Bedingungen des Arbeitsmarktes zu messen sind (s ua zur Benennung von Arbeitstätigkeiten für stark Leistungsgeminderte: SozR 2200 § 1246 Nr 81 S 253; Nr 90 S 258; Nr 104 S 324; Nr 117 S 374; Nr 136 S 436; zur Feststellung von Verweisungstätigkeiten: SozR 2200 § 1246 Nr 36 S 111; Nr 72 S 229; Nr 82; zu Teilzeitarbeitsplätzen: SozR 2200 § 1246 Nr 13 S 41 ff = BSGE 43, 75, 83 ff). Nur diejenigen Möglichkeiten, die auf dem Arbeitsmarkt konkret feststellbar sind, können als Maßstab für die Fähigkeit eines Versicherten, Erwerbseinkommen zu erzielen, herangezogen werden. Der Eintritt des Versicherungsfalles, dh das Nachlassen seiner körperlichen und geistigen Kräfte und der Umsetzungsfähigkeit, sind hingegen die für den Rentenanspruch vorausgesetzten Tatbestandsmerkmale, die vorliegen müssen, damit ein Rentenanspruch zugesprochen werden kann. Soweit an einem dieser Tatbestandsmerkmale noch Zweifel bestehen und alle Aufklärungsmöglichkeiten ausgeschöpft sind, geht dies zu Lasten des Versicherten, der den Rentenanspruch geltend macht.
Ebenso wie in allen anderen Prozeßordnungen gilt auch im sozialgerichtlichen Verfahren der Grundsatz der objektiven Beweislast; danach sind die Folgen der objektiven Beweislosigkeit bzw des Nichtfestgestelltseins einer Tatsache von dem Beteiligten zu tragen, der aus dieser Tatsache ein Recht herleiten will (BSGE 6, 70, 72 ff; 19, 52, 53; 30, 121, 123; Peters/ Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, §§ 103, 104, Anm 4). Innerhalb der verschiedenen Beweislastlehren ist die Rechtsprechung damit der sogenannten Normentheorie gefolgt (vgl Musielak, Die Grundlagen der Beweislast im Zivilprozeß, S 286 ff, 288 Fn 49). Die objektive Beweislast knüpft demnach unmittelbar an die materiell-rechtliche Regelung an, in der festgelegt ist, welche Tatsachen vorliegen müssen, damit ein Anspruch begründet wird. Demzufolge hat das BSG auch schon entschieden, daß derjenige, der eine Rente erstrebt, im Prozeß vor den Sozialgerichten unterliegt, wenn dort nicht festgestellt werden kann, daß alle tatbestandlichen Voraussetzungen der Anspruchsnorm vorliegen (Urteil vom 2. September 1964 – 11/1 RA 90/60 – zu § 1246 RVO: Beweislast für das tatsächliche Vorliegen von krankhaften seelischen Störungen; Urteil vom 31. Januar 1974 – 5 RKn 31/72 – zu § 46 RKG: Beweislast für eine bestimmte, zuletzt ausgeübte Berufstätigkeit).
Hieran ändert nichts, daß die weiteren Voraussetzungen der in § 1247 Abs 2 Satz 1 RVO definierten Erwerbsunfähigkeit negativ gefaßt sind (erwerbsunfähig ist ein Versicherter, „der … eine Erwerbstätigkeit … nicht mehr ausüben … kann”). Auch im Fall negativer Tatbestandsmerkmale bleibt es bei dem Grundsatz, daß die objektive Beweislast der Fassung der materiell-rechtlichen Anspruchsgrundlage folgt. Es ist also zu prüfen, ob die in der Anspruchsnorm angeführten Tatsachen nicht vorliegen; bleibt das Nichtvorliegen offen, geht dies zu Ungunsten des Anspruchstellers (BGH NJW 1958, 1188f; BGHZ 16, 307, 310; 101, 49, 55; Rosenberg, Die Beweislast, 5. Aufl, S 330 ff; Zöller-Stephan, ZPO, 16. Aufl, § 283 Anm 24; in diesem Sinne wohl auch, aber mißverständlich: Peters/Sautter/Wolff, aaO, wonach das „Fehlen der negativen Tatbestandsmerkmale” bewiesen sein müsse). Lediglich die auf dem Arbeitsmarkt vorhandenen Erwerbsmöglichkeiten, an denen die Erwerbsfähigkeit zu messen ist, müssen konkret nachgewiesen sein.
Die Verteilung der Feststellungslast kann auch nicht mit dem Hinweis des LSG auf allgemeine rechtsstaatliche Gesichtspunkte geändert werden. Der insoweit vorgeschlagene Weg, wonach der Rentenversicherungsträger eine nicht gerechtfertigte Rentengewährung über die spätere Durchführung berufsfördernder Maßnahmen (etwa einer Arbeitserprobung gemäß § 1237a Abs 1 Nr 2 RVO) erneut überprüfen soll, ist darüber hinaus in der Regel nicht gangbar, wie die Revision zutreffend ausführt. Eine Obliegenheit der Versicherten, der Rehabilitation zuzustimmen (§ 64 Sozialgesetzbuch – Allgemeiner Teil – ≪SGB I≫), besteht nur dann,
wenn zumindest wahrscheinlich ist, daß die Maßnahme dauerhaften Erfolg hat (Peters, Sozialgesetzbuch – Allgemeiner Teil –, § 64 Anm 8; einen hohen Grad an Wahrscheinlichkeit fordern: Thieme in Wannagat, Sozialgesetzbuch – Allgemeiner Teil –, § 64 RdNr 8 ≪Stand 9/77≫ und Seewald in: Kasseler Kommentar, § 64 SGB I RdNr 9 ≪Stand 1/91≫); dies gilt gleichermaßen für die Frage, ob der Rentenversicherungsträger die Maßnahme überhaupt gewähren kann (BSGE 53, 100, 105 = SozR 2200 § 1276 Nr 6). Im vorliegenden Fall ist das aber gerade zweifelhaft.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen