Orientierungssatz
1. Eine vom LSG oder vom BSG zugelassene Revision kann - jedenfalls grundsätzlich - nicht deswegen als unzulässig verworfen werden, weil die Zulassung nicht hätte erfolgen dürfen. Die Zulassung entbindet das Revisionsgericht dagegen nicht von seiner Pflicht, die übrigen Zulässigkeitsvoraussetzungen des Revisionsverfahrens und alle Zulässigkeitsvoraussetzungen des Berufungsverfahrens auf ihr Vorliegen zu prüfen und gegebenenfalls die Revision oder die Berufung wegen Fehlens einer Zulässigkeitsvoraussetzung zu verwerfen.
2. Nach dem Zweck und der Entstehungsgeschichte gebotenen weiten Auslegung des SGG § 96 erscheint es geboten, die dem Vertrauensschutz und der Prozeßökonomie dienende Vorschrift auch auf neue Verwaltungsakte auszudehnen, die sich zwar nicht auf den Streitgegenstand im engeren Sinne beziehen, aber im Rahmen eines Dauerrechtsverhältnisses ergehen und ein streitiges Rechtsverhältnis für einen weiteren Zeitraum regeln, der sich an den von dem angefochtenen Verwaltungsakt erfaßten Zeitraum anschließt (vgl BSG 1972-08-23 5 RKnU 16/70 = BSGE 34, 255, 257).
Normenkette
SGG § 146 Fassung: 1958-06-25, § 96 Fassung: 1953-09-03, § 160 Abs. 3 Fassung: 1974-07-30
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 18.01.1977; Aktenzeichen L 6 Ar 522/74) |
SG Augsburg (Entscheidung vom 06.09.1974; Aktenzeichen S 6 Ar Jt 116/74) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 18. Januar 1977 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 6. September 1974 als unzulässig verworfen wird.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Der am 4. Juli 1940 geborene Kläger ist italienischer Staatsangehöriger und wohnt seit 1966 in der Schweiz. Er war 36 Monate in Italien, 43 Monate im Bundesgebiet und seit September 1966 in der Schweiz als Maurer versicherungspflichtig beschäftigt; für diese Zeiträume wurden Beiträge an die jeweiligen Rentenversicherungsanstalten entrichtet. Im September 1968 erlitt er einen Arbeitsunfall. Er ist seitdem in seiner Leistungsfähigkeit eingeschränkt.
Die Beklagte bewilligte auf den Antrag des Klägers hin Rente wegen Erwerbsunfähigkeit für die Zeit von November 1970 bis August 1971, lehnte aber den weitergehenden Antrag ab. Nachdem der Kläger Klage erhoben hatte, verpflichtete sie sich am 12. April 1973 in einem Prozeßvergleich, für die Zeit von September 1971 bis November 1972 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit und für die Zeit von Dezember 1972 bis März 1973 Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren; der Kläger nahm die Klage im übrigen zurück. Mit Bescheid vom 24. August 1973 führte die Beklagte den Vergleich aus; dabei berücksichtigte sie keine Zurechnungszeit.
Mit der Klage hat der Kläger beantragt, "die Beklagte unter Abänderung ihres Bescheides vom 24. August 1973 zu verurteilen, die vom Kläger in der Schweiz zurückgelegten Versicherungszeiten bei der Berechnung der Halbdeckung nach § 1260 RVO anzuerkennen". Das Sozialgericht (SG) Augsburg hat mit Urteil vom 6.September 1974 die Klage abgewiesen. Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 18. Januar 1977 die am 14. Oktober 1974 eingelegte Berufung des Klägers als unbegründet zurückgewiesen, ohne auf die Frage der Zulässigkeit der Berufung einzugehen. In den Entscheidungsgründen ist ua ausgeführt, die Halbbelegung für die Zurechnungszeit sei mit den deutschen und italienischen Beiträgen nicht erfüllt; die schweizerischen Beiträge könnten nicht berücksichtigt werden.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung des materiellen Rechts. Für seinen Vortrag wird auf die Schriftsätze seiner Prozeßbevollmächtigten vom 18.Oktober 1977, 5. Februar und 22. Mai 1978 Bezug genommen. Er beantragt sinngemäß,
die Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts vom 18. Januar 1977 sowie des Sozialgerichts Augsburg vom 6. September 1974 aufzuheben, den Bescheid der Beklagten vom 24. August 1973 zu ändern und diese zu verurteilen, ihm unter Berücksichtigung einer Zurechnungszeit höhere Renten zu zahlen,
hilfsweise,
den Europäischen Gerichtshof anzurufen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers als unbegründet zurückzuweisen,
hilfsweise,
den Europäischen Gerichtshof anzurufen.
Auf ihre Schriftsätze vom 26. Januar und 16. Mai 1978 wird verwiesen.
Der Kläger hat im August 1973 bei der Beklagten beantragt, "auch nach dem 31.3.1973 die Erwerbsunfähigkeitsrente oder wenigstens die Berufsunfähigkeitsrente zu gewähren". Die Beklagte hat mit Bescheid vom 24. April 1975 den Antrag abgelehnt, "weil Berufsunfähigkeit im Sinne des Gesetzes nicht mehr vorliegt"; in der Rechtsbehelfsbelehrung hat sie auf die Möglichkeit der Klage hingewiesen. Der Kläger hat gegen den neuen Bescheid Klage bei dem SG in Augsburg (S 5-Ar-It 909/75) erhoben. Das Berufungsgericht hat dazu ausgeführt, der weitere Bescheid sei nicht Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden, weil er den streitigen Bescheid weder abändere noch ersetze.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision ist nur insoweit begründet, als die Berufung des Klägers als unzulässig zu verwerfen war.
Der Senat hat bei einer zulässigen Revision von Amts wegen auch die Zulässigkeit der Berufung zu prüfen (BSGE 1, 227, 230; Urteil vom 21. März 1978 - 7/12/7 RAr 41/76; Meyer-Ladewig, SGG, Anm 11 zu § 162). Er kann die Berufung - entgegen anscheinend der Ansicht der Revision - auch dann als unzulässig verwerfen, wenn er, wie hier, die Revision wegen einer unter den Beteiligten streitigen Frage des materiellen Rechts nach § 160 Abs 2 Nr 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zugelassen hat. Die Bindung an die Zulassung der Revision (§ 160 Abs 3 SGG) hindert das Revisionsgericht nur an einer nochmaligen Überprüfung der Zulassungsentscheidung, insbesondere an der nachträglichen Verneinung eines - mit der Zulassung bejahten - Zulassungsgrundes. Eine vom LSG oder vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassene Revision kann mithin - jedenfalls grundsätzlich (vgl Meyer-Ladewig aaO Anm 27 zu § 160) - nicht deswegen als unzulässig verworfen werden, weil die Zulassung nicht hätte erfolgen dürfen. Die Zulassung entbindet das Revisionsgericht dagegen nicht von seiner Pflicht, die übrigen Zulässigkeitsvoraussetzungen des Revisionsverfahrens und alle Zulässigkeitsvoraussetzungen des Berufungsverfahrens auf ihr Vorliegen zu prüfen und gegebenenfalls die Revision oder die Berufung wegen Fehlens einer Zulässigkeitsvoraussetzung zu verwerfen.
Die Berufung ist hier nach § 146 SGG unzulässig. Nach dieser Vorschrift ist in Angelegenheiten der Rentenversicherung die Berufung (ua) nicht zulässig, soweit sie nur die Rente für bereits abgelaufene Zeiträume betrifft. So liegt der Fall hier.
Die Berufung betraf den Bescheid vom 24. August 1973 und die Höhe der in diesem Bescheid zugebilligten, bis März 1973 befristeten Rente. Im Zeitpunkt ihrer Einlegung (Oktober 1974) hatte sie demnach nur eine in der Vergangenheit liegende und beendete Rente zum Gegenstand.
Einer der Sonderfälle des § 150 SGG lag nicht vor. Weder hatte das SG die Berufung zugelassen (daß die Rechtsmittelbelehrung von der Zulässigkeit der Berufung ausgeht, ist ohne Bedeutung, BSGE 5, 92, 95), noch hatte der Kläger einen wesentlichen Mangel des Verfahrens gerügt noch war es auf den Ursachenzusammenhang in Verbindung mit einer Gesundheitsstörung angekommen.
Der Bescheid vom 24. April 1975 ist, wie das Berufungsgericht in Übereinstimmung mit der Beklagten zu Recht ausgeführt hat, nicht nach § 96 SGG Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden, weil er den Bescheid vom 24. August 1973 weder abändert noch ersetzt. Zwar hat der 5. Senat entschieden, daß es bei der nach dem Zweck und der Entstehungsgeschichte gebotenen weiten Auslegung des § 96 geboten erscheine, die dem Vertrauensschutz und der Prozeßökonomie dienende Vorschrift auch auf neue Verwaltungsakte auszudehnen, die sich zwar nicht auf den Streitgegenstand im engeren Sinne beziehen, aber im Rahmen eines Dauerrechtsverhältnisses ergehen und ein streitiges Rechtsverhältnis für einen weiteren Zeitraum regeln, der sich an den von dem angefochtenen Verwaltungsakt erfaßten Zeitraum anschließt (BSGE 34, 255, 257 unter Hinweis auf BSG SozR Nr 14 zu § 96 SGG). Aber der Fall, der dem 5. Senat vorlag, unterscheidet sich wesentlich von dem jetzt zu beurteilenden. Damals hatte die beklagte Berufsgenossenschaft dem Kläger, der sich der Heilbehandlung entzogen hatte, zweimal nach § 624 Reichsversicherungsordnung - RVO - aF die Leistungen versagt, zunächst mit Bescheid von 1966 auf zwei Jahre, dann im Berufungsverfahren mit Bescheid von 1969 weiterhin. Während also damals Rechtsgrund und nachzuprüfender Tatsachenstoff gleich waren, geht es hier bei dem ersten Bescheid um die Höhe der Rente, die ihrer Zeitdauer nach durch den Prozeßvergleich und die - zusätzlich erklärte - Klagerücknahme zwischen den Beteiligten feststeht, bei dem zweiten Bescheid dagegen - dem Grunde nach - um eine nach dem Prozeßvergleich neu beantragte Rente, die übrigens nach § 1290 Abs 2 RVO nicht im Anschluß an die seinerzeit bis zum 31. März 1973 bewilligte Rente hätte gewährt werden können. Auch gegenüber den Fällen des 9. Senats (BSGE 37, 93, 94 = SozR 3660 § 2 Nr 1) und des erkennenden Senats (Urteil vom 19. April 1978 - 4 RJ 91/77 -) besteht insofern ein grundlegender Unterschied, als es sich hier nicht wie in jenen Fällen darum handelt, daß die Beklagte im zweiten Bescheid den im früheren Bescheid vertretenen, vom Kläger bestrittenen Standpunkt aufrechterhält. Ein die Anwendbarkeit des § 96 SGG rechtfertigender "innerer Zusammenhang" (BSGE 25, 161, 163) besteht hier nicht (vgl auch SozR 1500 § 96 Nr 6).
Die Zulässigkeit der Berufung wäre aber auch nicht anders zu beurteilen, wenn der Bescheid von 1975 Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden wäre. Denn die Voraussetzungen für die Zulässigkeit der Berufung sind hinsichtlich aller im Streit befindlichen Ansprüche gesondert zu prüfen. Das ist zwar von der Rechtsprechung eingeschränkt worden für Ansprüche, die derart voneinander abhängen, daß der eine präjudiziell für den andern ist (BSG SozR 1500 § 146 Nr 4); ein solcher Fall liegt hier aber nicht vor.
Das Verbot der Schlechterstellung des Rechtsmittelführers steht der Abänderung des angefochtenen Urteils im Sinne der Entscheidung des Senats nicht entgegen (BSGE 2, 225, 229).
Die Revision war daher mit der Maßgabe, daß die Berufung unzulässig ist, als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen