Leitsatz (redaktionell)

Auch mehrmals täglich auftretende Absencen bedingen keine Hilflosigkeit iS des BVG § 35, da eine Begleitperson nicht ständig, sondern nur bei längeren Reisen und Sitzungen erforderlich ist.

 

Normenkette

BVG § 35 Abs. 1 Fassung: 1960-06-27

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 8. Juli 1963 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Der Kläger bezieht auf Grund der Bescheide vom 27. Februar und 24. Juli 1958 Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 80 v. H., ua wegen Hirnverletzung durch stumpfe Gewalteinwirkung mit Schlafanfällen. Im November 1960 beantragte er, ihm Pflegezulage nach Stufe I zu gewähren, weil sich seine Schädigungsfolgen verschlimmert hätten. Die Versorgungsverwaltung lehnte das Begehren mit Bescheid vom 9. März 1961 und Widerspruchsbescheid vom 13. Juni 1961 ab, weil weder Erwerbsunfähigkeit noch Hilflosigkeit durch die Hirnverletzung bestünden. Auf die Klage hob das Sozialgericht (SG) Speyer mit Urteil vom 19. Dezember 1961 die angefochtenen Bescheide auf und sprach dem Kläger Pflegezulage ab 1. November 1960 zu, weil er sich außerhalb seiner Wohnung nur mit einer Begleitperson bewegen könne und diese Begleitperson vom Sachverständigen für notwendig gehalten worden sei.

Auf die Berufung des beklagten Landes hob das Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 8. Juli 1963 das erstinstanzliche Urteil auf und wies die Klage ab. Pflegezulage sei ein Teil des Versorgungsanspruchs nach § 9 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG); dieser sei für die Beteiligten bindend festgestellt. Nach § 62 Abs. 1 BVG sei der Anspruch neu festzustellen, wenn sich die für die vorhergehende Feststellung maßgebenden Verhältnisse wesentlich geändert hätten. Das treffe nicht zu. Die Behauptung des Klägers, daß die Häufigkeit der Schlafanfällen zugenommen habe, sei zur Überzeugung des Gerichts nicht festgestellt. 1962 habe der Kläger drei bis sechs Anfälle je Tag behauptet. Nach den schriftlichen Angaben seiner Ehefrau und der Zeugin W habe sich die Häufigkeit der Anfälle seither nicht geändert. In der gleichen Richtung gingen auch die Erfahrungen des Senats des LSG Rheinland-Pfalz, dem der Kläger als Beisitzer angehörte. Die Gewährung von Pflegezulage sei daher mit Recht abgelehnt worden. Dieser Auffassung des LSG, daß auch der Antrag auf Pflegezulage eine Neufeststellung nach § 62 BVG erfordere, stehe die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nicht entgegen, weil diese sich nur auf die Auslegung des § 148 Nr. 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), nicht aber auf § 62 BVG beziehe; denn § 148 Nr. 3 SGG sichere den Rechtsschutz, während § 62 BVG materiell-rechtliche Anspruchsvoraussetzungen betreffe. Dem entspreche auch RVG 6, 217 und 11, 191 (a. M. Wilke in BVG, § 35 Erläuterung I). Das LSG ließ die Revision zu.

Gegen das dem Kläger am 24. September 1963 zugestellte Urteil hat er am 22. Oktober 1963 Revision mit dem Antrag eingelegt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Er rügt Verletzung des § 62 Abs. 1 BVG, weil über eine erstmalig geltend gemachte Pflegezulage nicht in einem Neufeststellungsbescheid, sondern in einem Erstfeststellungsbescheid zu befinden sei. Auch der als Neufeststellungsbescheid bezeichnete Bescheid der Versorgungsverwaltung vom 19. März 1961 habe die erstmalige Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens des Anspruchs auf Pflegezulage zum Inhalt (ebenso ua BSG 8, 97).

Die Revision ist durch Zulassung statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG); sie ist jedoch nicht begründet.

Die Rüge der Revision, das LSG habe zu Unrecht einen Neufeststellungsbescheid nach § 62 BVG erlassen, greift allerdings durch. Es kann dahingestellt bleiben, ob der Sprachgebrauch und der Sinn des § 9 BVG die Auffassung des LSG rechtfertigen, daß es sich um eine Änderung des Leidenszustandes handele, wenn Hilflosigkeit neu zum bisherigen Leidenszustand hinzutritt. Denn die Rechtsprechung des BSG geht davon aus, daß zu einer Neufeststellung die erforderliche Vergleichsgrundlage fehlt, wenn bisher noch nicht über die Pflegezulage entschieden worden ist. Aus diesem Grunde ist beim Hinzutreten von Hilflosigkeit, über die noch nicht entschieden worden ist, von einer ergänzenden Erstfeststellung zu sprechen. Dieser Auffassung hat sich der Senat in BSG 8, 97 angeschlossen. Er sieht keine zwingenden Gründe, von dieser beinahe ständig vertretenen Auffassung abzugehen. Diese Rechtsansicht hat auch den Vorzug, die Entscheidung über eine Teilfrage innerhalb des gesamten Leidenszustands nicht zu unterstellen, wenn über diese Teilfrage bisher noch nicht entschieden worden ist. Auch der Einwand, daß die bisherige Rechtsprechung sich auf § 148 Nr. 3 SGG, nicht aber auf § 62 BVG beziehe, greift im Ergebnis nicht durch, weil § 148 Nr. 3 SGG in der Fassung des 2. Änderungsgesetzes vom 25. Juni 1958 (BGBl I 409) den Berufungsausschluß von einer materiell- rechtlichen Änderung der Verhältnisse im Sinne des § 62 BVG abhängig macht und die Anspruchsvoraussetzungen für den einzelnen Anspruch auf Leistungen (§ 9 BVG) verschieden geregelt sind (ebenso BSG 3, 271; SozR SGG § 148 Nr. 13 und 17). In dieser Hinsicht entspricht mithin das angefochtene Urteil nicht der von der Rechtsprechung hinsichtlich der erstmaligen Feststellung einer Pflegezulage gegebenen Auslegung (ebenso Wilke, Bundesversorgungsgesetz, Kommentar, 2. Auflage 1965, § 62 Anm. 4 S. 354). Diese Gesetzesverletzung muß indes nicht dazu führen, das angefochtene Urteil aufzuheben; seine Richtigkeit ergibt sich aus anderen Gründen (§ 170 Abs. 1 Satz 2 SGG).

Nach § 35 Abs. 1 Satz 1 BVG hat Anspruch auf Pflegezulage, wer so hilflos ist, daß er für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens in erheblichem Umfange fremder Hilfe dauernd bedarf (so die am 1. Juni 1960 in Kraft getretene Fassung des § 35 BVG auf Grund des 1. Neuordnungsgesetzes - NOG - vom 27. Juni 1960 - BGBl I 453 -). Diese Fassung hat sich auch nicht mehr durch das 2. NOG vom 21. Februar 1964 (BGBl I 85) geändert. Dies bedeutet, daß der Beschädigte dann hilflos ist, wenn er bei Verrichtungen wie Aufstehen, Waschen, An- und Auskleiden, Essen, Trinken, Lesen und Gehen fremder Hilfe bedarf. Das LSG hat unangegriffen festgestellt, daß der Kläger drei bis sechs Schlafanfälle jeweils in der Dauer von 1/4 bis 1/2 Stunde täglich auf sich nehmen muß. Eine weitergehende Hilflosigkeit, die sich auf bestimmte Verrichtungen des täglichen Lebens bezieht, hat der Kläger weder behauptet noch hat sie das LSG festgestellt. Der Senat hat also zu prüfen, ob die Hilflosigkeit des Klägers in dem festgestellten Umfang einen Anspruch auf Pflegezulage rechtfertigt. Der Revision ist zuzugeben, daß der Kläger während eines Schlafanfalles so hilflos ist, daß er in diesem Zustand zu keinerlei Verrichtung fähig ist. Da aber dieser Zustand nur vorübergehend ist, wenn er auch mehrmals am Tage sich wiederholt, so ist doch der Kläger an den im Ablauf des täglichen Lebens regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen nicht gehindert. Benützt der Kläger allerdings für größere Entfernungen die Eisenbahn, mag sich die Notwendigkeit ergeben, daß er begleitet wird, Solche Fahrten gehören jedoch nicht mehr zu den regelmäßigen Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens. Auch der ehrenamtliche Dienst als Landessozialrichter, den der Kläger ausübt oder ausgeübt hat, rechnet nicht zu den Verrichtungen des täglichen Lebens. Wenn er sonach auch fremder Hilfe, nämlich einer Begleitung bei Fahrten nach auswärts bedarf, so ist damit doch die Voraussetzung für eine Hilflosigkeit im Sinne des § 35 BVG, nämlich ein dauernder Bedarf, nicht erfüllt, weil solche Fahrten nur hin und wieder ausgeführt werden müssen.

Die Hilflosigkeit des Klägers beim Fernsehen sowie bei Sitzungen, in welchen er gegen seinen Willen einschläft, bedingt ebenfalls keine fremde Hilfe in erheblichem Umfang. Ist aber eine Bereitschaft einer Pflegeperson in regelmäßiger Wiederkehr nicht erforderlich, so fehlt es an einem wesentlichen Merkmal des § 35 Abs. 1 Satz 1 BVG, zumal die Schlafanfälle, denen der Kläger mehrmals täglich ausgesetzt ist, nicht Verletzungen zur Folge haben (ebenso der 10. Senat in SozR BVG § 35 Nr. 14; Wilke a. a. O. § 35 Anm. II/1). Der Leidenszustand des Klägers bedingt mithin nicht dauernde fremde Hilfe oder Hilfe in erheblichem Umfang; ihm steht daher eine Pflegezulage nicht zu. Um dies auszusprechen, reichen die Feststellungen des LSG aus. Damit hat das angefochtene Urteil im Ergebnis zu Recht das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen. Die Revision des Klägers war daher als unbegründet zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 2 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2380405

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