Leitsatz (amtlich)
Ein Rechtsbeistand, dessen Erlaubnis zur Besorgung fremder Rechtsangelegenheiten das Gebiet der Sozialversicherung umfaßt, dem aber das mündliche Verhandeln vor Gericht nicht eigens gestattet ist, ist vor den SG und LSG als Bevollmächtigter und Beistand nur in der mündlichen Verhandlung, dagegen nicht im Schriftverkehr mit diesen Gerichten ausgeschlossen.
Normenkette
SGG § 73 Fassung: 1974-07-30; ZPO § 157 Abs. 1 Fassung: 1950-09-12; RBerG Art. 1 § 1 Fassung: 1935-12-13
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 18. März 1975 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
Es ist umstritten, ob die von Rechtsbeistand K. als Bevollmächtigtem der Kläger eingelegten Berufungen zulässig sind (§ 73 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).
Die beiden in England wohnhaften Kläger, Verfolgte, hatten dem Rechtsbeistand H.H.K., B, Vollmacht zur Durchführung von Prozessen gegen die Beklagte erteilt, mit deren Bescheiden wegen Beginn und Höhe der Rente sowie Nachentrichtung von Beiträgen sie nicht einverstanden waren.
Das Sozialgericht (SG) Hamburg hat die Klage des Klägers zu 1) durch Urteil vom 20. August 1974 und die der Klägerin zu 2) durch Urteil vom 10. Dezember 1974 abgewiesen. Rechtsbeistand K. hat beim Landessozialgericht (LSG) Hamburg mit zwei Schriftsätzen Berufung gegen diese Urteile eingelegt.
Das LSG hat die Berufungen als unzulässig verworfen; die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 18. März 1975). Es hat ausgeführt, K., der als Prozeßagent nicht zugelassen sei, sei vom Verfahren ausgeschlossen und die von ihm im Namen der Kläger eingelegten Berufungen seien unzulässig. Gemäß § 73 Abs. 6 Satz 1 SGG i.V.m. § 157 Abs. 1 Satz 1 Zivilprozeßordnung (ZPO) dürften Personen, die die Besorgung fremder Rechtsangelegenheiten vor Gericht geschäftsmäßig betreiben, nicht als Bevollmächtigte auftreten, es sei denn, sie wären als Rechtsanwalt, Prozeßagent (§ 157 Abs. 3 ZPO) oder Verbandsvertreter (§ 73 Abs. 6 Satz 3 SGG) zugelassen. In der Sozialgerichtsbarkeit sei § 157 ZPO nicht streng wörtlich, sondern "entsprechend" anzuwenden. Dabei seien die Unterschiede zwischen den Verfahrensarten im Zivilprozeß und der Sozialgerichtsbarkeit zu berücksichtigen. Ein grundlegender Unterschied bestehe in der Bedeutung der mündlichen Verhandlung. Entscheidungsgrundlage eines Zivilurteils könne nur sein, was Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sei (§ 128 Abs. 1 ZPO). Dagegen sei in der Sozialgerichtsbarkeit schriftliches und mündliches Vorbringen gleichwertig. Im Zivilprozeß seien die schriftlichen Prozeßhandlungen des ausgeschlossenen Vertreters für die Rechtsfindung unbeachtlich (§ 128 Abs. 2, § 251 a, § 331 a ZPO). Im Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit würde eine auf die mündliche Verhandlung beschränkte Anwendung des § 157 Abs. 1 ZPO bewirken, daß das schriftliche Vorbringen des nicht zugelassenen Prozeßbevollmächtigten alleinige Urteilsgrundlage sei.
Die Kläger haben Revision eingelegt und beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts aufzuheben und nach den Anträgen der zweiten Instanz zu erkennen.
Sie meinen, die Berufungen seien zulässig eingelegt worden.
Die Beklagte hat beantragt,
die Revisionen der Kläger zurückzuweisen.
Die Revisionen sind zulässig und begründet.
Rechtsbeistand K. war als Prozeßbevollmächtigter der Kläger berechtigt, Berufung beim LSG Hamburg einzulegen. § 73 Abs. 6 Satz 1 i.V.m. § 157 Abs. 1 Satz 1 ZPO schließt diese Berechtigung nicht aus.
Nach § 73 Abs. 1 Satz 1 SGG können die Beteiligten sich in jeder Lage des Verfahrens durch prozeßfähige Bevollmächtigte vertreten lassen; nach Abs. 6 Satz 1 gilt für die Zurückweisung von Bevollmächtigten und Beiständen § 157 ZPO entsprechend. Nach § 157 Abs. 1 Satz 1 ZPO sind - mit Ausnahme von Rechtsanwälten - Personen, die die Besorgung fremder Rechtsangelegenheiten vor Gerichten geschäftsmäßig betreiben, als Bevollmächtigte und Beistände in der mündlichen Verhandlung ausgeschlossen. Abs. 2 und 3 des § 157 ZPO kommen hier nicht in Betracht, weil Rechtsbeistand K. nicht zu den dort genannten Personen gehört und ihm das mündliche Verhandeln vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit nicht gestattet ist; denn er ist durch den Amtsgerichtspräsidenten Berlin (Verfügung vom 9. Februar 1962) "als Rechtsbeistand mit Vollzulassung, jedoch nicht als Prozeßagent" zugelassen.
§ 157 ZPO betrifft ausdrücklich nur die mündliche Verhandlung vor Gericht. Die Vorschrift soll der Schädigung der Parteien und des Ansehens der Gerichte durch Auftreten von Personen vorbeugen, die keine hinreichende Gewähr für die gerade hier unentbehrliche Sachkunde und Zuverlässigkeit bieten (Baumbach, ZPO, 33. Aufl., Anmerkung 1 A zu § 157 ZPO). Bei schriftlichen Eingaben der in § 157 Abs. 1 und 2 ZPO genannten Personen sieht die ZPO diese Gefahren anscheinend nicht als bestehend an, und zwar, wie das LSG meint, wegen des Vorrangs der mündlichen Verhandlung nach § 128 Abs. 1 ZPO. Zwar hat die mündliche Verhandlung im Zivilprozeß und in der Sozialgerichtsbarkeit eine unterschiedliche Bedeutung; diese ist indes nicht so schwerwiegend, daß der "mündlichen Verhandlung" im Zivilprozeß schriftliches Vorbringen in der Sozialgerichtsbarkeit schlechthin gleichstände. Wenn auch im Zivilprozeß schriftliches Vorbringen Bedeutung erst durch den Vortrag in der mündlichen Verhandlung erlangt (§ 128 Abs. 1 ZPO), so wird jedoch bei Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 128 Abs. 2 ZPO) der gesamte Akteninhalt als von den Parteien vorgetragen angesehen, also auch die von Rechtsbeiständen eingereichten Schriftsätze. Wenn solche schriftlichen Eingaben nicht sachgerecht erscheinen, wird in beiden Verfahrensarten der Richter eine mündliche Verhandlung mit den Parteien (Beteiligten) durchführen entweder im Hinblick auf seine Frage- und Vorbereitungspflicht nach §§ 139, 272 b ZPO oder seine Sachaufklärungspflicht nach §§ 103, 112 SGG. Jedenfalls bieten beide Verfahrensarten die Möglichkeit, eine durch einen Rechtsbeistand vertretene Partei, falls erforderlich, zu schützen.
Die entsprechende Anwendung des § 157 Abs. 1 Satz 1 ZPO in der Sozialgerichtsbarkeit auf schriftliche Eingaben von Rechtsbeiständen würde diese Personen von der Vertretung in der Sozialgerichtsbarkeit überhaupt ausschließen. Dies erscheint mit den Grundgedanken des § 73 SGG nicht vereinbar. Der Vertretungszwang ist in der Sozialgerichtsbarkeit im Gegensatz zur ZPO auf die Revisionsinstanz beschränkt. Für die übrigen Instanzen gibt § 73 Abs. 1 Satz 1 SGG den Beteiligten weitreichende Möglichkeiten, sich in allen Verfahrensabschnitten entweder selbst zu vertreten oder sowohl bei schriftlichen Eingaben als auch in der mündlichen Verhandlung vertreten zu lassen, und zwar durch jede prozeßfähige Person, lediglich mit der Möglichkeit, daß dieser der mündliche Vortrag untersagt wird. Es ist kein triftiger Grund dafür zu erkennen, daß gerade Rechtsbeistände in keiner Lage des Verfahrens Vertreter sein könnten, während den in § 73 Abs. 6 Satz 3 SGG aufgeführten Verbandsvertretern nicht nur die Vertretung bei schriftlichen Eingaben, sondern auch die Vertretung in der mündlichen Verhandlung erlaubt ist. Für eine so weitreichende unterschiedliche Behandlung der Vertretungsbefugnis durch Rechtsbeistände und durch die genannten Verbandsvertreter sind sachliche Gesichtspunkte nicht zu erkennen, insbesondere wenn berücksichtigt wird, daß in der Sozialgerichtsbarkeit jede prozeßfähige Person, auch wenn sie rechtsunkundig ist, als Bevollmächtigter auftreten kann (§ 73 Abs. 1 SGG). Als sachliche Gesichtspunkte bei berufsmäßigen Vertretern kommen bei der Auslegung des § 73 SGG i.V.m. § 157 ZPO berufliche Zuverlässigkeit, persönliche Eignung und die Sachkenntnis der rechtlichen Materie in Betracht. Sie werden bei den in § 73 Abs. 6 Satz 3 SGG genannten Verbandsvertretern vom Gesetz unterstellt. Bei Rechtsbeiständen werden sie vor deren Zulassung, die unter Umständen mit Einschränkungen und Auflagen verbunden ist, geprüft; auch kann die Erlaubnis unter bestimmten Voraussetzungen widerrufen werden (siehe RBerG sowie die 1. und 2. Ausführungsverordnung zum RBerG). Das Rechtsberatungsgesetz vom 13. Dezember 1935 (RGBl I 1478, BGBl III 303-12) bietet die Möglichkeit, ungeeignete Personen von der Vertretung in Rechtssachen, die zur Zuständigkeit der Sozialgerichtsbarkeit gehören, auszuschließen. Aus der Zulassungsverfügung des Amtsgerichtspräsidenten Berlin vom 9. Februar 1962 (Amtsblatt für Berlin 1962, 177) ergibt sich, daß die Zulassung anderer Rechtsbeistände auf das "Gebiet des Sozialversicherungsrechts (Rentenversicherung)" beschränkt ist; demgegenüber ist K. "Rechtsbeistand mit Vollzulassung".
Das Bundessozialgericht hat in seiner bisherigen Rechtsprechung den Ausschluß eines Rechtsbeistands als beschränkt auf die mündliche Verhandlung angesehen, so in den Beschlüssen vom 27. November 1957 - 3 RJ 56/55 - und vom 30. Dezember 1959 - 3 RJ 248/59 (= SozR Nr. 5 und 10 zu § 73 SGG). An dieser Rechtsprechung ist festzuhalten.
Die Gründe, die für einen Ausschluß des Rechtsbeistandes K. auch im schriftlichen Verkehr mit den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit vorgebracht werden, überzeugen nicht. Bei "entsprechender" Anwendung einer Vorschrift auf einen anderen Sachverhalt als den unmittelbar geregelten wird von der Rechtsähnlichkeit der beiden Sachverhalte ausgegangen. Die Unterschiede im zivilprozessualen und im Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit gehen nicht so weit, daß in der Sozialgerichtsbarkeit der schriftliche Verkehr mit einem Gericht der mündlichen Verhandlung nach der ZPO rechtsähnlich wäre, wie dargelegt.
Auch aus dem Begriff "Zurückweisung" in § 73 Abs. 6 Satz 1 SGG, der in § 157 ZPO nicht gebraucht wird, kann eine entsprechende Anwendung des § 157 Abs. 1 ZPO auf das gesamte - auch schriftliche - Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit nicht entnommen werden. Dieser Begriff faßt lediglich den "Ausschluß" kraft Gesetzes nach § 157 Abs. 1 ZPO und die "Untersagung" durch das Gericht nach Abs. 2 aaO zusammen. Auch in der Literatur zum Rechtsberatungsgesetz werden Rechtsbeistände als zur Vertretung bei schriftlichen Eingaben an Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit befugt angesehen (siehe Altenhoff - Busch - Kampmann, RBerG, 3. Aufl., 1973, Randnummern 22, 28, 43, 75 Abschnitt B 2; Schorn, Die Rechtsberatung, 2. Aufl., 1967, S. 193 ff; vgl. auch BVerwG in NJW 1963, 2242, zu § 73 Abs. 6 SGG).
Aus der Zulassungsverfügung des Amtsgerichtspräsidenten Berlin vom 9. Februar 1962 läßt sich ein Ausschluß des K. von der Vertretung bei schriftlichem Verkehr mit Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit nicht entnehmen (siehe Amtsblatt für Berlin aaO). Da der Rechtsbeistand nach § 1 Abs. 2 der 1. Ausführungsverordnung zum RBerG außerhalb des Ortes, für den ihm die Erlaubnis erteilt ist, schriftlich tätig werden darf, ist auch insoweit die Einlegung der Berufungen beim LSG Hamburg nicht zu beanstanden.
Das angefochtene Urteil war somit aufzuheben. Der Senat hat nicht in der Sache entschieden, weil das LSG nach seiner Rechtsauffassung den rechtserheblichen Sachverhalt insoweit nicht vollständig festgestellt hat (§ 170 Abs. 2 SGG). Der Rechtsstreit war deshalb an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
Die Kostenentscheidung bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen