Entscheidungsstichwort (Thema)

Begriff "Unterhaltsberechtigung" iS der bürgerlich-rechtlichen Vorschriften. Familienkrankenhilfe für behinderte Kinder

 

Leitsatz (amtlich)

Für ein behindertes Kind kommt eine zeitlich unbegrenzte Gewährung von Familienhilfe nur in Betracht, wenn die Behinderung vor Vollendung des 18. Lebensjahres bzw vor Ablauf der in RVO § 205 Abs 3 S 2 und 3 vorgesehenen Verlängerungszeiträume eingetreten ist.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Die Unterhaltsberechtigung iS des RVO § 205 Abs 1 richtet sich nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechts und setzt einen konkreten Unterhaltsanspruch nach BGB §§ 1601 ff voraus; dieser Unterhaltsanspruch hat Bedürftigkeit des Berechtigten (BGB § 1602) und Leistungsfähigkeit (BGB § 1603) sowie Haftung (BGB § 1606) des Verpflichteten zur Voraussetzung.

2. Dem Anspruch des Versicherten auf Familienkrankenhilfe steht nicht entgegen, daß die Unterhaltsberechtigung erst nach Eintritt des Versicherungsfalles entstanden ist.

 

Orientierungssatz

Geltendmachung von Ersatzansprüchen durch echte Leistungsklage - Anspruchsvoraussetzung des RVO § 205 Abs 1 S 1:

1. Bei der Geltendmachung von Ersatzansprüchen der Rechtsträger des öffentlichen Rechts untereinander handelt es sich nicht um eine Verpflichtungsklage, sondern um eine echte Leistungsklage (SGG § 54 Abs 5).

2. Außer der Anspruchsvoraussetzung "Unterhaltsberechtigung" fordert RVO § 205 Abs 1 S 1 weder eine sonstige "Unterhaltsbeziehung" noch auch "enge familiäre Beziehungen" zwischen dem Versicherten und dem Unterhaltsberechtigten.

 

Normenkette

RVO § 205 Abs. 3 S. 2 Fassung: 1975-06-24, S. 3 Fassung: 1975-06-24, S. 4 Fassung: 1975-06-24; SGG § 54 Abs. 5 Fassung: 1953-09-03; RVO § 205 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1974-08-07; BGB § 1601 Fassung: 1896-08-18, § 1602 Fassung: 1896-08-18, § 1603 Fassung: 1961-08-11, § 1606 Fassung: 1969-08-19

 

Verfahrensgang

SG Regensburg (Entscheidung vom 09.03.1978; Aktenzeichen S 11 Kr 3/77)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 9. März 1978 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Der klagende Sozialhilfeträger fordert von der beklagten Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) Ersatz der Kosten, die er für die stationäre Unterbringung einer Geisteskranken sowie für deren ambulante ärztliche Behandlung und Versorgung mit Arzneimitteln aufgewandt hat.

Der am 23. April 1976 verstorbene Alois H. war bei der Beklagten gegen Krankheit versichert. Seine am 12. Dezember 1942 geborene Tochter Anita S. wurde 1975 in den USA geschieden. Ihre damals noch minderjährigen Kinder blieben dort bei ihrem geschiedenen Mann, gegen den sie keinen Unterhaltsanspruch hat. Sie kehrte am 6. Oktober 1975 in die Bundesrepublik zu ihrem Vater zurück, der damals nur seiner zweiten Ehefrau Unterhalt zu gewähren hatte und deshalb in der Lage war, ohne Gefährdung seines eigenen angemessenen Unterhalts auch seine Tochter zu unterhalten. Diese ist als Schwerbehinderte jedenfalls seit dem 7. April 1977 Mitglied der AOK R. Ob diese Mitgliedschaft schon von einem früheren Zeitpunkt an besteht, ist bisher nicht geklärt.

Vom 7. Oktober bis 8. Dezember 1975 wurde Anita S. wegen Schizophrenie mit Persönlichkeitszerfall im Nervenkrankenhaus (Bezirkskrankenhaus) R stationär behandelt. Seitdem befindet sie sich in einem Altenheim und ist infolge ihrer geistigen Behinderung außerstande, sich selbst zu unterhalten. Die Kosten ihrer stationären Unterbringung sowie der anschließenden ambulanten ärztlichen Behandlung und Arzneimittelversorgung trug der Kläger. Er forderte von der Beklagten Ersatz. Diese lehnte eine Ersatzleistung ab, weil Anita S. mangels familiärer Beziehungen zu ihrem Vater diesem gegenüber nicht unterhaltsberechtigt gewesen sei.

Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte "verpflichtet", dem Kläger im Rahmen der in Bayern von den Krankenkassen und den Sozialhilfeverwaltungen getroffenen "Vereinbarung anstelle des Halbierungserlasses" (in der ab 1. Januar 1974 geltenden Fassung = VH) die Kosten der stationären Unterbringung sowie die anschließend bis zum 22. Oktober 1976 entstandenen Kosten der ambulanten ärztlichen Behandlung und Versorgung mit Arzneimitteln "zu erstatten". Zur Begründung hat es ausgeführt: Sofern ein Anspruch auf Familienhilfe bestanden habe, regele die VH den hinsichtlich der stationären Unterbringungskosten in Betracht kommenden Ersatzanspruch. Deshalb sei nicht zu klären gewesen, ob Anita S. in dem Krankenhaus zur Behandlung oder zur Pflege untergebracht gewesen sei. Ein Familienhilfeanspruch ihres Vaters für sie habe bestanden. Sie sei diesem gegenüber unterhaltsberechtigt gewesen; denn sie habe weder von ihrem geschiedenen Mann noch von ihren minderjährigen Kindern Unterhalt fordern können. Der Familienhilfeanspruch umfasse die Zeit vom 7. Oktober 1975 bis 22. Oktober 1976. Er sei nicht davon abhängig, daß zwischen Vater und Tochter über die familienrechtliche Beziehung hinaus auch noch enge familiäre Beziehungen bestanden haben. Ebensowenig sei entscheidend, ob Anita S. schon vor Vollendung ihres 27. Lebensjahres behindert gewesen sei.

Mit der - zugelassenen - Revision rügt die Beklagte Verletzung des § 205 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Bei Bestehen eines Familienhilfeanspruchs regele zwar hinsichtlich der stationären Unterbringungskosten die VH den Ersatzanspruch. Ein Familienhilfeanspruch habe jedoch nicht bestanden. Dieser setze voraus, daß schon vor Eintritt des Versicherungsfalles, also hier schon vor dem 7. Oktober 1975 eine Unterhaltsbeziehung zwischen Vater und Tochter bestanden habe derart, wie sie in der Entscheidung des Senats vom 30. April 1968 - 3 RK 64/65 - gefordert werde. Das sei nicht der Fall gewesen; denn es sei hier erst durch den Versicherungsfall zu Unterhaltsleistungen des Vaters gekommen. Mangels irgendwelcher früheren Unterhaltsleistungen könne nicht davon die Rede sein, daß Anita S. als Kind iS des § 205 RVO anzusehen sei. Außerdem sei aus dem Wortlaut des § 205 Abs 3 Satz 2 bis 5 RVO mit seiner unterschiedlichen Altersregelung zu schließen, daß ein Familienhilfeanspruch jenseits einer bestimmten Altersgrenze nur gegeben sei, wenn er schon vor Erreichen dieser Grenze bestanden habe. Bei Anita S. müßte deshalb die Geisteskrankheit schon vor Vollendung des 18. bzw des 27. Lebensjahres bestanden haben. Feststellungen darüber seien vom SG nicht getroffen worden.

Die Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das SG zurückzuverweisen ist. Die bisherigen tatsächlichen Feststellungen reichen für eine abschließende Sachentscheidung nicht aus.

Hinsichtlich der stationären Unterbringungskosten gewähren in Bayern die Krankenkassen nach der VH "den Anspruchsberechtigten und ihren Angehörigen (§ 205 RVO), die wegen eines regelwidrigen Geisteszustandes der stationären Unterbringung bedürfen", Krankenhauspflege in bestimmten Krankenhäusern, zu denen auch das Nervenkrankenhaus (Bezirkskrankenhaus) R gehört, und zwar ohne Rücksicht auf den Einweisungsgrund. Es kommt also nicht darauf an, ob die stationäre Unterbringung "aus medizinischen Gründen (Behandlungsfall) oder aus sonstigen Gründen (Pflegefall)" erforderlich ist (§ 1 Abs 1 iVm der dazu gehörigen Anlage 1, § 2 Abs 1 Satz 1 VH). Die Bezirke (Sozialhilfeverwaltungen) ersetzen als überörtliche Träger der Sozialhilfe den Krankenkassen 12,5 vH der Krankenhauspflegekosten (§ 1 Abs 2 Buchst a VH). Falls einer der Vertragspartner irrtümlich oder zu Unrecht eingetreten ist, leistet der andere Ersatz in dem Umfang, wie er bei rechtmäßigem Eintreten belastet geblieben wäre (§ 5 VH). Da Anita S. wegen Schizophrenie mit Persönlichkeitszerfall, also wegen eines regelwidrigen Geisteszustandes, der stationären Unterbringung bedurfte, hängt mithin der die Kosten dieser Unterbringung betreffende Ersatzanspruch des Klägers davon ab, ob ihr Vater als bei der Beklagten wegen Krankheit Versicherter für sie Familienhilfe (§ 205 RVO) beanspruchen konnte.

Die Beantwortung dieser Frage ist zugleich auch entscheidend dafür, ob dem Kläger hinsichtlich seiner die ambulante ärztliche Behandlung und die Versorgung mit Arzneimitteln betreffenden Aufwendungen ein Ersatzanspruch zusteht; denn insoweit ist Rechtsgrundlage des Ersatzanspruchs § 1531 RVO. Nach dieser Vorschrift kann ein Träger der Sozialhilfe, der nach gesetzlicher Pflicht einen Hilfsbedürftigen für eine Zeit unterstützt, für die dieser selbst oder für ihn einer seiner Angehörigen einen Anspruch aufgrund der RVO hatte oder noch hat, bis zur Höhe dieses versicherungsrechtlichen Anspruchs nach den §§ 1532 bis 1537 RVO Ersatz verlangen; die gewährten Unterstützungen sind dabei nach § 1533 Nr 3 Satz 1 RVO aus den ihnen entsprechenden Leistungen der Krankenkasse zu ersetzen. Der Kläger hat als Sozialhilfeträger Anita S. im Rahmen der Hilfe in besonderen Lebenslagen (§§ 27, 37 des Bundessozialhilfegesetzes - BSHG -), also nach gesetzlicher Pflicht, durch die Gewährung der ambulanten ärztlichen Behandlung und die Versorgung mit Arzneimitteln unterstützt. Er kann hinsichtlich seiner dafür gemachten Aufwendungen mithin Ersatz von der Beklagten fordern, falls diese die ambulante ärztliche Behandlung und die Versorgung mit Arzneimitteln im Rahmen der Familienhilfe zu gewähren verpflichtet war.

Ob die Beklagte Familienhilfe zu gewähren hatte, ergibt sich aus § 205 RVO. Nach Absatz 1 Satz 1 dieser Vorschrift in ihrer damals geltenden Fassung erhielten Versicherte Familienhilfe für die unterhaltsberechtigten Kinder, die sich gewöhnlich im Inland aufhielten und nicht anderweit einen gesetzlichen Anspruch auf Krankenpflege hatten (vgl Art 2 Nr 11 des Lohnfortzahlungs- und KV-Änderungsgesetzes vom 27. Juli 1969, BGBl I 946, und Art 1 Nr 13 des Gesetzes zur Weiterentwicklung des Rechts der gesetzlichen Krankenversicherung vom 21. Dezember 1970, BGBl I 1770). Von diesen drei Voraussetzungen war bei Anita S. die den Aufenthalt im Inland betreffende erfüllt; denn nach den mit der Revision nicht angegriffenen und deshalb für den Senat als Revisionsgericht bindenden (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) Feststellungen des SG hielt sich Anita S. seinerzeit gewöhnlich im Inland auf. Entgegen der Auffassung der Beklagten war sie ihrem Vater gegenüber aber auch unterhaltsberechtigt.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats (vgl ua BSGE 6, 197, 203; 10, 28, 30; 11, 30, 33; 12, 38, 40 sowie Urt vom 10. Juli 1979 - 3 RK 1/79 -) ist die Frage, ob ein Kind iS des § 205 RVO unterhaltsberechtigt ist, grundsätzlich nach bürgerlichem Recht zu beantworten. Dabei genügt nicht die Feststellung einer abstrakten Unterhaltsberechtigung. Es muß vielmehr ein konkreter Unterhaltsanspruch nach §§ 1601 f des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) gegeben sein (vgl BSGE 11, 30, 34; BSGE SozR Nr 9 zu § 205 RVO), der Bedürftigkeit des Berechtigten (§ 1602 BGB) und Leistungsfähigkeit (§ 1603 BGB) sowie Haftung des Verpflichteten (§ 1606 BGB) voraussetzt. Das war hier der Fall. Nach den auch insoweit mit der Revision nicht angegriffenen Feststellungen des SG war Anita S. infolge ihrer geistigen Behinderung außerstande, sich selbst zu unterhalten. Sie hatte keinen Unterhaltsanspruch gegenüber ihrem geschiedenen Mann und konnte auch von ihren noch minderjährigen Kindern keinen Unterhalt verlangen; ihr Vater andererseits war bei Berücksichtigung seiner sonstigen Verpflichtungen in der Lage, ohne Gefährdung seines eigenen angemessenen Unterhalts seine Tochter zu unterhalten. Inwieweit er das tatsächlich getan hat, ist nicht entscheidend; es ist insoweit unerheblich, ob der Unterhalt anspruchsgemäß geleistet worden ist. Der Anspruchsvoraussetzung des § 205 Abs 1 Satz 1 RVO ist genügt, wenn die Unterhaltsberechtigung besteht (vgl BSGE 10, 28, 30; 11, 30, 34). Auch ist entgegen der Auffassung der Beklagten nicht erforderlich, daß die Unterhaltsberechtigung bereits vor Eintritt des Versicherungsfalls gegeben war; dem Anspruch des Versicherten auf Familienhilfe steht nicht entgegen, daß die Unterhaltsberechtigung erst nach Eintritt des Versicherungsfalls entstanden ist. Auch das hat der Senat bereits entschieden. Er hat dazu darauf hingewiesen, daß diese Auffassung schon vom Reichsversicherungsamt (RVA; siehe GE Nr 4769, AN 1934, 189) vertreten worden ist, und hat ausgeführt, es müsse hier zwischen dem Versicherungsfall der Krankheit und dem "Leistungsfall" der Familienhilfe unterschieden werden, ähnlich wie bei dem Anspruch auf Krankengeld, der außer dem Versicherungsfall - Krankheit - als weitere Voraussetzung der Anspruchsberechtigung noch das Vorliegen von Arbeitsunfähigkeit erfordere (vgl BSGE 20, 129, 131 = SozR Nr 16 zu § 205 RVO).

Außer der Anspruchsvoraussetzung "Unterhaltsberechtigung" fordert § 205 Abs 1 Satz 1 RVO weder eine sonstige "Unterhaltsbeziehung" noch auch "enge familiäre Beziehungen" zwischen dem Versicherten und dem Unterhaltsberechtigten.

Die Beklagte beruft sich für ihre gegenteilige Auffassung zu Unrecht auf das Urteil des Senats vom 30. April 1968 - 3 RK 64/65 - (SozR Nr 2 zu § 205b RVO). In dieser das Familiensterbegeld betreffenden Entscheidung ist ausgeführt: Der Zweck der Familienhilfe, den Versicherten von dem Risiko der Erkrankung eines Familienangehörigen, das ihn wegen seiner Unterhaltspflicht sonst persönlich treffe, aufgrund seiner eigenen Versicherung zu entlasten, setze voraus, daß der Versicherte "in einer Unterhaltsbeziehung zu dem Kind" gestanden habe. Derselbe Grundsatz müsse auch für das Familiensterbegeld gelten. Es könne für die Entscheidung offenbleiben, ob das verstorbene Kind unterhaltsberechtigt sein müsse oder ob auch schon eine tatsächlich überwiegende Unterhaltsgewährung ausreiche, um den Anspruch auf Familiensterbegeld zu begründen; denn beide Voraussetzungen seien im vorliegenden Fall nicht gegeben, weshalb die Krankenkasse kein Sterbegeld zu zahlen habe. Diese Ausführungen zeigen, daß hier hinsichtlich des die Gewährung von Familiensterbegeld betreffenden § 205b RVO, der im Gegensatz zu § 205 RVO nicht von "unterhaltsberechtigten Kindern", sondern von einem "lebend geborenen Kind" spricht, der Begriff "Unterhaltsbeziehung" lediglich als Oberbegriff zur Unterhaltsberechtigung einerseits und zur tatsächlichen Unterhaltsgewährung andererseits gebraucht ist. Nicht dagegen läßt sich mit der Beklagten daraus entnehmen, daß eine weitere - wie auch immer geartete - "Unterhaltsbeziehung" oder "enge familiäre Beziehung" gemeint ist und als Anspruchsvoraussetzung zusätzlich gefordert wird.

Ob Anita S. aber seinerzeit keinen anderweiten gesetzlichen Anspruch auf Krankenpflege hatte, die letzte der genannten drei Voraussetzungen des § 205 Abs 1 Satz 1 RVO in seiner damals geltenden Fassung also erfüllt war, kann der Senat nicht entscheiden. Ein solcher anderweiter gesetzlicher Anspruch auf Krankenpflege wäre gegeben gewesen, falls ihre Mitgliedschaft als Schwerbehinderte (§ 176c RVO) bei der AOK R damals schon bestand. Feststellungen hierüber fehlen bisher. Der Senat als Revisionsgericht kann sie nicht nachholen. Das SG wird deshalb den Sachverhalt insoweit noch aufklären müssen.

Dasselbe gilt hinsichtlich der Frage, sei wann Anita S. geisteskrank ist. Feststellungen hierüber fehlen bisher ebenfalls. Entgegen der Auffassung des SG sind sie aber erforderlich, denn eine zeitlich unbegrenzte Gewährung von Familienhilfe kommt für behinderte Kinder nur in Betracht, wenn die Behinderung schon vor Vollendung eines bestimmten Lebensjahres des Kindes eingetreten ist (vgl Krauskopf/Schroeder-Printzen, SozKV 2. Aufl Stand Aug 1978 S. 189 Anm 3 zu § 205 RVO). § 205 Abs 3 Satz 4 RVO schreibt zwar nur vor, daß für Kinder, die wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande sind, sich selbst zu unterhalten, hinsichtlich der Gewährung von Familienhilfe keine Altersgrenze besteht. Eine entsprechende Regelung wurde bereits durch das Gesetz über die Sozialversicherung Behinderter vom 7. Mai 1975 (BGBl I 1061, 1063) geschaffen, das in Art 2 § 1 Nr 4 dem 2. Satz des 3. Absatzes von § 205 RVO eine neue Fassung gab. Seine jetzige Fassung erhielt Satz 4 dieses Absatzes dann zusammen mit weiteren Änderungen dieser Vorschrift durch § 1 Nr 11 des Gesetzes über die Krankenversicherung der Studenten (KVSG) vom 24. Juni 1975 (BGBl I 1536) mit Wirkung vom 1. Oktober 1975. Aufgrund dieser Änderungen wird - im Gegensatz zum früheren Rechtszustand (vgl VO vom 26. Juli 1930 4. Abschn 2. Titel Art 1 Nr 19 § 205 Abs 3 Satz 2, RGBl I 311, 319; Gesetz über die Sozialversicherung Behinderter aaO) - nunmehr für Kinder Familienhilfe grundsätzlich nur "bis" zur Vollendung des 18. Lebensjahres und lediglich in bestimmten Ausnahmefällen "längstens bis" zur Vollendung des 25. Lebensjahres bzw "über" dieses Lebensjahr "hinaus" gewährt. Diese Formulierungen zeigen, daß mit der gesetzlichen Festlegung von Altersgrenzen Endzeitpunkte bestimmt worden sind, "über" die "hinaus" die Gewährung von Familienhilfe für Kinder nur noch ausnahmsweise in Betracht kommt. Die in § 205 Abs 3 Satz 4 RVO enthaltene Aussage, für behinderte Kinder bestehe keine derartige "Altersgrenze", bedeutet mithin lediglich, daß die für die Gewährung von Familienhilfe bei Kindern an sich als Endzeitpunkte genannten "Altersgrenzen" bei behinderten Kindern entfallen. Außerdem zeigen die Altersgrenzen von 18 bzw 25 Jahren, daß hier unter einem "Kind" - ungeachtet der lebenslangen Eltern-Kind-Beziehung und der bürgerlich-rechtlichen Unterhaltsverpflichtungen - nur diejenige Person verstanden werden soll, die ihren Lebensmittelpunkt in bezug auf Erziehung und Ausbildung in der Familie ihrer Eltern oder Erziehungsberechtigten hat, oder die, wenn sie bereits verheiratet ist, ihre Ausbildung noch nicht beendet hat, so daß ihre Eltern weiterhin mit Unterhaltszahlungen für sie belastet bleiben (vgl BSGE 44, 106, 112 = SozR 5870 § 2 BKGG Nr 5; im Anschluß daran Krauskopf/Schroeder-Printzen aaO; BSG USK 77151).

Als Zeitpunkt, bis zu dem die Behinderung eingetreten sein muß, kommt mithin die Vollendung des 18. Lebensjahres bzw der Ablauf der in § 205 Abs 3 Sätze 2 und 3 RVO vorgesehenen Verlängerungszeiträume in Betracht. Den bisherigen tatsächlichen Feststellungen des SG ist jedoch nicht zu entnehmen, ob die bei Anita S. bestehende geistige Behinderung schon vor Vollendung ihres 18. Lebensjahres bzw etwaiger Verlängerungszeiträume eingetreten ist.

Schließlich erweckt das angefochtene Urteil mit der Formulierung seines Tenors ("Die Beklagte wird verpflichtet, ..." statt "Die Beklagte wird verurteilt, ...") den Eindruck, als habe das Gericht über eine Verpflichtungsklage entscheiden wollen. Das SG wird deshalb bei seiner neuen Entscheidung zu berücksichtigen haben, daß es sich bei der Geltendmachung von Ersatzansprüchen der Rechtsträger des öffentlichen Rechts untereinander nicht um eine Verpflichtungsklage, sondern um eine echte Leistungsklage (§ 54 Abs 5 SGG) handelt (vgl Peters/Sautter/Wolff, Komm zur SGb, 4. Aufl, 27. Nachtr, § 54 Anm 5 Buchst a und b, Anm 6 Buchst a und c, S 185/13-4 ff).

Da der Kläger - wie sich aus dem Tatbestand des angefochtenen Urteils in Übereinstimmung mit der Sitzungsniederschrift ergibt - beantragt hat, die Beklagte "zu verpflichten", ihm ... die Kosten ... zu "erstatten", sei noch auf § 106 Abs 1 und § 131 Abs 2 und 3 SGG hingewiesen.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil des SG vorbehalten.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1657105

BSGE, 159

Breith. 1980, 931

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