Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundrecht auf faires Verfahren. rechtliches Gehör. richterliche Frist. Verlängerungsantrag. Berufung, unzulässige, Verwerfung der. mündliche Verhandlung. Prozeßvollmacht, schriftliche, Erteilung der, Einreichung der
Leitsatz (amtlich)
Zur Wahrung des rechtlichen Gehörs und des Prozeßgrundrechts auf faires Verfahren bei der Aufforderung des Gerichts, binnen einer gesetzten Frist eine Prozeßvollmacht vorzulegen.
Normenkette
GG Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 3, Art. 103 Abs. 1; SGG §§ 62, 73, 158
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird der Beschluß des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 2. Mai 1995 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Der Kläger begehrt gemäß § 44 Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – (SGB X) die Rücknahme eines Bescheides vom 25. Juni 1985, mit dem ihm die Beklagte die Vermittlung von Musikkapellen in Engagementverträgen untersagt und für den Fall der Zuwiderhandlung ein Zwangsgeld von 1.000,-- DM angedroht hatte.
Gegen diesen Bescheid hatte sich der Kläger zunächst erfolglos in einem früheren Verfahren gewandt, wobei Ziel der Klage die Feststellung der Nichtigkeit des Bescheides war (Urteil des Sozialgerichts ≪SG≫ vom 19. Juni 1986 – S 11 Ar 116/86; Urteil des Landessozialgerichts ≪LSG≫ vom 30. August 1989 – L 5 Ar 2267/86; Beschluß des Bundessozialgerichts ≪BSG≫ vom 8. November 1990 – 11 BAr 111/89). Die ablehnenden Entscheidungen der Instanzgerichte waren damit begründet, daß der Kläger den Bescheid nicht mit einem Widerspruch angegriffen habe und die Voraussetzungen für eine Nichtigkeit dieses Bescheides nicht vorlägen.
Im August 1988 beantragte der Prozeßbevollmächtigte des Klägers – unter Überreichung einer Durchschrift des Antrags an das LSG im Verfahren L 5 Ar 2267/86 – die Zurücknahme des Bescheides vom 25. Juni 1985; die Beklagte lehnte dies ab (Bescheid vom 31. Mai 1991; Widerspruchsbescheid vom 19. Juni 1992). Die anschließende Klage beim SG blieb erfolglos, weil nach Ansicht des SG die Voraussetzungen des § 44 SGB X für eine Rücknahme nicht vorlagen (Urteil vom 30. November 1994).
Gegen das Urteil hat der Prozeßbevollmächtigte des Klägers am 3. Januar 1995 Berufung eingelegt. Mit Schreiben vom 6. März 1995 teilte ihm das LSG mit, daß eine schriftliche Vollmacht nicht vorliege und der Senat ab 20. März 1995 durch Beschluß (§ 158 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) entscheiden werde, wenn bis dahin keine Vollmacht vorgelegt werde. In der Folgezeit bat der Prozeßbevollmächtigte des Klägers mehrfach – jeweils unter Angabe von Gründen – um Verlängerung der Frist. Ohne weitere Mitteilung verwarf das LSG die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG als unzulässig, bevor der Prozeßbevollmächtigte des Klägers im Juni 1995 eine vom Kläger unterschriebene Vollmacht – datiert auf “April 1995” – vorlegte.
Mit der Revision rügt der Kläger ua einen Verstoß gegen Art 19 Abs 4 und 103 Abs 1 Grundgesetz (GG) sowie gegen §§ 62, 73 Abs 2 Satz 1 SGG, § 44 SGB X und §§ 4, 13 Arbeitsförderungsgesetz (AFG). Abgesehen davon, daß der Beschluß des LSG vom 2. Mai 1995 bereits am 27. April 1995 ausgefertigt worden und deshalb unwirksam sei, habe das LSG ihm verfahrensfehlerhaft die Möglichkeit genommen, eine Prozeßvollmacht vorzulegen. Das LSG hätte seinen sachlich begründeten Anträgen auf Fristverlängerung zumindest durch Anberaumung eines Termins zur mündlichen Verhandlung Rechnung tragen müssen. Das Vorgehen des LSG verletze damit ua seinen Anspruch auf rechtliches Gehör; der Beschluß beruhe auch auf der gerügten Verfahrensverletzung, weil das LSG bei korrektem Verhalten erst zu einem späteren Zeitpunkt aufgrund mündlicher Verhandlung hätte entscheiden dürfen. Zu diesem Zeitpunkt hätte eine schriftliche Vollmacht vorgelegt werden können, so daß eine Entscheidung zur Sache mit einem günstigen Ausgang möglich gewesen wäre.
Der Kläger beantragt,
den Beschluß des LSG und das Urteil des SG aufzuheben sowie die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 31. Mai 1991 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Juni 1992 zu verurteilen, den Bescheid vom 25. Juni 1985 zurückzunehmen,
hilfsweise,
den Beschluß des LSG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Sie ist der Ansicht, selbst bei einer Zurückverweisung der Sache an das LSG könne die Klage keinen Erfolg haben. Der Rechtsstreit betreffe ohnedies einen inzwischen überholten Rechtszustand.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers ist zulässig. Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und auch begründet worden (§§ 164 Abs 1 und 2, 166, 73 SGG). Insbesondere liegt eine auf den Prozeßbevollmächtigten des Klägers ausgestellte Prozeßvollmacht vor, die dem LSG in Kopie am 6. Juni 1995 und im Original am 9. Juni 1995 übermittelt worden ist. Daß diese Vollmacht das Aktenzeichen L 3 Ar 11/92 statt L 3 Ar 11/95 trägt, ist ohne Bedeutung; insoweit handelt es sich um ein offensichtliches Versehen.
Die Revision ist indes nur iS der Aufhebung des zweitinstanzlichen Beschlusses und der Zurückverweisung an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Der Beschluß beruht auf einem vom Kläger ordnungsgemäß gerügten (§ 202 SGG iVm § 559 Abs 2 Satz 2 Zivilprozeßordnung ≪ZPO≫) Verfahrensmangel (§ 162 SGG). Ob die rechtzeitig eingelegte Berufung allerdings zulässig und begründet ist, bedarf noch der Prüfung durch das LSG.
Zu Recht rügt der Kläger, daß das LSG seinen Anspruch auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) verletzt habe. Dahinstehen kann insoweit, ob der Beschluß des LSG nicht bereits deshalb gegen § 73 Abs 2 SGG und § 202 SGG iVm § 81 ZPO verstößt, weil dem LSG eine im früheren Gerichtsverfahren ausgestellte Prozeßvollmacht vorlag, deren Wirkung sich uU nicht nur auf die Vertretung im Verfahren betreffend die Nichtigkeit des Bescheides vom 25. Juni 1985 beschränkte, sondern auch das vorliegende, eng mit dem früheren Verfahren verknüpfte Zugunstenverfahren des § 44 SGB X erfaßte. Offenbleiben kann dabei auch, ob diese Vollmacht im jetzigen Verfahren zu den Akten gereicht wurde – § 73 Abs 2 Satz 1 SGG – (zweifelnd für den Fall der in den Verwaltungsakten befindlichen Prozeßvollmacht: BSG SozR 3-1500 § 73 Nr 2). Es bedarf schließlich auch keiner näheren Prüfung, ob die dem LSG im Juni 1995 vorgelegte schriftliche Prozeßvollmacht dem Prozeßbevollmächtigten des Klägers bereits vor Erlaß der Entscheidung erteilt worden ist, so daß uU bereits deshalb die Entscheidung des Berufungsgerichts aufzuheben und die Sache zurückzuverweisen wäre (vgl Gemeinsamer Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes ≪GmSOGB≫, SozR 1500 § 73 Nr 4 mwN).
Würde man in all diesen Punkten zu Lasten des Klägers entscheiden, beruhte der Beschluß des LSG gleichwohl auf einem Verfahrensmangel, und zwar auf einem Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens (Art 19 Abs 4 GG) und damit auch auf einer Verletzung des rechtlichen Gehörs (vgl hierzu BSG SozR 3-1750 § 227 Nr 1 mwN). Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) ist es unzulässig, durch übermäßig strenge Handhabung verfahrensrechtlicher Schranken den Anspruch auf gerichtliche Durchsetzung des materiellen Rechts unzumutbar zu verkürzen (vgl zum Zivilprozeß: BVerfGE 84, 366, 369 f; Jarass/Pieroth, GG, 3. Aufl 1995, RdNr 66 zu Art 20 mwN); formale Strenge darf im Prozeß nicht ohne erkennbar schutzwürdigen Zweck praktiziert werden (BSG SozR 3-750 § 227 Nr 1). Der Anspruch auf effektiven Rechtsschutz nach Art 19 Abs 4 GG (vgl zum Verhältnis dieser Norm zum Rechtsstaatsprinzip des Art 20 Abs 3 GG: BVerfGE 83, 182, 194) wird deshalb verletzt, wenn die Gestaltung des Verfahrens nicht in angemessenem Verhältnis zu dem auf Sachverhaltsklärung und Verwirklichung des materiellen Rechts gerichteten Verfahrensziel steht (BVerfGE 88, 118, 124, 126 ff) und insbesondere eine Rücksichtnahme auf Verfahrensbeteiligte in der konkreten Situation vermissen läßt (BVerfGE 78, 123, 126). Hiergegen hat das LSG dadurch verstoßen, daß es die Berufung alsbald nach Ablauf der gesetzten Frist und ohne mündliche Verhandlung als unzulässig verworfen hat, ohne auf Anträge des Prozeßbevollmächtigten des Klägers zu reagieren, die Frist zur Vorlage einer neuen Prozeßvollmacht zu verlängern. Dem Kläger wurde damit verfahrensfehlerhaft die Möglichkeit genommen, rechtzeitig eine Prozeßvollmacht vorzulegen.
Selbst wenn die im früheren Prozeß überreichte Prozeßvollmacht nicht das Überprüfungsverfahren nach § 44 SGB X und das vorliegende Gerichtsverfahren erfaßt haben sollte, hätte das LSG jedenfalls beachten müssen, daß ein derartiger rechtlicher Schluß zumindest denkbar, wenn nicht sogar naheliegend ist und offensichtlich sowohl die Verfahrensbeteiligten als auch das erstinstanzliche Gericht von einer wirksamen Prozeßvollmacht ausgegangen sind. In dieser Situation hätte das LSG entweder eine mündliche Verhandlung anberaumen oder auf Anträge, die Frist zur Vorlage einer erneuten Vollmacht zu verlängern, reagieren müssen. Eine zeitliche Notwendigkeit zu kurzfristiger Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Verwerfung der Berufung bestand nicht. Das Vorgehen des LSG vermittelt vielmehr unter Berücksichtigung aller Umstände den Eindruck, daß das Verfahren möglichst rasch erledigt werden sollte. Dies zeigt sich bereits darin, daß der Bevollmächtigte des Klägers erstmals mit Schreiben vom 6. März 1995 auf das Fehlen einer Vollmacht hingewiesen und gleichzeitig bereits eine Entscheidung für die Zeit ab 20. März 1995, also vor Ablauf von zwei Wochen, iS einer Verwerfung der Berufung als unzulässig für den Fall angekündigt worden ist, daß eine Vollmacht nicht bis zu diesem Zeitpunkt vorgelegt werde.
Auch das nachfolgende Verhalten des Gerichts läßt erkennen, daß auf die klägerischen Interessen keine Rücksicht genommen wurde. In mehreren Schreiben hat der Prozeßbevollmächtigte des Klägers um kurzfristige Verlängerung der ihm gesetzten richterlichen Frist gebeten, weil er Schwierigkeiten habe, den Kläger im Ausland zu erreichen, bzw dieser versehentlich eine ihm übersandte Prozeßvollmacht nicht unterschrieben oder ihn ein Schreiben des Klägers nicht erreicht habe. Die Akte des LSG weist lediglich den Vermerk auf, daß der Bevollmächtigte des Klägers am 20. März 1995 angerufen und eine Vorlage der Prozeßvollmacht bis zum 31. März 1995 zugesagt habe. Schreiben des Prozeßbevollmächtigten vom 31. März 1995, 6. April 1995, 18. April 1995, 21. April 1995 und vom 2. Mai 1995 mit Anträgen auf Verlängerung der Frist (§ 65 SGG) wurden weder gesondert beschieden noch im Beschluß vom 2. Mai 1995 berücksichtigt, obwohl nach dem gesamten Verlauf des Vorverfahrens und des Gerichtsverfahrens anzunehmen war, daß der Kläger seinem Bevollmächtigten in jedem Falle eine weitere Prozeßvollmacht unterschreiben werde. Zudem war eine erhebliche Zeit seit Einlegung der Berufung noch nicht verstrichen, wohingegen das gesamte Verfahren seit Antragstellung bereits fast sieben Jahre lief. Das LSG hätte unter diesen Umständen nicht – wie angekündigt – ohne weitere Entscheidung über die Anträge auf Fristverlängerung und ohne mündliche Verhandlung, in der eine (weitere) Prozeßvollmacht noch hätte vorgelegt werden können, die Berufung als unzulässig verwerfen dürfen (vgl Meyer-Ladewig, SGG, 5. Aufl 1993, RdNr 2 zu § 158). Nachvollziehbare Gründe für das Vorgehen des LSG sind weder in der angefochtenen Entscheidung mitgeteilt noch sonst ersichtlich. Hat somit das LSG dem Kläger rechtliches Gehör versagt, indem es wegen Verstoßes gegen die Pflicht, ein faires Verfahren zu gewährleisten, zur Sache gar nicht entschieden hat, so beruht seine Entscheidung zwangsläufig auf diesem Verstoß. Es kann nämlich nicht die Möglichkeit ausgeschlossen werden, daß die Entscheidung ohne die Rechtsverletzung anders ausgefallen wäre.
Bei der erneuten Entscheidung muß das LSG nunmehr die im Juni überreichte Prozeßvollmacht beachten; dem stehen weder die Entscheidungen des GmSOGB vom 17. April 1984 (SozR 1500 § 73 Nr 4 SGG) noch des Bundesarbeitsgerichts vom 17. September 1986 (5 AZB 18/86, unveröffentlicht) und des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwGE 71, 20 ff) entgegen. Sie enthalten keine Aussage darüber, ob bei Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz wegen eines anderen Verfahrensfehlers auch eine nach der aufgehobenen Entscheidung erteilte Prozeßvollmacht zu berücksichtigen ist. Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.
Fundstellen
NJW 1997, 1326 |
SozSi 1997, 274 |