Entscheidungsstichwort (Thema)
Neufeststellung bei irriger Anerkennung eines Berufsbetroffenseins
Leitsatz (redaktionell)
Wenn ein Beschädigter in dem Zeitpunkt, in dem durch einen rechtsverbindlich gewordenen Bescheid seine schädigungsbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit nach BVG § 30 Abs 2 höher als nach BVG § 30 Abs 1 festgestellt worden ist, nach der objektiven tatsächlichen Lage gar nicht iS des BVG § 30 Abs 2 besonders beruflich betroffen gewesen wäre, könne die "maßgebenden" tatsächlichen Verhältnisse, die eine solche Bewertung nicht rechtfertigen, nicht nachträglich entfallen mit der Rechtsfolge einer Neufeststellung nach BVG § 62 Abs 1 S 1. Auch die Rechtsfrage, ob ein Beschädigter deshalb nicht mehr durch die Schädigungsfolgen besonders beruflich betroffen ist, weil er in seinem Beruf inzwischen infolge eines schädigungsunabhängigen Leidens in gleicher Weise geschädigt wäre, könnte sich überhaupt nur dann stellen, wenn zuvor die Schädigungsfolgen sich tatsächlich gemäß BVG § 30 Abs 2 besonders ausgewirkt hätten.
Normenkette
BVG § 30 Abs. 2, § 62 Abs. 1 S. 1
Tenor
Die Sprungrevision des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Lüneburg vom 28. Februar 1973 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Die Klägerin führt als eine der Erben und Rechtsnachfolger ihres 1923 geborenen und am 27. August 1972 verstorbenen Ehemannes Gustav St (St) den Rechtsstreit fort.
St. war vor seinem Wehrdienst als Hilfsarbeiter (Transport) oder Textilexpedient oder Lagerarbeiter tätig, nach dem Krieg als Arbeiter in verschiedenen Beschäftigungen, zuletzt bis 1969 als Hilfsarbeiter in einer Dreherei. Bei ihm waren neben anderen Verwundungsfolgen eine Teilversteifung und Verkrüppelung des rechten Fußes mit der Versehrtenstufe II und später mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 50 v. H. anerkannt (Bescheide vom 11. Juli 1945, 5. November 1947 und 27. Juli 1951). Nach einem versorgungsärztlichen Gutachten vom 3. August 1967 wirkten sich die Schädigungsfolgen am rechten Fuß, die im wesentlichen die MdE bedingten, besonders nachteilig bei Tätigkeiten mit dauernd schwerkörperlicher Arbeit und ständigem Gehen oder Stehen oder großen Anforderungen an Kraft, Ausdauer, Geschicklichkeit und Standhaftigkeit der Beine aus, während leichte bis mittelschwere Arbeiten mit Unterbrechungen oder im Wechsel mit sitzender Arbeitsweise zumutbar seien. Die Hauptfürsorgestelle erklärte im November 1967 eine Umschulung für nicht zumutbar, weil eine anderweitige Unterbringung sehr schwierig wäre und St. als Lagerarbeiter einen geringeren Lohn als in seiner jetzigen Tätigkeit in der Dreherei erzielen würde. Das Versorgungsamt erteilte am 17. Januar 1968 einen Neufeststellungsbescheid mit geänderter Leidensbezeichnung und zugleich - mit Zustimmung des Landesversorgungsamtes - einen Zugunstenbescheid nach § 40 Abs. 1 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (VerwVG) über eine Höherbewertung der MdE um 10 v. H. nach § 30 Abs. 2 Bundesversorgungsgesetz (BVG) ab 1. April 1967, weil St. in seinem weiterhin wie vor der Schädigung ausgeübten Beruf als ungelernter Arbeiter durch die Art der Schädigungsfolgen in einem wesentlich höheren Grad als im allgemeinen Erwerbsleben erwerbsgemindert sei. Ab Februar 1968 war St. infolge eines chronischen Leberleidens arbeitsunfähig; auf Grund dieser Krankheit bezog er ab Mai 1969 Erwerbsunfähigkeits-Rente aus der Arbeiterrentenversicherung.
Mit Bescheid vom 13. Mai 1970 stellte das Versorgungsamt die MdE unter Beachtung der Zwei-Jahres-Frist des § 62 Abs. 2 Satz 1 BVG 1. Februar 1970 wieder auf 50 v. H. fest und begründete dies damit, daß die Voraussetzungen des § 30 Abs. 2 Buchst. b BVG durch das Ausscheiden aus dem Erwerbsleben entfallen seien. Der dagegen eingelegte Widerspruch wurde mit der Begründung zurückgewiesen, die MdE sei nach § 30 Abs. 2 BVG höher bewertet worden, weil der Beschädigte besondere Energie habe aufwenden müssen, um finanzielle und soziale Nachteile in seinem Beruf abzuwenden, ohne daß er durch die Schädigungsfolgen einen geringeren Verdienst mit Auswirkungen auf die Altersversorgung gehabt habe; dies habe sich im Sinn des § 62 Abs. 1 BVG wesentlich geändert, denn er sei überwiegend wegen Gesundheitsstörungen, die keine Schädigungsfolgen seien, erwerbsunfähig geworden (Bescheid vom 10. September 1970).
Das Sozialgericht (SG) Lüneburg hob die angefochtenen Bescheide auf und verurteilte den Beklagten, an die Erben zur gesamten Hand Beschädigtenrente nach einer MdE um 60 v. H. für die Zeit vom 1. Februar 1970 bis 31. August 1972 zu zahlen: Wie das BSG im Urteil vom 28. Juli 1972 - 8 RV 65/72 - entschieden habe, sei keine Änderung gemäß § 62 Abs. 1 BVG eingetreten, wenn - wie im vorliegenden Fall - die MdE nach § 30 Abs. 2 Buchst. b BVG höher bewertet worden sei, weil der Beschädigte seinen Beruf nur mit außergewöhnlicher Energie ausgeübt habe, und wenn er diese Tätigkeit wegen schädigungsunabhängiger Gesundheitsstörungen aufgebe. Mit der Entscheidung nach § 30 Abs. 2 Buchst. b BVG sei zugleich nach Buchst. a festgelegt gewesen, daß der Verstorbene seinen Beruf als ungelernter Arbeiter nicht habe ausüben können. Wenn er auch auf einen sozial gleichwertigen Beruf hätte verwiesen werden können, so sei er doch als ungelernter Arbeiter im allgemeinen Erwerbsleben durch die Art der Schädigungsfolgen derart beeinträchtigt gewesen, daß er seinen Beruf nicht im Sinne des Buchst. a habe ausüben können (Urteil vom 28. Februar 1973). - Das SG hat die Berufung zugelassen.
Der Beklagte hat mit Einwilligung der Klägerin Sprungrevision eingelegt. Er rügt eine Verletzung des § 30 Abs. 2 und des § 62 BVG. Es könne nicht allgemein angenommen werden, daß ein Beschädigter, der seinen Beruf nur mit außergewöhnlicher Energie ausübe, an sich seinem Beruf nicht im Sinne des § 30 Abs. 2 Buchst. a BVG nachgehen könne. Nur bei einer Gefährdung der Gesundheit könne eine Gleichstellung mit Buchst. a erwogen werden. Dafür habe das SG aber nichts tatsächlich festgestellt. Außerdem sei der Ehemann der Klägerin nicht im Sinne dieser Vorschrift besonders beruflich betroffen gewesen, weil er zur Zeit seiner Berufstätigkeit nicht berufsunfähig im Sinne des § 1246 Abs. 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) gewesen sei; die Tätigkeit sei für ihn nicht unzumutbar gewesen, weil er sie nicht auf Kosten seiner Gesundheit verrichtet habe. Als ungelernter Arbeiter hätte er auf andere Arbeiten im allgemeinen Erwerbsleben verwiesen werden können.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Lüneburg aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Sprungrevision als unbegründet zurückzuweisen.
Sie vertritt mit dem Beklagten die Ansicht, § 30 Abs. 2 BVG regele unter den Buchstaben a und b unterschiedliche Sachverhalte. Gleichwohl sei der Tatbestand des Buchst. b, der für den Bescheid vom 17. Januar 1968 maßgebend gewesen sei, nicht dadurch entfallen, daß St. den Beruf wegen nicht wehrdienstbedingter Gesundheitsstörungen aufgegeben habe. Dies habe der 10. Senat des BSG im Urteil vom 24. Mai 1973 - 10 RV 294/72 - für das Ausscheiden wegen Erreichens der Altersgrenze bestätigt.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Sprungrevision ist zulässig (§ 148 Nr. 2 und 3 Sozialgerichtsgesetz - SGG -; BSG 12, 134; § 150 Nr. 1 §§ 161, 164 SGG). Sie ist aber sachlich nicht begründet.
Das SG hat im Ergebnis zu Recht der Klage stattgegeben. Zwar hat es § 62 Abs. 1 BVG falsch angewendet. Sein Urteil stellt sich aber aus anderen Gründen als richtig dar.
Die vom Beklagten vorgenommene Neufeststellung der MdE mit 50 v. H. ist deshalb nicht nach § 62 Abs. 1 Satz 1 BVG berechtigt, weil sich die Verhältnisse, die für die vorausgegangene Höherbewertung der MdE mit 60 v. H. maßgebend gewesen sind, nicht nachträglich entsprechend der Neufeststellung (BSG 19, 15 und 77) geändert haben. Durch die Erwerbsunfähigkeit infolge eines Leberleidens sind keine tatsächlichen Gegebenheiten, die beim Erlaß des Zugunstenbescheides vom 17. Januar 1968 vorgelegen haben und für die Höherbemessung der MdE um 10 v. H. wegen eines besonderen beruflichen Betroffenseins nach § 30 Abs. 2 BVG "maßgebend" gewesen sein müßten, fortgefallen oder aus Rechtsgründen für die Feststellung der MdE unbeachtlich geworden. "Maßgebend" im Sinne des § 62 Abs. 1 Satz 1 BVG waren für den Zugunstenbescheid die tatsächlichen Verhältnisse, die die schädigungsbedingte MdE des Verstorbenen in seinem Beruf bestimmten. Welche Gegebenheiten als solche zu berücksichtigen sind, ist aus dem Inhalt des Bescheides vom 17. Januar 1968 zu schließen, insbesondere aus seiner Begründung. Ergänzend sind die zugrunde liegenden ärztlichen Feststellungen aus dem Gutachten vom 3. August 1967 zu beachten; das Gutachten war nach Untersuchungen des Verstorbenen auf seinen Antrag, auf den im Zugunstenbescheid verwiesen wurde, erstattet worden. Nach dieser ärztlichen Beurteilung konnte St. wegen der Fußverletzungsfolgen keine Arbeiten verrichten, die mit besonderen Belastungen seiner Beine verbunden waren, wohl aber trotz dieser Behinderung leichte bis mittelschwere Tätigkeiten mit Unterbrechungen oder im Wechsel mit sitzender Arbeitsweise. Da die Versorgungsverwaltung im Bescheid vom 17. Januar 1968 als den nach § 30 Abs. 2 BVG rechtserheblichen "Beruf" den des "ungelernten Arbeiters" ansah und da St. ebenso vor wie nach der Schädigung auch tatsächlich in keinem qualifizierteren Beruf tätig war, bezog sich die Entscheidung, er sei in diesem weiterhin ausgeübten "Beruf" durch die Art der Schädigungsfolgen in einem wesentlich höherem Grad als im allgemeinen Erwerbsleben (§ 30 Abs. 1 BVG) erwerbsgemindert (vgl. § 30 Abs. 2 Satz 2 Buchst. b BVG), auf eine Berufsgruppe, die alle ungelernten Tätigkeiten umfaßt. Die festgestellten Geh- und Stehbehinderungen wirkten sich aber bei zahlreichen "ungelernten Arbeiten", die ständig im Sitzen oder bei leichten bis mittelschweren körperlichen Belastungen im Wechsel mit sitzender Arbeitsweise verrichtet zu werden pflegen, nicht stärker erwerbsmindernd als im allgemeinen Arbeitsleben aus. Dies entspricht einer gesicherten und allgemein bekannten Erfahrung, so daß dazu keine Feststellung durch eine Beweiserhebung in der Tatsacheninstanz getroffen zu werden brauchte. Auch der Beklagte geht in der Revisionsbegründung von dieser Sachlage aus, ordnet sie nur rechtsirrtümlich als eine "Verweisbarkeit" im Sinne des § 1246 Abs. 2 RVO ein; hierbei handelt es sich jedoch um einen andersartigen rechtlichen Beurteilungsmaßstab eines anderen Rechtsgebietes. Allein diese objektiven Verhältnisse bildeten die "maßgebende" tatsächliche Grundlage des Zugunstenbescheides die sich als Voraussetzung für die angefochtene Neufeststellung geändert haben müßte; unerheblich ist dagegen, daß die Versorgungsverwaltung beim Erlaß des Bescheides vom 17. Januar 1968 möglicherweise tatsächliche Gegebenheiten annahm, die in Wirklichkeit nicht bestanden, oder die versorgungsärztliche Begutachtung unrichtig rechtlich beurteilte (BSG 7, 8, 12; 8, 11, 12 f; 13, 89, 90). § 62 BVG ermächtigt "nur zur Rücknahme solcher Verwaltungsakte, die erst nach ihrem Erlaß ... fehlerhaft geworden sind" (BSG 7, 8, 12). Ob die im Zugunstenbescheid ausgesprochene Höherbewertung der MdE wegen ursprünglicher Rechtswidrigkeit nach §§ 41 oder 42 VerwVG berichtig werden könnte, ist nicht Gegenstand dieses Rechtsstreits. Eine solche Berichtigung darf keinesfalls im äußeren Gewand einer Neufeststellung nach § 62 BVG, die von anderen Voraussetzungen abhängt, vorgenommen werden. Die tatbestandsmäßigen Voraussetzungen, die eine Wahlfeststellung nach diesen verschiedenartigen Vorschriften rechtfertigen könnten (BSG 26, 22), sind hier nicht gegeben. Wenn ein Beschädigter - wie der Ehemann der Klägerin - in dem Zeitpunkt, in dem durch einen rechtsverbindlich gewordenen Bescheid seine schädigungsbedingte MdE nach § 30 Abs. 2 BVG höher als nach Abs. 1 festgestellt worden ist, nach der objektiven tatsächlichen Lage gar nicht im Sinn des § 30 Abs. 2 BVG besonders beruflich betroffen gewesen wäre, können die "maßgebenden" tatsächlichen Verhältnisse, die eine solche Bewertung nicht rechtfertigten, nicht nachträglich entfallen mit der Rechtsfolge einer Neufeststellung nach § 62 Abs. 1 Satz 1 BVG. Auch die Rechtsfrage ob ein Beschädigter deshalb nicht mehr durch die Schädigungsfolgen besonders beruflich betroffen ist, weil er in seinem Beruf inzwischen infolge eines schädigungsunabhängigen Leidens in gleicher Weise geschädigt wäre, könnte sich überhaupt nur dann stellen, wenn zuvor die Schädigungsfolgen sich tatsächlich gemäß § 30 Abs. 2 BVG besonders ausgewirkt hätten.
Eine andere rechtliche Beurteilung läßt sich nicht etwa darauf stützen, daß der Ehemann der Klägerin 1968 seinen "Beruf" nur mit außergewöhnlicher Energie und unter Gefährdung seiner Gesundheit ausgeübt hätte und deshalb im Sinn des § 30 Abs. 2 Satz 2 Buchst. b BVG besonders beruflich betroffen gewesen wäre (BSG 13, 20). Weder der Beklagte noch das SG können dem Zugunstenbescheid nachträglich einen entsprechenden Inhalt verschaffen. Das SG hat zwar auf das Urteil des 8. Senats des BSG vom 28. Juli 1972 (SozR Nr. 60 zu § 30 BVG), das einen solchen Unterfall des besonderen beruflichen Betroffenseins betraf, Bezug genommen, hat aber in diesem Zusammenhang nicht verbindlich nach § 163 SGG festgestellt, daß jene Sachlage bei St. 1968 bestanden hätte. Die versorgungsärztliche Beurteilung vom 3. August 1967 bietet auch keinen Anhalt dafür, daß ein solcher Sachverhalt damals tatsächlich gegeben gewesen wäre.
Bei dieser Sach- und Rechtslage kommt es auf die Rechtsfragen und auf die BSG-Urteile, die die Beteiligten und das SG für wesentlich halten, nicht an.
Die mithin im Ergebnis unbegründete Revision muß zurückgewiesen werden (§ 170 Abs. 1 Satz 1 und 2 SGG). Zum Tenor des angefochtenen Urteils ist klarzustellen, daß der Beklagte an die Erben des St. für die Zeit vom 1. Februar 1970 bis zum 31. August 1972 nur den Unterschied zwischen den Renten nach einer MdE um 60 v. H. und um 50 v. H. zu zahlen hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen