Leitsatz (amtlich)
Ein Versicherter, der außerhalb seines Wohnortes erkrankt und sich nach Aufklärung über seinen Gesundheitszustand und dessen Folgen gegen ärztlichen Rat und auf eigene Verantwortung aus einem Krankenhaus am Ort der Erkrankung in ein Krankenhaus seines Wohnortes verlegen läßt, hat gegen die Krankenkasse keinen Anspruch auf Erstattung der entstandenen Transportkosten.
Leitsatz (redaktionell)
Da die Leistungen der Krankenversicherung hinsichtlich der Krankenhilfe (vgl zB RVO § 182 Abs 2) ausreichend und zweckmäßig sein müssen und das Maß des Notwendigen nicht überschreiten dürfen, darf die Krankenkasse jedenfalls dann keine Leistungen erbringen, die nach ärztlichem Rat unnötigerweise der Gesundheit des Versicherten geradezu schädlich sind oder auch nur die Gefahr einer solchen Schädigung des Gesundheitszustandes in sich tragen (hier: Fahrkosten für Rücktransport).
Normenkette
RVO § 182 Abs. 2 Fassung: 1930-07-26, § 194 Abs. 1 Fassung: 1974-08-07; BKnSa
Tenor
Auf die Revision der Beklagten werden das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 7. Juni 1973 und das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 29. November 1972 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.
Die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens haben sich die Beteiligten nicht zu erstatten.
Tatbestand
Streitig ist, ob die Beklagte dem im Jahre 1914 geborenen Kläger Krankentransportkosten zu ersetzen hat. Der Kläger erlitt am 24. Oktober 1971 bei einer Reise im Auto seines Schwagers einen Herzanfall und wurde in das Krankenhaus St. M in L-R gebracht. Er wünschte eine Verlegung in das Marienhospital B, wo er bereits dreimal in den Jahren 1969, 1970 und 1971 stationär behandelt worden war. Auf Verlangen der behandelnden Ärztin unterschrieb er folgende Erklärung: "Ich, H D, bestätige hiermit, daß ich nach Aufklärung über meinen Krankheitszustand und dessen Folgen gegen ärztlichen Rat und auf eigene Verantwortung (das Krankenhaus) verlasse". Die behandelnde Ärztin bescheinigte darauf hin, daß für die Fahrt zum M-hospital ein Krankenwagen erforderlich sei. Die stationäre Behandlung im Marienhospital dauerte vom 24. Oktober bis zum 10. November 1971.
Die Beklagte verweigerte am 10. Januar 1972 die Begleichung der Rechnung über Krankentransportkosten in Höhe von 193,50 DM. Der Kläger beantragte darauf die Übernahme der Transportkosten und wies darauf hin, daß die Beklagte noch im Juli 1971 ein Merkblatt an die Mitglieder verteilt habe, in welchem es u. a. heiße: "Bei einer Erkrankung während eines vorübergehenden Aufenthaltes außerhalb des Wohnortes sind unter Umständen Krankenfahrten erforderlich, um eine angezeigte ärztliche Behandlung oder Krankenhausbehandlung am Wohnort zu ermöglichen. In einem solchen Fall erstatten wir ohne Rücksicht auf die Entfernung Fahrtkosten für eine Strecke bis zu 100 Doppelkilometer. Voraussetzung ist die Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung darüber, daß infolge der Erkrankung die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel nicht möglich war".
Mit Bescheid vom 26. Juli 1972 lehnte die Beklagte die Kostenerstattung ab. Die im Merkblatt angegebenen Ansprüche hätten sich aus § 11 Nr. 5 der Krankenordnung ergeben. § 11 Nr. 5 der Krankenordnung habe gelautet: "Bei Erkrankungen während eines vorübergehenden Aufenthalts außerhalb des Wohnorts werden ohne Rücksicht auf die Entfernung Transportkosten, die durch die Rückkehr an den Wohnsitz zwecks Inanspruchnahme ärztlicher oder Krankenhausbehandlung entstehen, bis zu 100 Doppelkilometern erstattet. Voraussetzung ist die Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung, daß infolge der Erkrankung die Benutzung eines Krankenwagens notwendig und die Inanspruchnahme öffentlicher Verkehrsmittel nicht möglich war". Die Vertreterversammlung habe am 24. Juni 1971 aufgrund eines Urteils des Bundessozialgerichts (BSG) vom 24. Februar 1971 (vgl. hierzu BSGE 32, 225 ff = SozR Nr. 42 zu § 182 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) beschlossen, diese Bestimmung mit Wirkung vom 1. August 1971 ersatzlos zu streichen. Nach der am 21. September 1971 erteilten Genehmigung durch das Bundesversicherungsamt sei der Satzungsnachtrag in der Zeitschrift "Kompaß" Nr. 11/1971 unter den amtlichen Bekanntmachungen der Bundesknappschaft im vollen Wortlaut veröffentlicht worden. Da in L-R die erforderliche Krankenhilfe zur Verfügung gestanden habe, habe kein zwingender Grund zur Rückkehr an den Wohnort vorgelegen. Der gegen den Bescheid eingelegte Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 25. September 1972 zurückgewiesen. Die dagegen erhobene Klage war vor dem Sozialgericht (SG) Gelsenkirchen und Landessozialgericht (LSG) für das Land Nordrhein-Westfalen erfolgreich. Zur Begründung seiner Entscheidung führt das LSG aus, für den Transport am 24. Oktober 1971 habe keine medizinische Notwendigkeit vorgelegen. Es habe der Verdacht auf einen Herzinfarkt bestanden. Im Kraftwagen seines Schwagers habe der Kläger die Fahrt nicht fortsetzen können. Die Ärzte des Krankenhauses in L hätten dem Kläger geraten, zunächst in L zu bleiben, schließlich hätten sie jedenfalls die Benutzung eines Krankenwagens für erforderlich bescheinigt. Offenkundig habe die Fahrt von I nach B am 24. Oktober 1971 bei dem bestehenden Verdacht auf einen Herzmuskelinfarkt ein gewisses gesundheitliches Risiko mit sich gebracht. Die Möglichkeiten des Krankenhauses in L hätte auch für eine adäquate Behandlung des Klägers ausgereicht. Es müsse jedoch davon ausgegangen werden, daß sich eine - unter Umständen längere - Krankenhausbehandlung in einer fremden Stadt ungünstiger auf das Wohlbefinden und damit auf die Heilungsaussichten auswirke, als wenn die Behandlung in einem Krankenhaus am Wohnort des Patienten erfolge. Man werde der Funktion der gesetzlichen Krankenhilfe nur dann gerecht, wenn - im Einklang mit den neueren Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft - eine menschliche Situation des Versicherten und insbesondere seine Beziehungen zur Umwelt, die für die Heilung bedeutsam sein könnten, nicht außer acht gelassen würde. Diesen Gesichtspunkten habe die Beklagte in der alten Fassung der Vorschrift des § 11 Nr. 5 der Krankenordnung Rechnung getragen gehabt, indem sie generell die Transportkosten bis zu einer Entfernung von 100 Doppelkilometern erstattet habe, wenn der Versicherte wegen seiner Krankheit nur in einem Krankenwagen habe befördert werden können. Die genannte Bestimmung sei in der alten Fassung für den vom Kläger geltend gemachten Anspruch noch rechtswirksam. Die Vertreterversammlung der Beklagten habe zwar bereits am 24. Juni 1971 die Streichung der Vorschrift mit Wirkung vom 1. August 1971 beschlossen gehabt und der hier infrage stehende Krankentransport habe erst am 24. Oktober 1971 stattgefunden, die Änderung der Krankenordnung sei aber erst im November 1971 veröffentlicht worden. Gemäß § 154 Abs. 2 Satz 2 Reichsknappschaftsgesetz (RKG) und § 37 Satz 2 der Satzung der Beklagten sei für eine solche Änderung der Krankenordnung die Pflicht zur öffentlichen Bekanntmachung vorgesehen, so daß die Änderung der Krankenordnung auch erst mit der Veröffentlichung wirksam geworden sei. Die in § 11 Nr. 5 aF der Krankenordnung vorgesehenen Voraussetzungen für die Übernahme der Transportkosten durch die Beklagte seien dem Grunde nach gegeben. Deshalb seien die entstandenen Kosten auch in voller Höhe zu ersetzen, die Kosten der Fahrt mit einem öffentlichen Verkehrsmittel seien nicht absetzbar, weil der Kläger diese Kosten nicht erspart habe. Wenn er keinen Herzanfall erlitten hätte, wäre er mit dem Wagen seines Schwagers zurückgefahren. Gegen das Urteil hat das LSG die Revision zugelassen.
Mit der Revision macht die Beklagte geltend, das LSG habe § 211 RVO, der nach § 20 RKG auch für die knappschaftliche Krankenversicherung gelte, unrichtig angewandt. Wie das LSG richtig festgestellt habe, habe für den Transport am 24. Oktober 1971 keine medizinische Notwendigkeit vorgelegen, weil die erforderliche Krankenhilfe am Erkrankungsort habe zur Verfügung gestellt werden können. Es sei zwar richtig, daß nach § 11 Nr. 5 aF der Krankenordnung bei Erkrankungen während eines vorübergehenden Aufenthaltes außer halb des Wohnortes Transportkosten, die durch die Rückkehr an den Wohnsitz zwecks Inanspruchnahme ärztlicher oder Krankenhausbehandlung entstehen, bis zu 100 Doppelkilometer zu erstatten gewesen seien. Voraussetzung sei die Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung gewesen, daß infolge der Erkrankung die Benutzung eines Krankenwagens notwendig und die Inanspruchnahme öffentlicher Verkehrsmittel nicht möglich gewesen sei, jedoch sei nach der Rechtsprechung des BSG eine solche Regelung den heutigen Verhältnissen nicht mehr angepaßt, weil sie die Versicherten, je nach der - zufälligen - Entfernung des Erkrankungsortes vom Kassenbezirk ungleich treffen würde (vgl. BSGE 32, 227). Die Rechtsprechung des BSG habe in Widerspruch zu § 11 Nr. 5 aF der Krankenordnung gestanden, so daß diese Vorschrift rechtsunwirksam geworden sei. Die Rechtsprechung habe für die Mehrzahl der in der knappschaftlichen Krankenversicherung Berechtigten Leistungsverbesserungen zur Folge gehabt, die in den entsprechenden Versicherungsfällen umgehend hätten berücksichtigt werden müssen. Der Beschluß der Vertreterversammlung der Beklagten über den Wegfall der Bestimmung des § 11 Nr. 5 der Krankenordnung sowie die anschließende Veröffentlichung hätten daher keinen rechtsetzenden Charakter, sondern lediglich deklaratorische Bedeutung gehabt. Sofern der neuen durch die Rechtsprechung des BSG geschaffenen Rechtslage Bestimmungen der Satzung bzw. der Krankenordnung entgegenstehen, seien diese mit sofortiger Wirkung - ohne besondere Änderung der Satzung bzw. der Krankenordnung - rechtsunwirksam, auch wenn für den berechtigten Personenkreis teilweise ein Leistungswegfall einträte. Das Vertrauen des Versicherten auf die bisherige Regelung sei schon deshalb nicht schutzwürdig gewesen, weil diese nach der Rechtsprechung des BSG mit der Neuregelung hätten rechnen müssen, die zur Zeit des Transports auch bereits von der Vertreterversammlung beschlossen gewesen sei. Schließlich sei das Urteil des LSG auch insofern fehlerhaft, als es die Beklagte zur Erstattung der vollen Transportkosten ohne Abzug der Kosten verurteilt habe, die dem Kläger bei der Inanspruchnahme eines öffentlichen Verkehrsmittels entstanden wären.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG für das Land Nordrhein-Westfalen vom 7. Juni 1973 und das Urteil des SG Gelsenkirchen vom 29. November 1972 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er ist der Ansicht, daß ihm ein Verbleiben in dem Krankenhaus in L-R nicht habe zugemutet werden können, und daß die Entscheidung des BSG vom 24. Februar 1971 nicht im Widerspruch zu den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils stehe.
Entscheidungsgründe
Die statthafte Revision der Beklagten ist begründet. Die Urteile der Vorinstanzen mußten aufgehoben und die Klage abgewiesen werden.
Für die Entscheidung des Rechtsstreits können die Auswirkungen des Urteils des BSG vom 24. Februar 1971 (BSGE 32, 225 ff = SozR Nr. 42 zu § 182 RVO) und der danach erfolgten Änderungen der Krankenordnung der Beklagten, die nach § 37 ihrer Satzung Bestandteil dieser Satzung ist, dahingestellt bleiben, denn der geltend gemachte Anspruch auf Erstattung der am 24. Oktober 1971 entstandenen Beförderungskosten vom Krankenhaus St. M in L-R in das Marienhospital in B, dem Wohnort des Klägers, ist weder nach der alten noch nach der neuen Fassung der Krankenordnung der Beklagten begründet; auch aus dem Merkblatt der Beklagten, auf das sich der Kläger beruft, kann ein solcher Anspruch nicht hergeleitet werden.
Wie sich aus dem Urteil des BSG vom 24. Februar 1971 ergibt, gehören die Kosten für den Rücktransport eines außerhalb seines Wohnortes Erkrankten als unselbständige Nebenkosten zu der von den Krankenkassen zu gewährenden Krankenhilfe. Als Krankenhilfe können aber nach dem Sinn und Zweck der gesetzlichen Krankenversicherung nur Leistungen gewährt werden, die im Hinblick auf eine Besserung des Gesundheitszustandes des Versicherten zweckmäßig sind (vgl. hierzu zB. § 182 Abs. 2 RVO). Nach den Feststellungen des LSG hat aber die Fahrt von L-R nach B am 24. Oktober 1971 bei dem bestehenden Verdacht auf einen Herzmuskelinfarkt ein gewisses gesundheitliches Risiko mit sich gebracht, welches die behandelnde Ärztin veranlaßte, sich von dem Kläger bescheinigen zu lassen, daß er das Krankenhaus gegen ärztlichen Rat und auf eigene Verantwortung verlasse. Der Rücktransport am Tage der Erkrankung war also unzweckmäßig, und von ihm mußte im Zeitpunkt der Durchführung befürchtet werden, daß er den Gesundheitszustand des Versicherten verschlechtern würde. Es ist so selbstverständlich, daß Kosten für derartige Maßnahmen von einer Krankenkasse nicht zu erstatten sind, daß diese Einschränkung für die Erstattung von Kosten für einen Rücktransport unter diesen Voraussetzungen nicht ausdrücklich in die Satzung und auch nicht in das von der Beklagten herausgegebene Merkblatt aufgenommen zu werden brauchte. Aus dem Sinn und Zweck der Krankenhilfe ergibt sich, daß eine Krankenkasse im Rahmen der Krankenhilfe keine Leistungen erbringen darf, die nach ärztlicher Ansicht für die Gesundheit des Versicherten schädlich sind oder die die Gefahr einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Versicherten mit sich bringen. Wenn sich später bei einer rückschauenden Betrachtung herausgestellt haben sollte, daß der Rücktransport nicht mit den Risiken belastet war, die von der Ärztin im Zeitpunkt seiner Durchführung angenommen werden mußten, so würde auch das nicht die Rückerstattung der Beförderungskosten rechtfertigen, denn entscheidend ist, ob die Maßnahme zur Zeit ihrer Durchführung wegen des damit verbundenen gesundheitlichen Risikos für den Versicherten als schädlich angesehen werden mußte. Ob etwas anderes gelten muß, wenn das angenommene Risiko auf einer krassen Fehldiagnose des Arztes beruhte, kann dahingestellt bleiben, weil im vorliegenden Fall dafür kein Anhalt besteht. Soweit es gesundheitsfördernde Maßnahmen gibt, deren Durchführung auch gewisse gesundheitliche Risiken für die Versicherten mit sich bringen, muß eine sorgfältige Abwägung der für und gegen diese Maßnahmen sprechenden Gründe vorgenommen werden und sie dürfen nur durchgeführt werden, wenn die für solche Maßnahmen sprechenden Gründe überwiegen. Im vorliegenden Fall sind aber keine Gründe ersichtlich, die den Transport von L-R nach B bereits am ersten Tage der Erkrankung als angezeigt erscheinen lassen könnten.
Auf die Revision der Beklagten mußten daher die Urteile des LSG und des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Fundstellen