Leitsatz (amtlich)
1. Überzeugt sich der Versicherungsträger, daß die Leistung zu Unrecht abgelehnt worden ist, so ist er zur Neufeststellung nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet.
2. Als "überzeugt" von der Unrechtmäßigkeit der Ablehnung ist der Versicherungsträger anzusehen, wenn die Unrechtmäßigkeit so offensichtlich ist, daß er dies bei der erneuten Prüfung hätte erkennen müssen.
Normenkette
RVO § 619 Fassung: 1924-12-15
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 9. Juni 1959 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Dem ... 1924 geborenen Kläger stieß am 30. September 1938 ein Verkehrsunfall zu. Er befand sich mit dem Fahrrad auf dem Weg zu seiner Arbeitsstätte bei der B.-fabrik AG in Aschaffenburg, einem Mitglied der beklagten Berufsgenossenschaft Druck- und Papierverarbeitung. Dabei befuhr er - nach seinen eigenen Angaben im polizeilichen Ermittlungsverfahren mit "ziemlich hoher Geschwindigkeit" - die abschüssige J. Straße stadteinwärts, die sich damals in schlechtem Zustand befand; es war frischer Sand aufgeschüttet worden, und Schottersteine lagen umher. Der Kläger benutzte die linke Straßenseite, weil diese besser zu befahren war als die rechte. Er war in der Sicht behindert, weil es regnete und durch das Vorderrad aufgewirbelter Sand ihm ins Gesicht spritzte. Einige hundert Meter vor dem Stadtgebiet stieß er mit einem ihm entgegenkommenden Lastkraftwagen (Lkw) zusammen, der vorschriftsmäßig die rechte Straßenseite benutzte. Der Lkw-Fahrer hatte seinen Wagen bereits zum Stehen gebracht, als der Kläger auf die Stoßstange auffuhr. Der Kläger zog sich Brüche im rechten Ober- und Unterschenkel und im linken Kniegelenk zu.
Das staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren gegen den Kläger wurde eingestellt, weil er sich "bei dem von ihm allein verschuldeten Zusammenstoß erheblich verletzt und auch Sachschaden erlitten" habe.
Durch Bescheid vom 16. Dezember 1938 lehnte die Beklagte den Entschädigungsanspruch des Klägers mit der Begründung ab, der Unfall sei auf ein Verschulden des Versicherten zurückzuführen, das nach § 1 im Fünften Teil Kapitel II Abschnitt 1 der Vierten Verordnung des Reichspräsidenten zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen und zum Schutze des inneren Friedens vom 8. Dezember 1931 - Vierte Notverordnung, RGBl I 699 - in Verbindung mit § 545 a der Reichsversicherungsordnung (RVO) die völlige Versagung des Schadensersatzes rechtfertige. Hiergegen hat der Vater des Klägers als sein gesetzlicher Vertreter verspätet Berufung eingelegt; er nahm sie wieder zurück.
Im Oktober 1953 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Wiederaufnahme des Verfahrens. Diesen Antrag lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 20. Februar 1954 ab,
"... weil keiner der Gründe, die nach den §§ 179 ff des Sozialgerichtsgesetzes die Wiederaufnahme des Verfahrens rechtfertigen würden, gegeben ist. Abgesehen von dem Fehlen einer Rechtsgrundlage für eine Wiederaufnahme des Verfahrens können auch soziale Gründe nicht zu dem vom Verletzten angestrebten Erfolg führen, weil er grob fahrlässig handelte und die im Zeitpunkt seines Unfalls gültig gewesenen Rechtsvorschriften nunmehr gegen sich solange gelten lassen muß, als nicht etwa der Gesetzgeber auch rechtskräftig beschiedene Fälle mit Wirkung in die Zukunft von den Rechtsfolgen des § 1 der Vierten Notverordnung entbindet. Kraft eigener Entschließung ist der Versicherungsträger im Hinblick auf die zahlreichen gleichgelagerten Fälle nicht in der Lage, den rechtskräftig gewordenen Ablehnungsbescheid aufzuheben."
Am 22. März 1954 erhob der Kläger Klage zum Sozialgericht (SG) Würzburg mit dem Antrag, den Bescheid vom 20. Februar 1954 aufzuheben und die Wiederaufnahme des Verfahrens zuzulassen. In der mündlichen Verhandlung am 18. April 1956 erklärte der Vertreter der Beklagten, nachdem der Vorsitzende die Sach- und Rechtslage mit den Beteiligten erörtert hatte: Der angefochtene Bescheid sei ein solcher nach § 619 RVO, mit dem der Klageweg habe wiedereröffnet werden sollen. Da § 619 RVO eine "Kannvorschrift" darstelle, müsse gemäß § 79 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ein Vorverfahren durchgeführt werden. Die gegen den Bescheid vom 20. Februar 1954 erhobene Klage sei daher als Widerspruch aufzufassen. Die Beklagte sei bereit, das Widerspruchsverfahren durchzuführen und einen Widerspruchsbescheid zu erlassen. Daraufhin nahm der Kläger die Klage zurück.
Durch Widerspruchsbescheid vom 4. September 1956 wies die Beklagte den Widerspruch mit folgender Begründung zurück: Dem Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens könne nicht stattgegeben werden, weil keine Gründe vorlägen, die nach §§ 179 ff SGG die Wiederaufnahme des alten, rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens rechtfertigten. Die seinerzeitige Rechtslage für die Gewährung von Entschädigungsleistungen bei Wegeunfällen bestehe für die damaligen Unfälle weiterhin und sei auch rückwirkend nicht aufgehoben worden. Die Voraussetzungen für die Möglichkeit der nachträglichen Leistungsgewährung nach § 619 RVO seien nicht gegeben, da die Leistungen entsprechend der seinerzeitigen gesetzlichen Regelung zu Recht abgelehnt worden seien.
Den Widerspruchsbescheid hat der Kläger am 13. September 1956 mit der Klage zum SG Würzburg angefochten. Das erste Urteil dieses Gerichts vom 2. November 1956 ist vom Bayerischen Landessozialgericht (LSG) am 19. Februar 1957 aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das SG zurückverwiesen worden. Durch ein zweites Urteil vom 12. September 1957 hat das SG den Widerspruchsbescheid aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger aus Anlaß des Wegeunfalls vom 30. September 1938 einen neuen klagefähigen Bescheid zu erteilen. Zur Begründung hat es u. a. ausgeführt: Der Wegeunfall des Klägers sei auch heute noch nach Notverordnungsrecht zu beurteilen. Die Beklagte hätte jedoch den Entschädigungsanspruch des Klägers nur dann völlig versagen dürfen, wenn sein mitwirkendes Verschulden beim Unfall so schwer gewesen wäre, daß dahinter die sonstigen Mitursachen des Unfalls völlig zurückträten. An dieser Voraussetzung fehle es. Der Unfall sei nicht ausschließlich auf das fahrlässige Verhalten des Klägers, sondern überwiegend auf die schlechten Straßenverhältnisse zurückzuführen. Bei richtiger Würdigung der Sachlage widerspreche es dem Zweck der gesetzlichen Ermächtigung des § 1 der Vierten Notverordnung, daß die Beklagte den Entschädigungsanspruch ganz abgelehnt habe. Ebenso stelle die neuerliche gänzliche Leistungsablehnung in dem angefochtenen Widerspruchsbescheid eine Ermessensverletzung im Sinne des § 54 Abs. 2 SGG dar. Die Beklagte sei zur Erteilung eines neuen Bescheides verpflichtet. Dabei müsse sie beachten, daß die völlige Versagung der Entschädigungsleistung rechtswidrig wäre; dem Kläger stehe mindestens die Hälfte der gesetzlichen Leistungen zu, und zwar vom Jahre 1938 an.
Auf die Berufung der Beklagten hat das Bayerische LSG durch Urteil vom 9. Juni 1959 die erstinstanzliche Entscheidung aufgehoben und die Klage mit folgender Begründung abgewiesen: Der angefochtene Widerspruchsbescheid sei auf Grund des § 619 RVO ergangen. Die Entscheidung hätte nur dann zugunsten des Klägers ausfallen können, wenn die völlige Versagung der Entschädigung durch den Bescheid vom 16. Dezember 1938 zu Unrecht erfolgt wäre. Die völlige Versagung sei immer gerechtfertigt, wenn die Fahrlässigkeit des Versicherten so schwer sei, daß dahinter die allgemeine Betriebsgefahr des von einem anderen Verkehrsteilnehmer verkehrsgerecht gesteuerten Kraftwagens und die sonstigen Mitursachen des Unfalls völlig zurückträten. Bei der Prüfung, ob die Beklagte bei der Ablehnung der Entschädigungsansprüche im Jahre 1938 ihr Ermessen pflichtwidrig ausgeübt habe, müßten die für den Unfall ursächlichen Umstände gegeneinander abgewogen werden. Das Verschulden Jugendlicher sei in der Rechtsprechung nicht einheitlich beurteilt worden. So habe das Reichsversicherungsamt (RVA) einem 15 1/2 Jährigen, der auf eine schnell fahrende Straßenbahn aufgesprungen und dabei verunglückt sei, die Entschädigung zur Hälfte zugesprochen (EuM Bd. 49, 139), während das Bayerische Landesversicherungsamt (LVAmt) einem 14Jährigen, der in den falschen Zug eingestiegen und dann von dem langsam fahrenden Zug abgesprungen sei, die Entschädigung ganz versagt habe (EuM Bd. 37, 10). In Fällen der vorliegenden Art müsse es dem Versicherungsträger gestattet sein, einen relativ strengen Maßstab anzulegen; darin könne noch kein Ermessensfehler erblickt werden; denn das Verwaltungsermessen beinhalte begrifflich einen nicht unerheblichen Spielraum. Von einer Ermessensverletzung könne erst gesprochen werden, wenn der Versicherungsträger an das Verhalten des Verletzten offensichtlich unangemessen hohe Anforderungen stelle. Ein solcher Vorwurf könne der Beklagten nicht gemacht werden; der Kläger habe sich am 30. September 1938 in einem ausgesprochen hohen Maße schuldhaft verhalten, und die durch seine Fahrlässigkeit gesetzte Ursache zum Unfall habe alle anderen in Betracht kommenden Ursachen (Straßenbeschaffenheit, schlechtes Wetter) weit überwogen. Habe es somit keinen Ermessensmißbrauch bedeutet, daß die Beklagte am 16. Dezember 1938 den Entschädigungsanspruch des Klägers völlig abgelehnt habe, so stelle es auch nunmehr keine Ermessensverletzung bei der Anwendung des § 619 RVO dar, daß die Beklagte eine Neufeststellung der Entschädigung abgelehnt habe.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Das Urteil ist dem Kläger am 28. September 1959 zugestellt worden. Er hat am 27. Oktober 1959 Revision eingelegt und das Rechtsmittel innerhalb der bis zum 28. Dezember 1959 verlängerten Begründungsfrist begründet.
Die Revision führt aus: Das LSG habe im Rahmen des § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG zu prüfen gehabt, ob die Beklagte bei der völligen Ablehnung der Entschädigungsansprüche des Klägers aus dessen Unfall vom 30. September 1938 und demgemäß auch bei der Erteilung des Ablehnungsbescheides nach § 619 RVO ihr Ermessen fehlerhaft ausgeübt habe. Diese Frage hätte das LSG nicht verneinen dürfen. Es habe dem Umstand, daß der Kläger im Zeitpunkt des Unfalls erst 14 Jahre alt gewesen sei, eine viel zu geringe Bedeutung beigemessen. Daß der Kläger nach seiner geistigen und sittlichen Reife imstande gewesen sei, das Unrechte seiner Handlungsweise einzusehen, besage noch nicht, daß er auch in der Lage gewesen sei, diesen Willen seiner Einsicht gemäß zu bestimmen. Das angefochtene Urteil lasse insoweit die erforderlichen Tatsächlichen Feststellungen und rechtlichen Schlüsse vermissen. Ferner habe das LSG nicht berücksichtigt, daß die zur Zeit des Unfalls geltende Straßenverkehrsordnung noch kein Jahr alt gewesen sei. Es habe auch den Witterungs- und Straßenverhältnissen keine genügende Bedeutung beigemessen und nicht ausreichend berücksichtigt, daß der Kläger täglich 14 km über schlechte Straßen und Feldwege habe zurücklegen müssen. Angesichts des damals noch sehr geringen Verkehrs habe der Kläger im allgemeinen nicht mit plötzlich auftretenden Hindernissen zu rechnen brauchen. Die linke Fahrbahn habe nicht nur der Kläger benutzt, sondern auch jeder andere Wegebenutzer. Tatsächliche Feststellungen dieser Art lasse das Berufungsurteil weitgehend vermissen; das LSG sei seiner Pflicht zur Sachaufklärung nicht nachgekommen. Als Möglichkeit hierzu habe sich eine Anhörung des Klägers angeboten. Abgesehen hiervon reiche schon der vom LSG festgestellte Sachverhalt aus, das Verschulden des Klägers als so gering zu veranschlagen, daß die völlige Versagung des Entschädigungsanspruchs die Grenzen des der Beklagten eingeräumten Verwaltungsermessens überschreite.
Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Würzburg vom 12. September 1957 zurückzuweisen,
hilfsweise,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
II
Die Revision des Klägers ist zulässig, aber nicht begründet.
Gegenstand der Klage sind der Bescheid der Beklagten vom 20. Februar 1954 und der Widerspruchsbescheid vom 4. September 1956. Der Bescheid vom 20. Februar 1954 hat einen zweifachen Inhalt. Zunächst ist mit diesem Bescheid der Antrag des Klägers auf "Wiederaufnahme des Verfahrens" abgelehnt worden. Hiermit kann, obwohl es in der Begründung des Bescheides heißt, die Voraussetzungen der §§ 179 ff. SGG lägen nicht vor, nicht die Wiederaufnahme eines gerichtlichen Verfahrens, vielmehr nur die Wiederaufnahme des Verwaltungsverfahrens gemeint gewesen sein. Es fehlt nämlich an einem durch eine rechtskräftige Entscheidung beendeten gerichtlichen Verfahren, und außerdem wäre die Beklagte als Versicherungsträger nicht befugt gewesen, ein gerichtliches Verfahren wiederaufzunehmen. Der erste Teil des Bescheides vom 20. Februar 1954 ist somit dahin zu verstehen, daß die Beklagte es abgelehnt hat, das Verwaltungsverfahren wiederaufzunehmen. Dieser Teil des Bescheides ist nicht rechtswidrig, weil die Voraussetzungen, unter denen nach § 1744 RVO gegenüber einem bindenden Verwaltungsakt eine neue Prüfung beantragt werden kann, offensichtlich nicht gegeben sind. Dies wird von der Revision auch nicht in Zweifel gezogen.
Entgegen der Auffassung der Beklagten erschöpft sich jedoch die Bedeutung des Bescheides vom 20. Februar 1954 nicht hierin. Die Beklagte hat nicht nur die Wiederaufnahme des Verwaltungsverfahrens abgelehnt, sondern auch den Antrag des Klägers, in Änderung des Ablehnungsbescheides vom 16. Dezember 1938 eine Neufeststellung der Entschädigung zu seinen Gunsten vorzunehmen, abschlägig beschieden. Insoweit ist der Bescheid vom 20. Februar 1954 nicht etwa als sog. "Rechtswegeröffnungsbescheid" anzusehen, wie ihn nach der wiederholt vertretenen Auffassung des RVA und des älteren Schrifttums ein Versicherungsträger erteilen konnte, wenn er Zweifel an der Richtigkeit seines früheren Ablehnungsbescheides hatte und unter "Verzicht auf die Rechtskraft" dieses Bescheides den Rechtszug wieder eröffnen wollte (vgl. hierzu BSG 13, 181, 187 mit zahlreichen Nachweisen). Die Beklagte hat nicht, wie sich vor allem aus der vorausgegangenen Korrespondenz zwischen ihrer Hauptverwaltung und der Geschäftsstelle IV in Nürnberg (Bl. 34 bis 36 der Verw. Akten) ergibt und der Vertreter der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vor dem SG am 18. April 1956 bestätigt hat, auf die "Rechtskraft" des Bescheides vom 16. Dezember 1938 "verzichtet", sondern hat geprüft, ob es in Anwendung des § 619 RVO geboten oder gerechtfertigt war, eine neue Feststellung zu Gunsten des Klägers vorzunehmen, d. h. seinen Entschädigungsanspruch ganz oder teilweise anzuerkennen. Diese Prüfung hat sie damit abgeschlossen, daß sie die von dem Kläger beantragte Neufeststellung abgelehnt hat. Auch im Widerspruchsverfahren ist sie noch einmal in eine Prüfung der Voraussetzungen des § 619 RVO eingetreten; durch Widerspruchsbescheid vom 4. September 1956 hat sie den Bescheid vom 20. Februar 1954 bestätigt und in der Begründung ausgeführt, die Voraussetzungen für eine neue, den Kläger begünstigende Feststellung nach § 619 RVO seien nicht gegeben. Die Beklagte hat es somit abgelehnt, eine positive Feststellung nach § 619 RVO zu treffen, also einen den Kläger begünstigenden Verwaltungsakt zu erlassen. Da der Kläger sich hierdurch beschwert fühlt, sind die Voraussetzungen gegeben, unter denen nach § 54 Abs. 1 SGG Klage auf Verurteilung zum Erlaß des abgelehnten Verwaltungsakts begehrt werden kann. Mit der Ablehnung der beantragten Neufeststellung hat die Beklagte zugleich einen Einzelfall auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts geregelt und damit einen Verwaltungsakt negativen Inhalts gesetzt, der mit der Aufhebungsklage angefochten werden kann. Gegen den Bescheid vom 20. Februar 1954, bestätigt und in seiner Begründung verdeutlicht durch den Widerspruchsbescheid vom 4. September 1956, ist daher, nachdem das nach § 79 Nr. 2 SGG erforderliche Vorverfahren stattgefunden hat, die Aufhebungs- und Verpflichtungsklage zulässig (BSG vom 18. November 1960 - 4 RJ 305/59 - Breith. 1961, 342, 343; vgl. auch BSG 10, 248; ferner Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Bd. II S. 602 a, b mit weiteren Nachweisen).
Die auf Verurteilung der Beklagten zur begünstigenden Neufeststellung gerichtete Klage ist jedoch, wie das LSG mit Recht entschieden hat, unbegründet. Sie ist es allerdings nicht schon deshalb, weil nach § 619 RVO der Versicherungsträger eine abgelehnte Leistung, wenn er sich bei erneuter Prüfung von der Unrechtmäßigkeit der Ablehnung überzeugt, neu feststellen "kann", d. h. hierzu zwar befugt, aber nicht verpflichtet wäre. Freilich nahm die herrschende Meinung, vor allem im älteren Schrifttum, an, die Neufeststellung nach § 619 RVO sei in das pflichtmäßige, im Rechtsmittelzuge nicht nachprüfbare Ermessen des Versicherungsträgers gestellt (RVO-Mitgl. Kommentar zu § 619; Schraeder/Strich, Die deutsche Unfallversicherung, § 619 RVO, Anm. 1; Krohn/Zschimmer/Knoll/Sauerborn, Handkommentar zur RVO zu § 619; Bayer. LVAmt, EuM Bd. 12, 138). Das RVA hat aber bereits in einem Rundschreiben vom 30. Juli 1941 betr. Soziale Rechtsanwendung (AN 1941, 311, 312) ausgeführt, der Befugnis des Versicherungsträgers, auf Grund der §§ 619, 1304 RVO aF die Leistung neu festzustellen, entspreche regelmäßig die Pflicht zur Neufeststellung, wenn er die Unrichtigkeit seines ablehnenden Bescheides erkannt habe; die §§ 619, 1304 RVO seien insoweit von dem allgemeinen Rechtsgedanken beherrscht, daß zugunsten der Beteiligten ein Verbot der Selbständerung rechtskräftiger Bescheide durch die Versicherungsträger nicht bestehe. In einem weiteren Rundschreiben vom 7. Mai 1942 hat das RVA erneut auf die Notwendigkeit einer "sozialen Rechtsfindung" in dem Sinne hingewiesen, daß sich bei sozialen Leistungen die materielle Rechtslage soweit wie irgend möglich gegenüber dem formellen Rechtszustand durchsetzen müsse (AN 1942, 313). Nach Inkrafttreten des Grundgesetzes (GG) wurde im Hinblick auf dessen Art. 19 Abs. 4 die Auffassung vertreten, daß im Spruchverfahren die Rechtskontrolle über Ermessensentscheidungen der Versicherungsträger auszuüben sei (vgl. Teutsch, Die Sozialversicherung 1950, 145; OVA Freiburg aaO 1951, 43; OVA Schleswig aaO 1952, 121). demgemäß wurden, vor allem nach Inkrafttreten des SGG, dessen § 54 Abs. 2 in Übereinstimmung mit den Verwaltungsgerichtsgesetzen die Rechtskontrolle vorschreibt, Neufeststellungsbescheide nach §§ 619, 1304 RVO aF vielfach als gerichtlich nachprüfbare Ermessensentscheidungen angesehen (LSG Nordrhein-Westfalen, Die Sozialgerichtsbarkeit 1955, 28; Bayer. LSG, Amtsbl. 1956 S. B. 160, 162; Schönberger, Die Sozialversicherung 1957, 241, 243; Gunkel, DOK 1959, 79). Alsdann wurde in zunehmendem Maße die Meinung vertreten, das Wort "kann" in §§ 619, 1304 RVO aF gebe dem Versicherungsträger nicht die Ermächtigung, nach seinem Ermessen zu handeln, sondern begründe nur einen Beurteilungsspielraum im Sinne des kognitiven Ermessens. Dies bedeute einerseits, daß der Versicherungsträger trotz formalrechtlich endgültiger - bindender bzw. rechtskräftiger - Ablehnung eine begünstigende neue Feststellung treffen "darf", daß er andererseits aber beim Vorliegen der weiteren Voraussetzung, daß er von der Unrichtigkeit der Ablehnung überzeugt ist, zur Erteilung eines begünstigenden Bescheides grundsätzlich verpflichtet ist (vgl. Hastler, Die Sozialversicherung 1954, 158; Jerosch, Sozialgerichtsbarkeit 1957, 1 ff; Brackmann aaO S. 602 a und 729 unter Hinweis auf LSG Hamburg, Breith. 1956, 486; Lauterbach, Unfallversicherung, 2. Aufl., § 619 Anm. 1; Wetterer, Die Sozialversicherung 1957, 6 ff). Diese Auffassung hält der Senat für zutreffend. Sie wird gestützt durch einen Vergleich mit § 608 RVO. Auch in dieser Vorschrift begründet, was nirgends bezweifelt wird, das Wort "kann" kein Handlungsermessen, sondern gibt die Möglichkeit, die Bindung bzw. Rechtskraft einer für den Verletzten ungünstigen Entscheidung zu seinen Gunsten zu beseitigen (Handbuch der Unfallversicherung, Bd. I S. 522; Moesle/Rabeling, Kommentar zur RVO, § 608 Anm. 7; Lauterbach aaO, § 608 Anm. 3). Bei der Beratung der RVO im Plenum des Reichstags ist allerdings der Antrag abgelehnt worden, in § 635 des Entwurfs (§ 619 RVO) das Wort "kann" durch "muß" zu ersetzen. Aus der Begründung, daß "die Annahme des Antrags die Rechtskraft der Entscheidung illusorisch gemacht und ohne Zweifel die Neuaufrollung zahlreicher zweifelhafter - und auch unbegründeter - Rentenstreitigkeiten hervorgerufen haben würde" (Sten. B. S 6832 f.), läßt sich jedoch entnehmen, daß man lediglich in der Frage, ob neu geprüft werden soll, kein "muß" einführen, sondern ein Ermessen begründen wollte. Mittlerweile hat der Gesetzgeber durch die Ersetzung des Wortes "kann" durch das Wort "muß" in § 1300 RVO nF die Richtigkeit der Auffassung bestätigt, daß der Versicherungsträger, wenn er sich von der Unrechtmäßigkeit der Ablehnung überzeugt hat, nicht mehr die Wahl zwischen einer begünstigenden Neufeststellung und dem Untätigbleiben hat, sondern daß er aus Gründen der sozialen und materiellen Gerechtigkeit zur Neufeststellung verpflichtet ist; auch der Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung (BT-Drucksache IV/120) sieht in § 624 nunmehr eine Verpflichtung ("hat") des Versicherungsträgers zur Neufeststellung unter der Voraussetzung vor, daß er sich von der Unrechtmäßigkeit der Ablehnung, Entziehung oder Einstellung der Leistung überzeugt.
Wollte man die gesetzliche Voraussetzung des "Überzeugtseins" wörtlich, d. h. in rein subjektivem Sinne verstehen, so wäre die dem Versicherungsträger auferlegte Pflicht zur Neufeststellung für den mit seinem Entschädigungsanspruch einmal abgewiesenen Verletzten nahezu wertlos, weil dann dem Einwand des Versicherungsträgers, er sei nicht von der Unrichtigkeit überzeugt, schlechthin nicht mit Erfolg begegnet werden könnte. Das Gericht muß in der Lage sein, aus von ihm nachprüfbaren objektiven Merkmalen die Folgerung zu ziehen, daß der Versicherungsträger als "überzeugt" zu gelten hat. Dies darf andererseits nicht dazu führen, daß das Gericht die Überzeugung des Versicherungsträgers ohne weiteres durch seine eigene Überzeugung oder Rechtsauffassung ersetzt; anderenfalls wären die Vorschriften über die Wiederaufnahme sowohl des Verwaltungsverfahrens (§ 1744 RVO) als auch des gerichtlichen Verfahrens (§ 179 SGG) illusorisch und der Rechtsfrieden und die Rechtssicherheit in untragbarer Weise gefährdet. Bei sinnvoller Auslegung des Gesetzes muß eine gewisse Evidenz der Unrichtigkeit der von dem Verletzten beanstandeten Leistungsablehnung oder -entziehung gefordert werden. Der Senat hält es - im wesentlichen in Übereinstimmung mit der bisher vorliegenden Rechtsprechung und dem Schrifttum für geboten und ausreichend, den Versicherungsträger als von der Unrechtmäßigkeit der Ablehnung schon dann als "überzeugt" anzusehen, wenn die Unrechtmäßigkeit so offensichtlich ist, daß der Versicherungsträger dies bei der erneuten Prüfung - sei es auf Grund tatsächlicher Feststellungen, sei es auf Grund einer gesicherten Rechtsprechung - hätte erkennen müssen (vgl. Bayer. LSG, Breith. 1955, 259; 263; LSG Baden-Württemberg, Breith. 1961, 765; Brackmann aaO S. 602 b; RVO-Gesamtkommentar, § 1300 nF Anm. 4; Schieke, ZSR 1961, 714 ff; Jerosch - zu § 1300 RVO nF -, SGb 1959, 309, 310; Niemann, Die Sozialversicherung 1961, 292, 295).
Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit oder Unrechtmäßigkeit des Bescheides der Beklagten vom 16. Dezember 1938 kommt es auf den Rechtszustand nach der Vierten Notverordnung an. Nach deren § 1 im Fünften Teil Kapitel II Abschnitt 1 kann der Schadensersatz ganz oder teilweise versagt werden, wenn bei der Entstehung eines Unfalls auf dem Wege nach oder von der Arbeitsstätte ein Verschulden des Versicherten mitgewirkt hat. Diese Vorschrift ist zwar durch Art. 1 Nr. 7 des Fünften Gesetzes über Änderungen in der Unfallversicherung vom 17. Februar 1939 (RGBl I, 267) auf Fälle grober Fahrlässigkeit beschränkt und vom 1. Juni 1949 an durch § 9 des Gesetzes über Verbesserungen der gesetzlichen Unfallversicherung vom 10. August 1949 (WiGBl S. 251) völlig beseitigt worden, so daß nunmehr - wie auch vor dem Inkrafttreten der Vierten Notverordnung - Entschädigungsansprüche nur dann abgelehnt werden dürfen, wenn der Verletzte den Unfall vorsätzlich herbeigeführt hat (§ 556 RVO). Die beiden angeführten Gesetze von 1939 und 1949 haben sich aber weder ausdrücklich rückwirkende Kraft beigelegt noch sind sonstige Anhaltspunkte für eine vom Gesetzgeber gewollte Rückwirkung vorhanden. Die Ansprüche des Klägers sind daher nach dem Recht zur Zeit ihrer Entstehung zu beurteilen. Die Gesetzesänderungen der Jahre 1939 und 1949 machen den Bescheid vom 16. Dezember 1938 nicht unrichtig im Sinne des § 619 RVO (vgl. Brackmann aaO S. 602; Lauterbach aaO § 619 Anm. 1; Schieke, ZSR 1961, 714; Schönberger, Die Sozialversicherung 1957, 241, 242; Kornblum, JZ 1962, 654 ff.).
Die Vierte Notverordnung stellt es in das Ermessen des Versicherungsträgers, den Entschädigungsanspruch ganz oder teilweise zu versagen, wenn bei der Entstehung des Unfalls ein Verschulden des Verletzten mitgewirkt hat. Zu dieser Vorschrift hat die Rechtsprechung - ebenso wie zu § 557 Abs. 1 RVO, der die Versagung des Schadensersatzes als zulässig bezeichnet, wenn der Verletzte sich den Unfall beim Begehen einer Handlung zugezogen hat, die nach strafgerichtlichem Urteil ein Verbrechen oder vorsätzliches Vergehen ist - von jeher die Rechtsmittelinstanzen befugt gehalten, in eine Nachprüfung des Verschuldens und auch seines Grades einzutreten und demgemäß den Schadensersatz ganz oder teilweise zu versagen (RVA, AN 1902, 464; RVA, EuM Bd. 37, 12 und Bd. 49, 139; Bayer. LVAmt, EuM Bd. 37, 10 und Mitt. des Bayer. LVAmts 1934, 42 Nr. 1650; vgl. auch Röwer, BG 1931 Sp. 649 ff; Behrend, BG 1932, Sp. 177 ff; Stahl, BG 1934, 3 ff). Diese Auffassung trifft auch nach dem Inkrafttreten des SGG noch zu. Die Frage, ob und inwieweit ein Verschulden des Verletzten zum Unfall beigetragen hat, ist eine von den Gerichten - auch in der Revisionsinstanz - nachzuprüfende Rechtsfrage. Nachprüfbar ist auch die Ausübung des Ermessens des Versicherungsträgers, den Schadensersatz beim Vorliegen der angeführten Voraussetzungen der Vierten Notverordnung ganz oder teilweise zu versagen. Allerdings ist die Ausübung dieses Ermessens nur dann rechtswidrig, wenn die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist (§ 54 Abs. 2 SGG).
Die Voraussetzungen, unter denen der Kläger hiernach auf Grund des § 619 RVO eine ihn begünstigende Neufeststellung seiner Entschädigungsansprüche hätte verlangen können, liegen nicht vor. Bei der Prüfung dieser Voraussetzungen war der Senat an die in dem angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen gebunden, weil in Bezug auf sie zulässige und begründete Revisionsgründe nicht vorgebracht worden sind (§ 163 SGG). Vor allem ist die Rüge nicht begründet, das LSG hätte zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts den Kläger anhören müssen. Dieser Maßnahme bedurfte es nicht, weil der Kläger wenige Tage nach dem Unfall von der Stadtpolizei Aschaffenburg sehr eingehend und drei Wochen später noch einmal von einem Beamten der Stadtverwaltung Aschaffenburg vernommen worden ist; die Niederschriften dieser Vernehmungen haben - zusammen mit den Bekundungen des beteiligten Lkw-Fahrers und seines Beifahrers - dem LSG vorgelegen. Es ist daher nicht ersichtlich, inwiefern eine nochmalige Anhörung des Klägers - nach 20 Jahren - zur weiteren Klärung des Sachverhalts geboten gewesen wäre, zumal da die Revision nicht substantiiert dargelegt hat, in welchen Punkten der Sachverhalt noch klärungsbedürftig und klärungsfähig sein soll. Auch die sonstigen Verfahrensrügen der Revision, auf die im Zusammenhang mit der sachlich-rechtlichen Würdigung des Klagebegehrens noch einzugehen sein wird, sind nicht begründet.
Die Entscheidung des LSG, daß die Beklagte, indem sie dem Kläger einen Entschädigungsanspruch völlig versagt hat, ihr pflichtgemäßes Ermessen nicht fehlerhaft ausgeübt habe, ist damit begründet, daß das Verhalten des Klägers beim Befahren der Johannesberger Straße in hohem Maße schuldhaft gewesen sei und daß die durch diese Fahrlässigkeit gesetzte Ursache alle anderen in Betracht kommenden Mitursachen, wie z. B. die Straßenbeschaffenheit und das schlechte Wetter, bei weitem überwogen habe. Diese rechtlichen Erwägungen entsprechen der Auslegung, welche § 1 im Fünften Teil Kapitel II Abschnitt 1 der Vierten Notverordnung in Anlehnung an die zu § 254 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) entwickelten Grundsätze in der Rechtsprechung des RVA erfahren hat (RVA, EuM Bd. 41, 4). Danach kommt es für den Umfang, in dem ein Versicherungsträger die Entschädigung versagen darf, auf den Grad der Fahrlässigkeit des Verletzten an und auf das Verhältnis, in dem die durch seine Fahrlässigkeit gesetzten Ursachen zu den sonstigen Mitursachen des Unfalls stehen. Das LSG hat es mit Recht als sehr schwerwiegende Fahrlässigkeit des Klägers angesehen, daß er in Kenntnis der schlechten Straßenverhältnisse und bei ungünstigem Wetter die abschüssige Straße mit "ziemlich hoher Geschwindigkeit" verbotswidrig auf der linken Straßenseite befahren hat, ohne dem Gegenverkehr die erforderliche Beachtung zu schenken. Daß der Kläger zur Zeit des Unfalls erst 14 Jahre alt war, hat das LSG ausdrücklich berücksichtigt. Dieser Umstand schloß die Feststellung nicht aus, daß der Kläger fähig gewesen sei, sich im Straßenverkehr ordnungsgemäß zu verhalten. Nach § 828 BGB, der auf die Fälle des Mitverschuldens nach § 254 BGB anwendbar ist (vgl. RGZ 59, 221; 68, 422; 156, 193, 202) und der, da § 1 der Vierten Notverordnung dem § 254 BGB nachgebildet ist, auch für die Auslegung der Notverordnung in seinem Grundgedanken Beachtung erfordert, sind Minderjährige vom siebenten bis zum achtzehnten Lebensjahr für Schäden, die sie einem anderen zufügen, grundsätzlich voll verantwortlich; anders ist es nur, wenn sie zur Zeit der schädigenden Handlung die zur Erkenntnis ihrer Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht nicht besaßen. Dementsprechend wäre auch das verkehrswidrige Verhalten des Klägers nur dann nicht als Verschulden im Sinne der Notverordnung zu werten, wenn ihm nach dem Stande seiner Entwicklung die erforderliche Einsichts- oder Willensfähigkeit gefehlt hätte. Für die Annahme solcher, das Verschulden ausschließender Umstände bot sich dem LSG kein Anhalt. Es konnte, wie es dies offenbar getan hat, aus allgemeinen Erfahrungssätzen, daß ein Vierzehnjähriger in der Regel die Fähigkeit besitzt, das Unrechtmäßige des von dem Kläger gezeigten Verhaltens im Verkehr einzusehen (vgl. Das Bürgerliche Gesetzbuch, Kommentar, herausgegeben von Reichsgerichtsräten und Bundesrichtern 1953, § 828 Anm. 3). Die Revision hat nicht substantiiert dargetan, aus welchem besonderen Grunde das LSG sich hätte veranlaßt sehen müssen, im vorliegenden Falle nähere Feststellungen über den Entwicklungsgrad des Klägers zu treffen. Dies war umso weniger geboten, als nach einer in den Verwaltungsakten befindlichen Abschrift eines Berichts der Gendarmerie-Station Mömbris vom 19. Oktober 1938 der Lehrer ... angegeben hatte, der Kläger sei nach seiner geistigen und sittlichen Entwicklung in der Lage gewesen, das Ungesetzliche seiner Tat einzusehen und seinen Willen dieser Einsicht gemäß zu bestimmen. Die Rüge der Revision, das LSG habe seine Pflicht zur ausreichenden Erforschung des Sachverhalts verletzt, ist daher auch insoweit unbegründet. Für das Ausmaß des Verschuldens des Klägers ist es unerheblich, daß - worauf die Revision hingewiesen hat - die zur Zeit des Unfalls geltende Straßenverkehrsordnung noch nicht ein Jahr in Kraft gewesen sei; die von dem Kläger nicht beachteten Vorschriften, vor allem das Gebot des Rechtsfahrens, waren schon in der Reichsstraßenverkehrsordnung vom 28. Mai 1934 (RGBl I, 457) enthalten (§ 26 Abs. 2). Schließlich wird das Verschulden des Klägers auch nicht dadurch gemindert, daß ebenso wie er auch andere Verkehrsteilnehmer die linke Straßenseite benutzt haben mögen und der Straßenverkehr im Jahre 1938 möglicherweise wesentlich geringer war als heute. Selbst wenn man das dahingehende Vorbringen der Revision als richtig unterstellt, war der Kläger verpflichtet, seine Geschwindigkeit den Straßen- und Witterungsverhältnissen anzupassen und vor allem, da er die linke Fahrbahn benutzte, ständig auf den Gegenverkehr zu achten, um notfalls rechtzeitig ausweichen zu können. Nähere Feststellungen über die Stärke des Verkehrs auf der Johannesberger Straße und über die Fahrweise der stadteinwärts fahrenden Verkehrsteilnehmer bedurfte es daher nicht.
Gegenüber dem vom LSG zutreffend als in hohem Maße schuldhaft gewerteten Verhalten des Klägers kamen als Mitursachen des Unfalls die Straßenbeschaffenheit und die schlechten Witterungsverhältnisse in Betracht. Die Betriebsgefahr des Lkw, auf den der Kläger aufgefahren ist, hat das LSG mit Recht unberücksichtigt gelassen, weil dieses Fahrzeug schon zum Stehen gekommen war und auch in seiner vorausgegangenen - vorschriftsmäßigen - Bewegung die Fahrweise des Klägers nicht beeinflußt hatte; es kann daher hinsichtlich seiner Mitwirkung zum Zustandekommen des Unfalls nicht wesentlich anders betrachtet werden als ein am Straßenrand abgestelltes Fahrzeug.
Bei der Abwägung der verschiedenen Mitursachen, die zum Zustandekommen des Unfalls beigetragen haben, hat das LSG ohne Rechtsirrtum dem schuldhaften Verhalten des Klägers eine weitaus überwiegende Bedeutung beigemessen. Dies rechtfertigt die Auffassung, daß der Entschädigungsanspruch des Klägers mehr als zur Hälfte versagt werden durfte. Ob nun dem Kläger ein Entschädigungsanspruch zu einem Drittel oder einem Viertel zuzuerkennen oder dieser ganz zu versagen war, lag innerhalb des Ermessensspielraums, welcher der Beklagten nach dem Recht der Vierten Notverordnung zur Verfügung stand. Jedenfalls bedeutete der relativ strenge Maßstab, den die Beklagte mit der völligen Versagung des Entschädigungsanspruchs angelegt hat, nicht eine so offensichtliche Benachteiligung des Klägers, daß die Beklagte sich bei der erneuten Prüfung des Falles im Jahre 1954 von der Unrechtmäßigkeit der Ablehnung vernünftigerweise hätte überzeugen müssen. Der Anspruch des Klägers auf Erteilung eines ihn begünstigenden Bescheides ist daher nicht gerechtfertigt.
Hiernach mußte die Revision des Klägers als unbegründet zurückgewiesen werden.
Sollte der Entwurf des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes in der Fassung der Bundestags-Drucksache IV/120 Gesetz werden, so wird der Kläger nach dessen Art. 3 § 3 Abs. 2 beantragen können, die ihm auf Grund des § 1 im Fünften Teil Kapitel II Abschnitt 1 der Vierten Notverordnung versagte Entschädigungsleistung mit Wirkung vom 1. Januar 1963 an voll zu gewähren.
Die Entscheidung über die Kosten ergeht in Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen