Leitsatz (amtlich)

1. SGG § 88 Abs 2 eröffnet nicht die Aufhebungsklage gegen den mit dem Widerspruch angegriffenen Verwaltungsakt, sondern die Untätigkeitsklage.

2. Einer Neufeststellung gemäß RVO § 619 steht es nicht entgegen, daß über den Leistungsanspruch bereits durch rechtskräftiges Urteil entschieden worden war.

3. Zum Umfang der Sachaufklärungspflicht bei der erneuten Prüfung des Entschädigungsanspruchs gemäß RVO § 619.

 

Normenkette

RVO § 619 Fassung: 1924-12-15; SGG § 88 Abs. 2, §§ 103, 141

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Schleswig vom 18. September 1958 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Die Kläger sind die Witwe und der Sohn des im Februar 1910 geborenen Schlossers Hans Sch (Sch.), der seit 1937 bei der D AG, Werk K. bei Geesthacht, beschäftigt war und am 24. Oktober 1939 im Krankenhaus St. G. in Hamburg verstorben ist. In dieses Krankenhaus war Sch. am 19. Oktober 1939 auf Veranlassung seines Hausarztes Dr. H wegen schwerer eitriger Luftröhrenentzündung eingeliefert worden. Sch. wurde nicht obduziert. Die Beklagte lehnte den Entschädigungsantrag der Kläger durch Bescheid vom 25. November 1941 ab. Grundlagen des Bescheids waren Gutachten des St. G.-Krankenhauses (Prof. Dr. H, Dr. Sch) und des Gewerbearztes. Während Prof. Dr. H noch in einem Schreiben vom 30. März 1940 eine Schädigung des Sch. durch Einatmen nitroser Gase als durchaus möglich bezeichnet hatte - Diphtherie, Lungenentzündung, Tbc., Mediastinitis waren klinisch ausgeschlossen worden -, gelangte das von ihm mitgezeichnete Gutachten vom 26. Oktober 1941 zu dem Ergebnis, die Todesursache sei ungeklärt, eine Nitrosegasvergiftung sei aber mit Wahrscheinlichkeit auszuschließen. Zu demselben Ergebnis kamen Gutachten von Prof. Dr. Sch und Prof. Dr. H Das Oberversicherungsamt (OVA) Schleswig wies am 16. September 1943 die Berufung der Kläger zurück; es nahm auf Grund der Aussagen der Zeugen E und W sowie der Auskunft der Firma D AG an, daß sich der Tag des von den Klägern behaupteten Unfallereignisses - Betriebsgang des Sch. auf dem Werksgelände in der Nähe eines übergelaufenen Kesselwagens mit Mischsäure - nicht genau feststellen lasse, jedoch erheblich vor Anfang September 1939 liege. Der zugelassene Rekurs der Kläger wurde vom Reichsversicherungsamt (RVA) am 18. Mai 1944 durch Entscheidung des Vorsitzenden zurückgewiesen: Nach ärztlicher Erfahrung habe eine durch das einmalige Einatmen von Nitrosegasen verursachte Erkrankung der tieferen Luftwege schwere, höchst dramatische Krankheitserscheinungen und alarmierende Gesundheitsstörungen zur Folge, die in kurzer Zeit, höchstens nach wenigen Stunden aufträten, von dem Betroffenen nicht als belanglos angesehen werden könnten und ihn oder seine Umgebung zur sofortigen Hinzuziehung eines Arztes zwängen. Von einem solchen Krankheitsbild sei aber im vorliegenden Fall nicht die Rede. Weder sei von einem Zeugen etwas Derartiges beobachtet worden noch habe Sch. selbst jemals von solchen Krankheitserscheinungen gesprochen. Im Gegenteil habe er bei seiner Aufnahme in das Krankenhaus den Beginn und Verlauf seiner Erkrankung wesentlich anders geschildert. Auch dem erstmals am 9. Oktober 1939 aufgesuchten Hausarzt Dr. H gegenüber habe Sch. nichts davon erwähnt, daß er irgendwelche Gase eingeatmet habe, er hätte es aber wohl kaum unterlassen, den Arzt zu unterrichten, wenn sich dies erst wenige Tage vorher ereignet hätte. Im übrigen sei es aber auch nach den Bekundungen der anderen Zeugen und den Feststellungen des Betriebes viel wahrscheinlicher, daß der als Unfall angeschuldigte Vorgang wesentlich weiter zurückliege. Angesichts dieser dargelegten Umstände könne es jedenfalls nicht als erwiesen oder auch nur als hinreichend wahrscheinlich angesehen werden, daß ein Unfall der angegebenen Art die Ursache der Erkrankung gewesen sei, die am 24. Oktober 1939 zum Tode des Sch. geführt habe.

Bemühungen der Kläger in der Nachkriegszeit, ihre Ansprüche erneut geltend zu machen, blieben erfolglos. Ein dem Bundessozialgericht (BSG) vorgelegter Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens (2 RU 96/55) wurde im August 1955 zurückgenommen.

Mit Schreiben vom 24. August 1956 beantragte die Klägerin zu 1), die Beklagte möge den Anspruch auf Witwen- und Waisenrente gemäß § 619 der Reichsversicherungsordnung (RVO) erneut überprüfen und hierüber einen rechtsmittelfähigen Bescheid erteilen. Sie verwies auf schriftliche Erklärungen von vier Arbeitskameraden des Sch. namens St, St, E und P vom 30. Juli 1954 sowie ein Schreiben des Dr. med. H vom 2. August 1954. In diesen Bescheinigungen erklärten St und St übereinstimmend, Sch. sei am Vormittag des 16. Oktober 1939 an dem übergelaufenen Kesselwagen, dem rote Dämpfe entwichen, vorbeigekommen, habe sofort starke Atmungsbeschwerden gehabt, sei zwar am nächsten Morgen noch zur Arbeit erschienen, wegen seines schlechten Befindens aber mittags zum Arzt gegangen. E gab kein genaues Datum an, verlegte aber den Vorgang gleichfalls in den Oktober 1939. Dr. H bekundete, Sch. sei am 17. Oktober 1939 in seine Behandlung getreten wegen auffallender Heiserkeit, Husten, Atemnot und Cyanose. Die Beklagte schrieb der Klägerin zu 1) am 31. August 1956 formlos, die Voraussetzungen eines Bescheids gemäß § 619 RVO lägen nicht vor. Aus dem Inhalt der rekonstruierten Akten ergebe sich kein Zweifel, daß der vom RVA bestätigte Ablehnungsbescheid zutreffend gewesen sei; auch die eingereichten schriftlichen Zeugenerklärungen gäben keinen Anlaß zu solchen Zweifeln. Die Klägerin zu 1) erhob hiergegen mit Schreiben vom 5. Oktober 1956 Widerspruch. Die Beklagte erwiderte mit formlosem Schreiben vom 10. Oktober 1956, gegen das lediglich eine Rechtsauskunft enthaltende Schreiben vom 31. August 1956 sei kein Rechtsmittel gegeben. Für die Beklagte bestehe kein Grund, auf die rechtskräftig abgelehnten Ansprüche nochmals einzugehen und auf das Widerspruchsschreiben vom 5. Oktober 1956 irgendetwas zu veranlassen.

Mit der am 27. November 1956 beim Sozialgericht (SG) Lübeck erhobenen Klage haben die Kläger beantragt, die Beklagte für verpflichtet zu erklären, ihnen gemäß § 619 RVO einen neuen Bescheid über Hinterbliebenenrente zu erteilen. Das SG hat gemäß § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ein Gutachten von Obermedizinalrat Dr. Sch, Hamburg, beigezogen, dem die Frage gestellt war, ob der Tod des Sch. mit Wahrscheinlichkeit durch einen Betriebsunfall, nämlich das Einatmen giftiger Gase, verursacht worden sei. Dr. Sch führte aus, wenn aus den neuen Zeugenbekundungen gefolgert werden dürfe, daß Sch. am 16. Oktober 1959 nitrose Gase eingeatmet habe, sei sein Tod als Unfallfolge anzusehen. Bei der Einwirkung von nitrosen Gasen sei eine symptomfreie Latenzzeit von 10 bis 12, evtl. sogar 30 Stunden typisch, nach deren Ablauf erst der zur sofortigen Arbeitsunfähigkeit führende schwere Krankheitszustand eintrete. Verlauf und Symptomatologie bei Sch. entsprächen dieser im klinischen Schrifttum beschriebenen Vergiftungsart. Bei Zugrundelegung der im früheren Verfahren festgestellten Daten allerdings müsse die Zusammenhangsfrage verneint werden. In Betracht komme auch eine wesentliche Verschlimmerung einer etwa schon vor dem 16. Oktober 1939 vorhanden gewesenen Bronchitis durch Einatmung nitroser Gase. Eine chronische Vergiftung durch nitrose Gase wäre nicht als Berufskrankheit anzusehen.

Das SG hat am 14. März 1958 die Klage abgewiesen:

Man könne wohl die Möglichkeit eines ursächlichen Zusammenhanges des Todes mit einer Gasvergiftung bejahen; ausreichende Gründe für die Annahme, die früheren Entscheidungen seien unrichtig gewesen, wären aber jetzt nach 18 Jahren nicht mehr zu gewinnen; allein eine Obduktion hätte Klarheit über die Todesursache erbringen können. Die Beklagte habe bei ihrer Ablehnung, einen Bescheid nach § 619 RVO zu erteilen, keinen Ermessensfehler begangen.

Mit ihrer Berufung haben die Kläger beantragt, das Urteil des SG aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, den Klägern unter Aufhebung des Bescheids vom 25. November 1941 einen neuen Bescheid über die Feststellung der Hinterbliebenenbezüge gemäß § 619 RVO zu erteilen. Das Landessozialgericht (LSG) hat für die mündliche Verhandlung am 18. September 1958 als Sachverständigen zunächst den Internisten Prof. Dr. C bestellt; durch Verfügung des Vorsitzenden vom 15. September 1958 sind an seiner Stelle der Landesgewerbearzt Dr. B und Dr. Sch (§ 109 SGG) zu Termingutachtern bestellt worden. In der Niederschrift über die Sitzung am 18. September 1958 heißt es nach der Protokollierung der Anträge:

"Die Parteien sind sich darüber einig, daß gegen das Fehlen eines Vorverfahrens in diesem Fall keine Bedenken zu erheben sind.

Beschlossen und verkündet: Als medizinischer Sachverständiger soll Landesgewerbearzt Dr. B gehört werden, anschließend Ob-Med. Rat Dr. Sch.

Beide Sachverständige äußerten sich gutachtlich. Der Sachverständige Landesgewerbearzt Dr. B wird gebeten, eine schriftliche Zusammenfassung seines mündlichen Vortrages zu den Akten nachzureichen. Der Sachverständige Ob-Med. Rat Dr. Sch, Amtsarzt in Hamburg, äußerte sich kritisch zu dem Gutachten des Landesgewerbearztes Dr. B und bezog sich dabei im wesentlichen auf sein in erster Instanz erstelltes Gutachten vom 9. Dezember 1957.

Der in der mündlichen Verhandlung von Anfang an anwesende Facharzt für innere Medizin, Professor Dr. C, Lübeck, wurde zu den beiden vorliegenden Gutachten ebenfalls gehört. Er äußerte sich zur Sache und betonte dabei, daß so massive Stenoseerscheinungen, wie sie in diesem Fall vorgelegen haben, nach seiner Erfahrung bei Bronchitis äußerst selten sind."

Hierauf folgt der Vermerk über Beratung und Verkündung des Urteils, mit dem die Berufung zurückgewiesen worden ist.

Dr. B bat mit Schreiben vom 26. September 1958 um Übersendung der Aktenunterlagen zwecks Anfertigung seines schriftlichen Gutachtens. Am 28. Oktober 1958 erinnerte ihn das LSG an die Rückgabe der Akten mit dem schriftlichen Gutachten, damit das Urteil abgesetzt werden könne. Das Gutachten ging am 17. November 1958 beim LSG ein.

Zur Begründung seines Urteils hat das LSG ausgeführt:

Die Klage sei trotz fehlenden Vorverfahrens zulässig; bei der hier vorliegenden Klage auf Verurteilung zum Erlaß eines unterlassenen Verwaltungsakts sei § 79 Nr. 2 SGG nicht anwendbar, da sonst die beklagte Verwaltungsbehörde sich ihren Verpflichtungen durch bloßes Schweigen entziehen könnte. Abzulehnen sei die Ansicht der Kläger, für einen neuen Bescheid gemäß § 619 RVO genüge bereits eine hinreichende Erfolgsaussicht (analog § 114 Abs. 1 ZPO), und auf Grund dieses Verfahrens müsse ein formeller - positiver oder negativer - Bescheid ergehen, welcher die gerichtliche Überprüfung des Sachverhalts gestatte. Diese Auffassung, nach welcher der Neufeststellung ein besonderes Verfahren vorangehen müsse, finde in § 619 RVO keine Stütze. Die BG sei lediglich befugt und verpflichtet, die Leistungen neu festzustellen, nachdem sie nach erneuter Prüfung die Überzeugung von der Unrichtigkeit ihres Ablehnungsbescheids gewonnen habe. Der Umfang, bis zu dem diese Prüfung neu vorgebrachter Umstände auszudehnen sei, stehe im pflichtgemäßen, nach § 54 Abs. 2 SGG nachprüfbaren Ermessen der BG. Zur Erteilung eines neuen ablehnenden Bescheids sei der Versicherungsträger hingegen nicht verpflichtet.

Mit Recht habe die Beklagte geltend gemacht, daß sie den jetzt vorgelegten Angaben der vier Arbeitskameraden des Sch. vom 30. Juli 1954 keinen Beweiswert beimessen könne. Diese Angaben stünden nämlich in Widerspruch zu der früheren Aussage des E im Verfahren vor dem OVA. Diese Widersprüche reichten aus, um entscheidende Zweifel bei der Beklagten an der Richtigkeit der neuen Angaben zu begründen, um so mehr, als das OVA bereits vor 15 Jahren vergeblich versucht habe, den Unfallzeitpunkt festzustellen. Schließlich habe auch Sch. selbst damals weder seinem behandelnden Arzt Dr. H noch den Ärzten des Krankenhauses St. G. irgendetwas über das Einatmen von nitrosen Gasen mitgeteilt. Auch die ärztliche Bescheinigung des Dr. H vom 2. August 1954 dürfe von der Beklagten nur mit erheblicher Vorsicht gewürdigt werden. Hiernach habe die Beklagte eine weitere Nachprüfung, insbesondere eine Vernehmung der angebotenen Zeugen als entbehrlich ansehen dürfen.

Wenn nun schon die Ausführungen und das vorgelegte Beweismaterial der Kläger nicht ausreichend erschienen seien, um bei der Beklagten die Überzeugung von der Unrichtigkeit des Ablehnungsbescheides zu wecken, so sei das Ergebnis der gerichtlichen Beweisaufnahmen erst recht nicht dazu geeignet gewesen. Der Gewerbearzt Dr. B habe in seinem auf die Krankenpapiere des Krankenhauses St. G. gestützten Gutachten überzeugend ausgeführt, daß die Ursache für den plötzlichen Tod des Sch. nicht eine Nitrosegasvergiftung gewesen sein könne. Die Beschränkung dieses Gutachtens auf die alten Beweisunterlagen sei bedenkenfrei, da dieses Material unangefochten sei, während gegen die genauen Zeitangaben, die von den jetzt benannten Zeugen gemacht würden, begründete Zweifel beständen. Demgegenüber habe Dr. Sch übersehen, daß Sch. nach den Angaben in der Krankengeschichte schon vor dem 16. Oktober 1939 nicht gesund gewesen sei, sondern seit Wochen an fieberhafter Bronchitis gelitten habe; auch die Darlegungen des Dr. Sch. zur Dauer der Latenzzeit seien nicht überzeugend. Selbst wenn aber eine Einatmung von nitrosen Gasen am 16. Oktober 1939 und eine Latenzzeit von 30 Stunden unterstellt würden, hätten spätestens am Abend des 17. Oktober 1939 die bei einer Gasvergiftung zu erwartenden dramatischen Krankheitserscheinungen eintreten müssen. Da aber Sch. nach seinen eigenen Angaben im Krankenhaus St. G. schon seit 10 Tagen an Atemnot gelitten habe, sei ein plötzliches dramatisches Krankheitsgeschehen nicht erkennbar, vielmehr habe sich eine laufende allmähliche Verschlechterung des Befindens gezeigt. Nach alldem bestünden auch jetzt noch in mehrfacher Hinsicht erhebliche Zweifel daran, daß der Tod des Sch. auf eine Gasvergiftung zurückzuführen sei. Die Beklagte könne daher auch und sogar erst recht nach den neuen vorhandenen Unterlagen ohne Ermessensmißbrauch davon ausgehen, daß sie durch ihren rechtskräftig gewordenen Bescheid vom 25. November 1941 mit Recht die Gewährung einer Unfallentschädigung abgelehnt habe. Sie könne daher nicht zur Erteilung eines neuen Bescheid nach § 619 RVO verurteilt werden.

Das LSG hat die Revision nicht zugelassen.

Das Berufungsurteil ist dem Prozeßbevollmächtigten der Kläger am 8. Dezember 1958 zugestellt worden. Die Kläger haben am 17. Dezember 1958 die Bewilligung des Armenrechts beantragt und die behördlichen Zeugnisse vorgelegt. Durch Beschluß vom 17. Oktober 1961 - zugestellt am 25. Oktober 1961 - hat der Senat der Klägerin zu 1) das Armenrecht bewilligt und Rechtsanwalt Dr. L, Hamburg, als Prozeßbevollmächtigten beigeordnet; dem Kläger zu 2) wurde das Armenrecht wegen mangelnder Armut verweigert. RA Dr. L hat für beide Kläger am 1. November 1961 Revision eingelegt und sie - nach Fristverlängerung bis zum 25. Januar 1962 - am 5. Januar 1962 mit Rügen wesentlicher Verfahrensmängel begründet.

Die Kläger beantragen,

die Urteile des LSG und des SG aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, den Klägern unter Aufhebung der Bescheide vom 25. November 1941 und 31. August 1956 Hinterbliebenenrente ab 24. Oktober 1939 zu gewähren, und zwar der Klägerin zu 1) laufend, dem Kläger zu 2) bis zur Vollendung seines 18. Lebensjahres,

hilfsweise,

die Urteile des LSG und des SG aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, den Klägern unter Aufhebung des Bescheids vom 25. November 1941 einen neuen Bescheid über die Feststellung der Hinterbliebenenbezüge gemäß § 619 RVO zu erteilen,

hilfsweise schließlich,

das Urteil des LSG aufzuheben und den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt Verwerfung, hilfsweise Zurückweisung der Revision. Sie meint, die von der Revision gerügten Verfahrensverstöße seien jedenfalls keine wesentlichen Mängel. Im übrigen stehe dem Klagbegehren das rechtskräftige Urteil des RVA vom 18. Mai 1944 entgegen, an dem auch mit einem Antrag gemäß § 619 RVO nicht vorbeizukommen sei. Beharre die Beklagte auf dieser rechtskräftigen Entscheidung, so könne sie niemals der Vorwurf des Ermessensmißbrauchs bei Anwendung des § 619 RVO treffen.

Die Beteiligten haben sich gemäß § 124 Abs. 2 SGG mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

II

Bis zur Entscheidung über das rechtzeitig gestellte Armenrechtsgesuch waren die Kläger - und zwar der Kläger zu 2) jedenfalls infolge seiner Annahme, arm zu sein (vgl. SozR SGG § 67 Bl. Da 23 Nr. 34) - ohne ihr Verschulden verhindert, die Fristen für die Einlegung und Begründung der Revision (§ 164 Abs. 1 Satz 1 SGG) einzuhalten. Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand konnten sie auch nach Ablauf der Jahresfrist des § 67 Abs. 3 SGG wirksam beantragen (vgl. SozR SGG § 67 Bl. Da 15 Nr. 22); dem in der Revisionsschrift enthaltenen Wiedereinsetzungsantrag war somit stattzugeben. Demgemäß ist die Revision als form- und fristgerecht eingelegt und begründet zu behandeln. Sie ist auch statthaft, da einige der gerügten wesentlichen Mängel des Berufungsverfahrens vorliegen (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG, vgl. BSG 1, 150). Die Mängel betreffen das Verfahren des LSG bei der Erhebung und Würdigung der Beweise.

Insoweit rügt die Revision zutreffend, daß die von den Sachverständigen Dr. B, Prof. Dr. C und Dr. Sch in der mündlichen Verhandlung am 18. September 1958 gemachten Äußerungen in der Sitzungsniederschrift nicht wiedergegeben worden sind. Damit hat das LSG gegen § 122 Abs. 3 SGG in Verbindung mit § 160 Abs. 2 Nr. 3 ZPO verstoßen. Wie der erkennende Senat entschieden hat (BSG 16, 236), ist allerdings im Verfahren vor dem LSG § 161 ZPO anwendbar, nach dem die Aussage eines vor dem LSG vernommenen Sachverständigen nicht im Protokoll festgestellt zu werden braucht. Die Aussage muß dann indessen im Berufungsurteil selbst vollständig und zusammenhängend wiedergegeben werden. Auch das ist im vorliegenden Fall vom LSG unterlassen worden, so daß ein ausreichender Ersatz für die fehlende Protokollierung nicht gegeben ist.

Von gleicher Tragweite ist der ebenfalls gerügte Verstoß gegen § 128 Abs. 2 SGG, den das LSG dadurch begangen hat, daß es das erst im November 1958, also fast zwei Monate nach der Urteilsverkündung ausgearbeitete schriftliche Gutachten des Landesgewerbearztes Dr. B zur Begründung des angefochtenen Urteils heranzog. Zu diesem Gutachten konnten sich die Beteiligten nicht mehr äußern. Durch die Verwertung des Gutachtens bei der Urteilsbegründung hat das LSG die Grenzen seines Rechts auf freie Beweiswürdigung überschritten und zugleich den Grundsatz des rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG) verletzt. Ob hierin außerdem - wie die Revision unter Bezugnahme auf BSG 7, 230 meint - ein Verstoß gegen § 129 SGG zu erblicken ist, braucht nicht geprüft zu werden, da das angefochtene Urteils bereits aus den bisher erörterten verfahrensrechtlichen Gesichtspunkten keinen Bestand haben kann.

Auf die statthafte Revision bedarf es dagegen nunmehr der Prüfung, ob die unverzichtbaren Prozeßvoraussetzungen gegeben sind (vgl. BSG 2, 225; 2, 245, 253). Dies erfordert eine - vom LSG nicht vorgenommene - Untersuchung der Fragen, welcher Art die erhobene Klage ist und welche Bedeutung dem Umstand zukommt, daß auf den von den Klägern eingelegten Widerspruch bisher kein Bescheid der Beklagten ergangen ist.

Das Verlangen der Kläger, die Beklagte möge gemäß § 619 RVO eine neue Feststellung über die Ansprüche auf Hinterbliebenenentschädigung treffen, hat die Beklagte mit ihrem Schreiben vom 31. August 1956 abgelehnt. Der Umstand, daß dieses Schreiben nicht in der Form eines Bescheids erging, hindert nicht, es als Verwaltungsakt anzusehen (vgl. LSG Baden-Württemberg, Breithaupt 1961, 764). In zutreffender Erkenntnis der Notwendigkeit eines Vorverfahrens (§ 79 Nr. 2 SGG, vgl. BSG, Urteil des 2. Senats vom 29.3.1963, 2 RU 234/59; ferner Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1.-6. Aufl., Stand Januar 1963, S. 602 b mit weiteren Nachweisen) haben die Kläger hiergegen Widerspruch eingelegt, der trotz des Fristablaufs (§ 84 Abs. 1 SGG) als zulässig zu behandeln war, da der Verwaltungsakt keine Belehrung über den Rechtsbehelf enthielt (§ 66 SGG). Nachdem sich die Beklagte hierauf - ohne ihre Widerspruchsstelle (§ 85 Abs. 2 Nr. 2 SGG) einzuschalten - lediglich mit einem Schreiben der Verwaltung vom 10. Oktober 1956 geäußert hatte, in dem sie erklärte, auf den Widerspruch nichts veranlassen zu wollen, haben die Kläger das SG angerufen. Die Gründe des angefochtenen Urteils lassen nicht zweifelsfrei erkennen, wie das LSG diese Klage beurteilt hat; die Ausführungen des LSG erscheinen z. T. auf eine Untätigkeitsklage, an anderer Stelle jedoch auf eine Aufhebungs- und Verpflichtungsklage abgestellt zu sein. Diese von der Revision mit Recht bemängelte Unklarheit hat zur Folge, daß der Rechtsstreit bei seinem gegenwärtigen Stand nicht in jeder Beziehung spruchreif ist.

Eine Aufhebungs- und Leistungsklage, wie sie im Hauptantrag der Revision zum Ausdruck gelangt, müßte bei einem Klagbegehren, welches auf eine Neufeststellung gemäß § 619 RVO gerichtet ist, von vornherein als unzulässig erachtet werden (vgl. BSG, 4. Senat, Urteil vom 18.11.1960, Breith. 1961, 342, Brackmann aaO S. 602 b; and. Meinung Bayer. LSG, Bayer. Amtsblatt 1962 S. B 81). In Betracht käme vielmehr lediglich eine Aufhebungs- und Verpflichtungsklage, diese jedoch auch nur dann, wenn das notwendige Vorverfahren stattgefunden hat (vgl. 2. Senat, Urteil vom 29.3.1963, Brackmann aaO S. 602 a). Da nun die Beklagte im vorliegenden Fall die Durchführung des Vorverfahrens verweigert und einen Widerspruchsbescheid nicht erteilt hat, verblieb den Klägern für ihr weiteres prozessuales Vorgehen nur der Klagweg aus § 88 Abs. 2 SGG. Dies bedeutet, wie das SG Duisburg (Breith. 1963, 186) mit Recht angenommen hat, daß die Kläger eine Untätigkeitsklage erheben, nicht aber gegen den Verwaltungsakt vom 31. August 1956 mit der Aufhebungsklage vorgehen konnten; die abweichende Ansicht (Peters/Sautter/Wolff, Komm. zur Sozialgerichtsbarkeit, 3. Aufl., Anm. 4 zu § 88 SGG S. II/7) berücksichtigt nicht ausreichend den engen Sinnzusammenhang, durch den § 88 Abs. 1 und 2 SGG miteinander verbunden sind.

Eine solche Untätigkeitsklage hätte nun freilich das LSG ohne weiteres als begründet ansehen und die Beklagte dementsprechend verurteilen müssen. Denn die Beklagte muß unter allen Umständen über den Widerspruch der Klägerin entscheiden; für ein untätiges Verhalten des Versicherungsträgers bleibt jedenfalls bei dem hier gegebenen Sachverhalt kein Raum, zumal da die Kläger ihren Neufeststellungsantrag auf neues Beweismaterial stützen, das sie der Beklagten vorgelegt haben.

Die von den Tatsacheninstanzen vorgenommenen Ermittlungen sind jedoch über dieses Stadium weit hinausgelangt. Der durch die Anhörung von Sachverständigen gewonnene Prozeßstoff gehört systematisch bereits in vollem Umfang zu den Grundlagen einer Aufhebungs- und Verpflichtungsklage. Man könnte unter diesen Umständen wohl in Erwägung ziehen, das fehlende Vorverfahren dadurch als entbehrlich zu erachten, daß man den Klagabweisungsantrag des Versicherungsträgers als Ersatz für den Widerspruchsbescheid behandelt (vgl. Haueisen, NJW 1961, 2329 ff zu Fußnoten 12 bis 20 mit weiteren Nachweisen; LSG Niedersachsen, Breith. 1962, 1114). Die hiergegen erhobenen verfahrensrechtlichen Bedenken (vgl. BSG 3, 293; 4, 246; 8, 3, 10; 9. Senat, Urteil vom 27.2.1963, 9 RV 262/59; Dapprich, DVBl 1960, 195; Stich, DVBl 1960, 378) lassen jedoch auch nach Auffassung des erkennenden Senats diesen - an sich praktikablen - Ausweg nicht gangbar erscheinen; daß auch übereinstimmende Erklärungen der Prozeßbeteiligten, wie sie hier in der Berufungsverhandlung abgegeben wurden, über das Fehlen des Widerspruchsbescheids nicht hinweghelfen, bedarf keiner näheren Darlegung (vgl. BSG 8, 9).

Da hiernach eine Entscheidung allein über die Untätigkeitsklage dem gegenwärtigen Stand des Verfahrens nicht mehr Rechnung tragen würde, eine Aufhebungs- und Verpflichtungsklage jedoch als unzulässig verworfen werden müßte, verbleibt als sinnvolle Lösung die Zurückverweisung der Sache an das LSG. Dieses wird im Laufe des erneuten Berufungsverfahrens zunächst die - auch dann noch zulässige (vgl. BSG 16, 21, 24) - Erteilung eines Widerspruchsbescheids durch die Beklagte zu veranlassen haben, um sich alsdann mit der Aufhebungs- und Verpflichtungsklage zu befassen, deren Zulässigkeit danach nichts mehr entgegensteht.

Hierbei wird das LSG zu beachten haben, daß der Antrag auf eine neue Feststellung nicht etwa dadurch ausgeschlossen ist, daß über die Hinterbliebenenansprüche früher nicht nur ein Ablehnungsbescheid der Beklagten ergangen ist, sondern auch die damaligen Spruchbehörden, zuletzt das RVA durch Entscheidung des Vorsitzenden vom 18. Mai 1944, erkannt haben. Die von der Beklagten in ihrer Revisionsbeantwortung vertretene Ansicht, § 619 RVO sei schlechthin nicht anwendbar in Fällen, in denen früher bereits das RVA über den streitigen Anspruch entschieden habe, wird weder durch den Wortlaut noch durch den Sinn dieser Vorschrift gestützt (vgl. Brackmann aaO S. 602; BSG 13, 181, 186).

Bezüglich der Erforschung des Sachverhalts erwecken die Gründe des angefochtenen Urteils den Eindruck, daß das LSG gemeint hat, eine Vernehmung der von den Klägern benannten Zeugen sei entbehrlich, vielmehr reiche es aus, wenn bei summarischer Abwägung ihrer schriftlichen Bekundungen mit den im früheren Verfahren getroffenen Feststellungen Zweifel bestehen blieben, ob die neuen Darstellungen über den Krankheitsverlauf und den zeitlichen Zusammenhang mit der Gaseinatmung zutreffen. Dies ist von der Revision mit Recht gerügt worden. Eine Vernehmung der Zeugen ist unumgänglich, denn sonst fehlt es - wie die Gutachten des Dr. Sch einerseits, des Dr. B andererseits erkennen lassen - an einer ausreichenden Beurteilungsgrundlage für die ärztlichen Sachverständigen. Eine das neu vorgelegte Beweismaterial voll ausschöpfende Sachaufklärung gehört notwendigerweise zu der erneuten Prüfung, deren Vornahme § 619 RVO dem Versicherungsträger auferlegt; einer solchen vollständigen Sachaufklärung bedürfen auch die Gerichte zur Ausübung der ihnen obliegenden Rechtskontrolle.

Sind die hiernach erforderlichen Ermittlungen nachgeholt worden, so wird das LSG hinsichtlich der Frage, ob der Klaganspruch begründet ist, von der Entscheidung des erkennenden Senats vom 29. März 1963 (2 RU 234/59) auszugehen haben. Danach ist der Versicherungsträger von der Unrechtmäßigkeit seiner früheren Ablehnung dann als "überzeugt" anzusehen, wenn die Unrechtmäßigkeit so offensichtlich ist, daß er dies bei der erneuten Prüfung hätte erkennen müssen.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil des LSG überlassen.

 

Fundstellen

BSGE, 164

NJW 1963, 2093

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