Entscheidungsstichwort (Thema)

Leistungspflicht der Rentenversicherungsträger im Rahmen der Tuberkulosehilfe

 

Leitsatz (amtlich)

Die Pflicht des Trägers der Rentenversicherung zur Tuberkulosebekämpfung beginnt schon bei Tuberkuloseverdacht, wenn deswegen eine Behandlung nach Maßgabe des RVO § 1244a im Interesse der Heilung des Kranken und des Schutzes seiner Umgebung vor Ansteckung (vgl BSHG § 48) geboten ist (Weiterführung von BSG 1971-11-24 4 RJ 275/71 = BSGE 33, 225).

 

Leitsatz (redaktionell)

Leistungen, die ein Rentenversicherungsträger im Rahmen der Tuberkulosehilfe (BSHG § 48) gewährt, sind keine Maßnahmen zur Erhaltung, Besserung und Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit iS von RVO § 1235 Nr 1, sondern dienen der Seuchenbekämpfung.

 

Normenkette

RVO § 1244a Fassung: 1959-07-23; BSHG § 48 Fassung: 1969-09-18; RVO § 1235 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 8. Juli 1970 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Die Klägerin, Träger der Rentenversicherung, begehrt von der beklagten Allgemeinen Ortskrankenkasse Ersatz der Kosten, die ihr aus Anlaß der stationären Tuberkulosebehandlung eines Versicherten entstanden sind.

Der Versicherte litt seit Sommer 1963 an einer Schwellung der rechten Halsseite. In der Folgezeit wurden nacheinander unterschiedliche Diagnosen gestellt. Eine Besserung des Gesundheitszustandes des Versicherten wurde durch die ärztlichen Behandlungen nicht erreicht.

Anfang 1965 schlug der Vertrauensärztliche Dienst der Klägerin - nach Rücksprache mit einem Lungenfacharzt - die alsbaldige Behandlung in einer Klinik für extrapulmonale Tbc vor. Nachdem auch der behandelnde Arzt des Versicherten - ein Facharzt für innere Krankheiten - dargetan hatte, daß sich der Verdacht auf Lymphknoten-Tbc verdichtet habe, gab die Klägerin durch Bescheid vom 2. Juni 1965 dem - vom zuständigen Amtsarzt befürworteten - Antrag des Versicherten auf stationäre Tuberkulosebehandlung gemäß § 1244 a der Reichsversicherungsordnung (RVO) statt. Die Behandlung wurde zunächst für die Dauer von sechs Wochen bewilligt, "vorbehaltlich der Feststellung des endgültigen Kostenträgers" und "unter der Voraussetzung, daß die Heilbehandlung wegen einer aktiven behandlungsbedürftigen Tuberkulose erforderlich" sei.

Die stationäre Tuberkulosebehandlung setzte am 9. Juni 1965 ein. Sie führte bis zum Beginn des folgenden Monats nicht zu dem angestrebten Erfolg. Die Klägerin verlängerte daraufhin, nachdem zwischenzeitlich ein Tuberkulin-Test positiv verlaufen war, die Dauer der Behandlung bis zum 21. Oktober 1965.

Am 1. September 1965 wurde der Versicherte aus der stationären Tuberkulosebehandlung entlassen. Der Verdacht auf eine Tuberkuloseerkrankung hatte sich nicht bestätigt. Er wurde vom 6. September 1965 an auf Kosten der Beklagten wegen Verdachts auf Kiemengangszyste weiterbehandelt.

Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte durch Urteil vom 24. Februar 1969 verpflichtet, der Klägerin die Kosten der stationären Behandlung des Versicherten in der Zeit vom 9. Juni bis 1. September 1965 zu erstatten.

Das Landessozialgericht (LSG) hat das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 8. Juli 1970). In den Entscheidungsgründen ist ua. ausgeführt: Im Interesse einer wirksamen und unverzüglichen Hilfe für den Versicherten müsse die Tuberkulosebehandlung frühzeitig einsetzen. Es komme darauf an, ob ärztlicherseits wegen des Tuberkuloseverdachts eine solche Behandlung für erforderlich gehalten werde. Diese Voraussetzung sei erfüllt gewesen.

Die Klägerin rügt mit der Revision, das Berufungsgericht habe § 1244 a RVO fehlerhaft ausgelegt. Die im Bundessozialhilfegesetz (BSHG) getroffene Regelung, wonach Tuberkulosebehandlung in Form von stationärer Beobachtung auch zur Klärung diagnostischer Fragen zu gewähren sei, könne nicht zu einer entsprechenden Interpretation des § 1244 a RVO führen. Die Anwendung dieser Vorschrift setze voraus, daß die Diagnose, es liege eine Tuberkuloseerkrankung vor, zweifelsfrei gesichert sei. Der bloße Verdacht auf eine solche Erkrankung reiche nicht aus. Dies ergebe sich aus der - sonst überflüssigen - Vorschrift des § 59 Abs. 1 BSHG, wonach bei Zweifeln hinsichtlich der Zuständigkeit der Träger der Sozialhilfe zur Vorleistung verpflichtet sei. Ebensowenig wie für die Leistungspflicht des Trägers der Unfallversicherung der Verdacht auf eine Berufskrankheit ausreiche, könne der bloße Verdacht auf Tuberkulose Grundlage für die Zuständigkeit des Rentenversicherungsträgers sein.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Bayerischen LSG vom 8. Juli 1970 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG München vom 24. Februar 1969 zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie weist darauf hin, daß die von der Klägerin vertretene Auffassung den Zweck des Gesetzes verfehle. Sie führe dazu, daß die Tuberkulosebehandlung häufig verspätet einsetze und der angestrebte Erfolg dadurch in Frage gestellt werde.

Die Revision hat keinen Erfolg, sie muß zurückgewiesen werden.

Eine Kostenerstattungspflicht der Beklagten könnte nur dann in Erwägung gezogen werden, wenn die Klägerin mit der Gewährung der stationären Tuberkulosebehandlung keine eigene Aufgabe erfüllt, sondern diese Leistung anstelle des Trägers der Krankenversicherung erbracht hätte. Der hierzu von der Klägerin vertretenen Auffassung vermag der Senat nicht zu folgen. Zwar schließt der Wortlaut des Gesetzes, der die Erkrankung an einer aktiven behandlungsbedürftigen Tuberkulose fordert (vgl. § 1244 a Abs. 1 RVO), die ihm von der Klägerin gegebene Auslegung nicht von vornherein aus. Der Zweck, der durch die Leistungen des § 1244 a RVO erreicht werden soll, gebietet jedoch eine andere Interpretation. Dies hat der Senat bereits in seiner Entscheidung vom 24. November 1971 (BSG 33, 225 = SozR Nr. 24 zu § 1244 a RVO) ausgesprochen. Dort ist darauf hingewiesen worden, daß die Träger der Rentenversicherung nach §§ 132 ff BSHG zu den sonstigen zur Tbc-Bekämpfung verpflichteten Stellen gehörten und daß ihnen deshalb die Aufgabe zukomme, die Heilung Tuberkulosekranker zu fördern und zu sichern sowie die Umgebung der Kranken gegen die Übertragung der Tuberkulose zu schützen (vgl. § 48 BSHG). Die Maßnahmen, die in diesem Zusammenhang zu ergreifen sind, können nicht der Rentenversicherung im eigentlichen Sinne zugeordnet werden. Sie dienen der Seuchenbekämpfung, nicht dagegen der Erhaltung, Besserung oder Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit (vgl. § 1235 Nr. 1 RVO). Ihre sinnvolle Anwendung erfordert es, damit nicht erst dann einzusetzen, wenn jeder Zweifel hinsichtlich der Diagnose ausgeschlossen ist. Ein solches Verfahren würde die Heilung des Kranken gefährden und einen wirksamen Schutz seiner Umgebung - und damit der Allgemeinheit - vor Ansteckung in Frage stellen. Das angestrebte Ziel - die Eindämmung der Tuberkuloseerkrankungen in ihrer Gesamtheit - könnte nicht erreicht werden (vgl. hierzu BSG aaO sowie die zur Veröffentlichung vorgesehenen Entscheidungen vom 1. März 1972 - 4 RJ 473/69 und vom 29. März 1973 - 4 RJ 275/72). Demgegenüber kann nicht mit Erfolg eingewandt werden, in Zweifelsfällen habe zunächst der Träger der Sozialhilfe einzugreifen. Nach der Vorstellung des Gesetzgebers soll die Tuberkulosebekämpfung von Anfang an nach Möglichkeit in einer Hand bleiben (vgl. BSG 33, 225). Dies wird in der Regel nur dann gelingen, wenn man auf den vor Beginn der Behandlung erhobenen Befund abstellt.

Der Klägerin ist allerdings zuzugestehen, daß dem in BSG 33, 225 entschiedenen Rechtsstreit ein nicht völlig gleicher Sachverhalt zugrunde liegt. Dort waren Zweifel hinsichtlich der Diagnose - daß eine Tuberkuloseerkrankung vorliege - zunächst nicht geäußert worden, sie wurden erst im Verlaufe der Behandlung deutlich. Darauf kann es aber nicht entscheidend ankommen. Objektiv war auch in jenem Fall - ebenso wie in dem vorliegenden - von Anfang an eine unrichtige Diagnose gestellt worden; der zunächst geäußerte Verdacht auf Tuberkulose wurde später nicht bestätigt. Die Zielsetzung der Tuberkulosebekämpfung rechtfertigt keine unterschiedliche Beurteilung, je nachdem, ob der Tuberkuloseverdacht scheinbar zweifelsfrei besteht oder ob er bereits von Anfang an subjektiv mit Zweifeln behaftet ist. Vielmehr ist darauf abzustellen, ob aufgrund des Tuberkuloseverdachts aus ärztlicher Sicht eine gezielte Tuberkulosebehandlung im Interesse sowohl des Kranken selbst als auch seiner Umgebung geboten ist. Bei Bejahung dieser Frage ist mit der Tuberkulosebehandlung zu beginnen, der Träger der Rentenversicherung darf sich - falls eine stationäre Behandlung angezeigt ist - dieser Aufgabe nicht entziehen.

In dem zu entscheidenden Fall sind zwar von Anfang an gewisse Zweifel hinsichtlich der Diagnose erhoben worden, die Notwendigkeit der von der Beklagten gewährten stationären Tuberkulosebehandlung ist jedoch von keinem der befragten Ärzte - darunter Amtsarzt und Ärztlicher Dienst der Klägerin - in Frage gestellt worden. Die Entscheidung der Klägerin, dem Versicherten stationäre Tuberkulosebehandlung zu gewähren, entsprach ihrer kraft Gesetzes bestehenden Verpflichtung, sie ist in Erfüllung einer ihr obliegenden Aufgabe getroffen worden. - An der Zuständigkeit der Klägerin hat sich in der Folgezeit jedenfalls bis zum 1. September 1965 nichts geändert (vgl. BSG 33, 225). Die Frage, ob die Beklagte berechtigt gewesen wäre, die Kostenübernahme auch für die weitere Behandlung des Versicherten zu verweigern, bedarf keiner Entscheidung, sie ist nicht in Streit. Der dem Versicherten gegenüber ausgesprochene Vorbehalt der Klägerin, die Behandlung werde gewährt unter der Voraussetzung, daß die Heilbehandlung wegen einer aktiven behandlungsbedürftigen Tuberkulose erforderlich sei und vorbehaltlich der Feststellung des endgültigen Kostenträgers, vermag die Entscheidung nicht zu beeinflussen, selbst wenn die Beklagte davon Kenntnis erlangt haben sollte. Auf diese Weise kann der Träger der Rentenversicherung eine ihm kraft Gesetzes obliegende Aufgabe nicht beschränken; endgültiger Kostenträger ist hier die Klägerin.

Hiernach muß das Urteil des LSG Bestand haben.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 4 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1669549

BSGE, 285

Dieser Inhalt ist unter anderem im SGB Office Professional enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge