Leitsatz (amtlich)
Ein Anspruch auf Witwenrente kann nicht iS von RVO § 615 Abs 2 S 1 wiederaufleben, wenn zZt der Wiederverheiratung (hier: 1947 in Oberschlesien) ein Anspruch auf Witwenrente aus der UV des verstorbenen ersten Ehemannes nicht bestanden hat (Fortführung von BSG 1975-08-22 11 RA 138/74 = SozR 2200 § 1291 Nr 6).
Normenkette
RVO § 615 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1972-10-16; GG Art. 3 Abs. 1 Fassung: 1949-05-23, Art. 20 Abs. 1 Fassung: 1949-05-23; RV/UVAbk POL Art. 7 Fassung: 1975-10-09, Art. 15 Fassung: 1975-10-09
Verfahrensgang
SG Hannover (Entscheidung vom 29.07.1977; Aktenzeichen S 12 Kn 60/77) |
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 29. Juli 1977 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin die Witwenrente aus der Unfallversicherung ihres ersten Ehemannes Maximilian W zusteht.
Der erste Ehemann der Klägerin erlitt am 1. Oktober 1941 auf der Grube C in R (Ost-Oberschlesien) einen Arbeitsunfall, an dessen Folgen er am 8. Oktober 1941 starb. Die Klägerin bezog bis zum Ende des zweiten Weltkrieges von der Oberschlesischen Knappschaft eine Hinterbliebenenrente und danach vom polnischen Versicherungsträger Sozialunterstützung. Die am 23. August 1947 mit Josef M geschlossene Ehe wurde am 21. August 1975 durch das Bezirksgericht Neustadt (Oberschlesien) ohne Schuldausspruch geschieden. Die Klägerin wohnt seit dem 7. März 1971 in der Bundesrepublik Deutschland.
Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 25. Januar 1977 den im Mai 1976 gestellten Antrag der Klägerin auf Wiedergewährung der Hinterbliebenenrente aus der Unfallversicherung ihres ersten Ehemannes ab. Im Einverständnis mit der Klägerin leitete sie den Widerspruch gemäß § 85 Abs 4 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) dem Sozialgericht (SG) als Klage zu.
Das SG hat die Klage mit Urteil vom 29. Juli 1977 abgewiesen. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, der Klägerin stehe nach § 615 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) die wiederaufgelebte Witwenrente aus der Unfallversicherung ihres verstorbenen ersten Ehemannes nicht zu. Im Zeitpunkt der Wiederheirat habe die Klägerin keinen Anspruch auf Witwenrente gehabt, der nach § 615 Abs 2 RVO hätte wiederaufleben können. Die Aufsplitterung Deutschlands nach dem Zusammenbruch im Jahre 1945 habe den Untergang der nach früherem Reichsrecht entstandenen Sozialversicherungsansprüche bewirkt, soweit die neuen regionalen Rechtsordnungen diese Ansprüche nicht hätten fortbestehen lassen. Das gelte nicht nur für das Gebiet der vier Besatzungszonen, sondern für den gesamten Geltungsbereich des früheren Reichsrechts. Auch das Inkrafttreten des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über Renten- und Unfallversicherung vom 9. Oktober 1975 (BGBl 1976 II S. 393, 396) habe an der Rechtslage nichts geändert.
Die Klägerin hat dieses Urteil mit der - vom SG zugelassenen - Sprungrevision angefochten. Sie ist der Ansicht, es könne sich nicht nachteilig für sie auswirken, daß sie vorübergehend nicht im Geltungsbereich der RVO gelebt habe. Jedenfalls nach Inkrafttreten des deutsch-polnischen Abkommens treffe die Ansicht des SG nicht mehr zu, daß die Aufsplitterung Deutschlands nach dem Zusammenbruch im Jahre 1945 den Untergang der nach früherem Reichsrecht entstandenen Sozialversicherungsansprüche bewirkt habe. Sinn und Zweck dieses Abkommens sei es, unbillige Nachteile für Rentenempfänger zu beseitigen und auszuschließen. Nach Art 7 Abs 1 des Abkommens würden Renten der Unfallversicherung vom Versicherungsträger des Staates, in dessen Gebiet der Berechtigte wohnt, nach den für diesen Träger geltenden Vorschriften gewährt. Damit sei klargestellt, daß die Ansprüche der Klägerin nach den Bestimmungen der RVO zu beurteilen seien. Davon sei die Vorschrift über das Wiederaufleben von Hinterbliebenenrenten nicht ausgenommen. Art 7 Abs 2 des Abkommens mache besonders deutlich, daß alles, was im Gebiete des anderen Staates geschehen sei, so zu beurteilen sei, als habe es sich in dem nunmehr zuständigen Staat ereignet. Das bedeute, daß die Klägerin so zu behandeln sei, als habe sie zur Zeit der Wiederheirat die Rente aufgrund reichsdeutscher oder bundesrechtlicher Vorschriften bezogen und verloren. Das Urteil des SG verstoße im übrigen gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art 3 des Grundgesetzes (GG). Der geltend gemachte Anspruch hätte zweifellos bestanden, wenn die Klägerin 1945 aus dem Vertreibungsgebiet in die Bundesrepublik geflüchtet wäre, dort geheiratet hätte und wieder geschieden worden sei. Sie werde also nur deshalb schlechter behandelt, weil ihr die Flucht nicht mehr gelungen sei. Da der Gesetzgeber sich entschlossen habe, die Vertriebenen durch das Fremdrentengesetz (FRG) in die soziale Sicherung einzubeziehen, sei er durch Art 20 GG gehindert gewesen, die kleine Gruppe der Witwen, die nach 1945 im Vertreibungsgebiet wieder geheiratet hat, von der Begünstigung auszuschließen.
Die Klägerin beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 25. Januar 1977 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin die wiederaufgelebte Witwenrente anläßlich des Todes des Versicherten vom 8. Oktober 1941 mit Wirkung vom 1. Mai 1976 zu gewähren,
hilfsweise,
das angefochtene Urteil mit den ihm zugrundeliegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil im Ergebnis und in der Begründung für richtig und ist der Ansicht, die Revision der Klägerin sei unbegründet.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision der Klägerin hat keinen Erfolg. Das SG hat die Klage mit Recht abgewiesen, denn die Klägerin hat keinen Anspruch auf die Witwenrente aus der Unfallversicherung ihres verstorbenen ersten Ehemannes.
Nach § 615 Abs 2 Satz 1 RVO lebt der Anspruch auf Witwenrente für die Zeit nach Stellung des Antrages wieder auf, wenn die erneute Ehe der Witwe nach der Wiederverheiratung aufgelöst oder für nichtig erklärt wird. Das Bundessozialgericht (BSG) hat zu dem im wesentlichen gleichlautenden § 68 Abs 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) bereits entschieden, daß der Anspruch auf Witwenrente nur dann wieder auflebt, wenn durch die Wiederverheiratung ein Witwenrentenanspruch weggefallen ist, der auf Vorschriften des Reichsrechts oder des Bundesrechts beruht hat und von Versicherungsträgern im Bundesgebiet zu erfüllen gewesen ist (vgl BSGE 25, 20). Das muß bei inhaltsgleicher Vorschrift auch für die Unfallversicherung gelten.
Es mag dahingestellt bleiben, ob die Klägerin in der Zeit vom Tode ihres ersten Ehemannes bis 1945 die Witwenrente aus der Unfallversicherung ihres ersten Ehemannes bezogen hat. Das SG hat lediglich festgestellt, die Oberschlesische Knappschaft - nicht die damalige Knappschafts-Berufsgenossenschaft - habe Hinterbliebenenrente gewährt. Es kann auch offen bleiben, ob unabhängig von dem tatsächlichen Bezug einer Witwenrente materiell-rechtlich bis 1945 ein Anspruch auf Witwenrente aus der Unfallversicherung des ersten Ehemannes bestanden hat. Die Klägerin hatte jedenfalls im Zeitpunkt ihrer zweiten Eheschließung im Jahre 1947 keinen von einem Versicherungsträger in der Bundesrepublik zu erfüllenden Witwenrentenanspruch aus der Unfallversicherung ihres ersten Ehemannes, der mit der Wiederverheiratung hätte wegfallen können. Das BSG hat bereits entschieden, daß auch die nach früherem Reichsrecht entstandenen Sozialversicherungsansprüche mit der Aufsplitterung Deutschlands nach dem Zusammenbruch im Jahre 1945 untergegangen sind, soweit die neuen regionalen Rechtsordnungen sie nicht haben fortbestehen lassen (vgl SozR 2200 Nr 6 zu § 1291 mit weiteren Hinweisen). Nach den im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden allgemeinen Grundsätzen haben die Versicherungsträger - abgesehen von den Fällen der Ausstrahlung oder besonderer innerstaatlicher oder zwischenstaatlicher Regelungen - mit Leistungen nur für die Folgen solcher Unfälle einzustehen, die sich in ihrem Zuständigkeitsgebiet ereignet haben. Die Versicherungsträger in dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland hatten daher nach Beendigung des zweiten Weltkrieges grundsätzlich keine Leistungen für Unfälle außerhalb des Gebiets der Bundesrepublik Deutschland zu erbringen, und zwar auch dann nicht, wenn sich der Unfall in einem anderen Gebiet ereignet hatte, in dem er nach Reichsrecht versicherungsrechtlich geschützt war. Durch Kriegsfolgegesetze, insbesondere durch das Fremdrenten- und Auslandsrentengesetz (FremdRG) und das FRG sind von diesem Grundsatz zwar Ausnahmen gemacht und Ansprüche, insbesondere für Vertriebene gegen bundesdeutsche Versicherungsträger begründet worden. Die Klägerin hat aber bis zu ihrer Wiederverheiratung im Jahre 1947 keinen Witwenrentenanspruch gegen einen Unfallversicherungsträger im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland erworben. Abgesehen davon, daß die Klägerin zu dieser Zeit weiterhin außerhalb des Gebiets der Bundesrepublik Deutschland lebte, waren das FremdRG und das FRG auch noch nicht in Kraft getreten. Wenn diese Gesetze auch später für Vertriebene Ansprüche begründeten, so brauchten sie dies doch nicht für die Vergangenheit und insbesondere nicht für Zeiten des Aufenthalts im Vertreibungsgebiet zu tun (vgl hierzu auch BSGE 19, 97, 90; 25, 20, 22).
Ein im Zeitpunkt der Wiederverheiratung im Jahre 1947 bestehender Witwenrentenanspruch ergibt sich auch nicht aus dem Übereinkommen Nr 19 der Internationalen Arbeitsorganisation über die Gleichbehandlung einheimischer und ausländischer Arbeitnehmer bei Entschädigung aus Anlaß von Betriebsunfällen vom 5. Juni 1925, dessen Verpflichtungen für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland anerkannt worden ist (vgl Erlaß des BMA vom 8. August 1951 in Bundesarbeitsblatt 1951, 389). Die darin geregelten Verpflichtungen betreffen nicht Fälle der vorliegenden Art. Die Klägerin hatte also zur Zeit ihrer Wiederverheiratung im Jahre 1947, während der sie sich nicht im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland, sondern in Oberschlesien aufhielt, keinen Rentenanspruch nach Reichsrecht oder Bundesrecht gegen einen Versicherungsträger im Bundesgebiet. Ihr steht daher auch nach Auflösung der zweiten Ehe und Wohnsitznahme in der Bundesrepublik Deutschland die Witwenrente aus der Unfallversicherung ihres ersten Ehemannes nicht zu.
Daran hat sich durch das deutsch-polnische Sozialversicherungsabkommen nichts geändert. Wenn nach Art 7 Abs 2 dieses Abkommens der Unfall auch so zu behandeln ist, als habe er sich im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ereignet, so besagt das nicht, daß zur Zeit der Wiederverheiratung im Jahre 1947 ein von einem Versicherungsträger in der Bundesrepublik Deutschland zu erfüllender Witwenrentenanspruch bestanden habe, der wiederaufleben könnte. Nach Art 15 Abs 1 begründet das Abkommen Rechte und Leistungsverpflichtungen nur für einen Zeitraum nach seinem Inkrafttreten. Ein Anspruch auf Witwenrente wird also auch unter Berücksichtigung des Art 7 Abs 2 nicht für die Zeit der Wiederverheiratung im Jahre 1947 begründet. Ein in diesem Zeitpunkt bestehender und durch die Wiederverheiratung weggefallener Witwenrentenanspruch ist aber nach § 615 Abs 2 RVO Voraussetzung für das Wiederaufleben der Witwenrente.
Soweit sich die Klägerin mit der Revision auf Art 3 Abs 1 GG beruft, verkennt sie den Zweck der Regelung in § 615 Abs 2 RVO. Mit der Abfindung der Witwenrente bei Eingehung der zweiten Ehe nach § 615 Abs 1 RVO und der Möglichkeit des Wiederauflebens der Witwenrente nach Auflösung der zweiten Ehe gemäß § 615 Abs 2 RVO sollte ein Anreiz zur Eheschließung geben und den sogenannten Rentenkonkubinaten (Onkelehen) entgegengewirkt werden (vgl Beschluß des Großen Senats - GS - des BSG vom 21. Juli 1977 - GS 1 und 2/76 -). Eines solchen Anreizes zur Eingehung einer neuen Ehe bedarf es aber nur dann, wenn bis zur zweiten Eheschließung ein zu erfüllender Anspruch auf Witwenrente besteht, der durch die Eheschließung wegfällt. Der Gesetzgeber war daher durch den Gleichheitsgrundsatz des Art 3 Abs 1 GG nicht gehalten, auch den Witwen einen Rentenanspruch zu geben, die im Zeitpunkt der zweiten Eheschließung keinen Anspruch auf Witwenrente aus der Versicherung ihres ersten Ehemannes hatten und somit damals noch nicht auf einen Rentenbezug eingestellt sein konnten (ebenso bereits Beschluß des GS des BSG vom 9. Juni 1961 in BSGE 14, 238, 244). Auch bei Schaffung des FremdRG und des FRG war es deshalb verfassungsrechtlich nicht geboten, eine Gleichstellung der Klägerin mit den ehemaligen Witwen herbeizuführen, die durch ihre Wiederheirat in der Bundesrepublik einen tatsächlich vorhandenen Rentenanspruch eingebüßt haben (ebenso BSGE 19, 97, 99). In diesem Zusammenhang geht auch der Hinweis der Revision auf den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 12. November 1974 (SozR 3100 § 44 Nr 2) schon deswegen fehl, weil diese Entscheidung das Rechtsinstitut des Wiederauflebens von Rentenansprüchen und dessen Auslegung durch das BSG unberührt läßt und es nur für verfassungswidrig erklärt hat, das Wiederaufleben gesetzlich davon abhängig zu machen, daß die neue Ehe im Sinne des damals gültigen Ehegesetzes ohne alleiniges oder überwiegendes Verschulden der Witwe aufgelöst oder für nichtig erklärt worden ist.
Der Senat hat die danach unbegründete Revision der Klägerin zurückgewiesen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen