Leitsatz (amtlich)
Bei einem Streit über die Höhe der Schwerstbeschädigtenzulage nach BVG § 31 Abs 5 Fassung: 1957-07-01 ist die Berufung nicht gemäß SGG § 148 Nr 3 ausgeschlossen.
Normenkette
SGG § 148 Nr. 3 Fassung: 1958-06-25; BVG § 31 Abs. 5 Fassung: 1957-07-01; SGG § 150 Fassung: 1953-09-03; BVG § 31 Abs 5 DV § 3; BVG § 31 Abs 5 DV § 5; BVG § 31 Abs 5 DV § 2 Abs. 4
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 8. Oktober 1964 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
Durch Bescheid vom 11. März 1953 wurden bei dem Kläger als Schädigungsfolgen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) pulsierende Knochenlücke im Hinterhauptbein, Halbseitenblindheit nach rechts und mäßiger Funktionsausfall nach Hirnverletzung sowie Verlust des linken Armes anerkannt und mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 100 v. H. bewertet. Im Dezember 1960 beantragte der Kläger die Gewährung der Schwerstbeschädigtenzulage. Der Versorgungsarzt Dr. S bewertete die den Kopf, das Gehirn, den linken Arm und das Sehen betreffenden Einzelschädigungen nach einer MdE um 30, 50, 70 und 40 v. H. mit 15, 50, 70 und 20, insgesamt 155 Punkten. Auf Grund dieser Bewertung wurde dem Kläger durch Bescheid vom 1. Februar 1962 ab 1. Juni 1960 die Schwerstbeschädigtenzulage nach Stufe I zugebilligt. Der Widerspruch, mit dem er eine Bewertung mit 205 Punkten nach Stufe III begehrte, war erfolglos. Mit Urteil vom 27. Mai 1963 verpflichtete das Sozialgericht (SG) den Beklagten, ab 1. Juni 1960 Schwerstbeschädigtenzulage nach Stufe II zu gewähren. Es ließ die Berufung nicht zu, hielt sie jedoch für zulässig. Der Funktionsausfall nach Hirnverletzung und die Halbseitenblindheit nach rechts seien Schädigungsfolgen an zwei inneren Organsystemen. Die nach § 2 der Verordnung zur Durchführung des § 31 Abs. 5 des Bundesversorgungsgesetzes vom 17. April 1961 ermittelte Punktzahl sei deshalb um 20 Punkte zu erhöhen (§ 3 Buchst. c der VO). Mit Urteil vom 8. Oktober 1964 verwarf das Landessozialgericht (LSG) die Berufung des Beklagten als unzulässig und ließ die Revision zu. Nach § 148 Nr. 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) sei die Berufung nicht zulässig, soweit sie den Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit betreffe, es sei denn, daß die Schwerbeschädigteneigenschaft oder die Gewährung der Grundrente davon abhänge. Bei der Frage, nach welcher Stufe die Schwerstbeschädigtenzulage zu zahlen sei, handele es sich um einen Streit um den Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit. Der auf Grund des § 31 Abs. 5 BVG i. d. F. des Ersten Neuordnungsgesetzes (1. NOG) erlassenen Verordnung vom 17. April 1961 (DVO) sei zu entnehmen, daß die Gewährung der Schwerstbeschädigtenzulage sich grundsätzlich nach dem Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit regele. Das den §§ 2, 3 und 5 Abs. 1 DVO zugrunde gelegte Prinzip der Punktbewertung gehe von der MdE für die einzelnen anerkannten Schädigungsfolgen aus, wobei Schädigungsfolgen mit einer MdE um weniger als 25 % außer Betracht blieben. Nach § 2 Abs. 4 DVO sei jedes Vomhundert an MdE mit einem Punkt, bei Schädigungsfolgen, die eine MdE um 25 bis 45 % bedingen, mit einem halben Punkt zu bewerten. Die so ermittelte Punktzahl sei nach § 3 DVO in bestimmten Fällen um 10 bis 40 Punkte zu erhöhen. Die Summe von mindestens 130 (160 oder 190) Punkten ergebe die Schwerstbeschädigtenzulage der Stufe I (II oder III). Die Anzahl der Punkte richte sich somit grundsätzlich nach der Höhe der Einzel-MdE-Sätze. Auch das zweite Prinzip der DVO, nach dem die Einstufung der Empfänger von Pflegezulage vorgenommen werde, richte sich letztlich nach dem Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit. Nach § 5 Abs. 2 DVO werde für die einzelnen Stufen der Pflegezulage eine entsprechende Summe von Einzel-MdE-Sätzen fingiert. Wer Pflegezulage nach Stufe III erhalte, werde mit 130 Punkten bewertet; dies entspreche einer Summe der Einzel-MdE-Sätze von 130 %. Für die höheren Stufen der Pflegezulage gelte bezüglich der Punktebewertung und der fingierten Summe der Einzel-MdE-Sätze entsprechendes. Das Zweite Neuordnungsgesetz habe mit der Einführung von 5 Stufen der Schwerstbeschädigtenzulage an diesem Prinzip nichts geändert. Da das SG die Berufung nicht nach § 150 Nr. 1 SGG zugelassen habe, sie auch nicht nach § 150 Nr. 2 oder 3 SGG zulässig sei, habe sie als unzulässig verworfen werden müssen.
Der Beklagte rügt Verletzung des § 148 Nr. 3 SGG. Die Berufung habe nicht einen Streit über den Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit betroffen. Das SG habe die Gewährung der Schwerstbeschädigtenzulage nach Stufe II auf die in § 3 c DVO vorgeschriebene Erhöhung der Punktzahl gestützt, weil bei dem Kläger Schädigungsfolgen an zwei inneren Organsystemen zusammenträfen und dadurch die Mindestpunktzahl für die Stufe II erreicht werde. Die Stufe der Schwerstbeschädigtenzulage hänge hier also nicht von einer Punktbewertung nach dem Grade der MdE, sondern allein davon ab, ob die Schädigungsfolgen an zwei inneren Organen zusammentreffen. Der Streit über die Stufe der Schwerstbeschädigtenzulage sei kein Streit über den Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit im Sinne des § 148 Nr. 3 SGG. Diese Vorschrift sei als Ausnahme von § 143 SGG eng auszulegen. Sie habe vom Gesetzgeber nur auf Streitigkeiten im Rahmen des § 31 Abs. 1 BVG bezogen werden können, weil für andere Streitigkeiten über den Grad der MdE im Zeitpunkt ihres Erlasses kein Raum gewesen sei. Eine nachträgliche Ausdehnung auf die erst mit dem 1. NOG eingeführte Schwerstbeschädigtenzulage sei nicht zulässig, zumal der Gesetzgeber davon abgesehen habe, durch entsprechende Änderung des SGG der Weiterentwicklung des materiellen Kriegsopferrechts im 1. und 2. NOG Rechnung zu tragen. Dabei habe sich die Notwendigkeit klarer Aussagen über Berufungsausschlüsse bei Einführung von neuen Leistungen wie Berufsschadensausgleich, Schadensausgleich, Schwerstbeschädigtenzulage, Zuschläge für 65 Jahre alte Schwerstbeschädigte, für Kinder und Ehefrauen geradezu aufgedrängt. Auch aus der Einordnung von Beschädigten mit Anspruch auf eine Pflegezulage in eine bestimmte Stufe der Schwerstbeschädigtenzulage lasse sich kein Beweis für die Auffassung des LSG herleiten, denn der Anspruch auf Pflegezulage richte sich allein nach dem Ausmaß der Hilflosigkeit. Der Beklagte beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen zurückzuverweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§§ 124 Abs. 2, 165, 153 Abs. 1 SGG). Daß der Kläger im Revisionsverfahren nicht vertreten ist, ist für die Wirksamkeit seiner Erklärung nach § 124 Abs. 2 SGG unerheblich (BSG in SozR SGG § 124 Nr. 5).
Die durch Zulassung statthafte Revision (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, daher zulässig (§§ 164, 166 SGG). Sie ist auch sachlich begründet.
Das mit der Berufung angefochtene Urteil des SG hat dem Kläger die Schwerstbeschädigtenzulage nach Stufe II zugebilligt. Die Berufung gegen dieses Urteil war nicht nach § 148 Nr. 3 SGG ausgeschlossen. Das Urteil betraf zunächst nicht die Neufeststellung der Versorgungsbezüge wegen Änderung der Verhältnisse im Sinne des § 148 Nr. 3 SGG. Bei der mit dem angefochtenen Bescheid bewilligten Schwerstbeschädigtenzulage nach Stufe I handelte es sich um eine Erstfeststellung. Eine Neufeststellung würde voraussetzen, daß eine Feststellung gleichartiger Bezüge in einem früheren Bescheid als Vergleichsgrundlage für eine Änderung der Verhältnisse bereits vorliegt (BSG in SozR SGG § 148 Nr. 17 und Nr. 13).
Die Berufung war - entgegen der Auffassung des LSG - aber auch nicht ausgeschlossen, weil sie im Sinne des § 148 Nr. 3 SGG den Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit betroffen hätte. Mit einem solchen Streit konnte bei Erlaß des SGG im Jahre 1953 nur ein Rechtsstreit gemeint sein, in dem über die Höhe der MdE als Maßstab für die Bewertung der Schädigungsfolgen nach den §§ 30, 31 BVG zu entscheiden war, denn die Schwerstbeschädigtenzulage wurde erst mit dem 1. NOG vom 27. Juni 1960 (BGBl. I, 453) durch Abs. 5 in § 31 BVG eingeführt. Auch setzt der Anspruch auf die Schwerstbeschädigtenzulage, soweit er nicht Empfängern von Pflegezulage zusteht, nach § 1 Abs. 1 und 2 der VO zur Durchführung des § 31 Abs. 5 des BVG vom 17. April 1961 - BGBl. I, 453 - (DVO) Erwerbsunfähigkeit voraus. Insoweit kommt die Schwerstbeschädigtenzulage überhaupt nur in Betracht, wenn der höchste Grad der MdE (§§ 31 Abs. 3, 32 Abs. 2 BVG) zugebilligt ist. In diesem Fall ist aber nicht der Grad der MdE, sondern der Anspruch auf die Schwerstbeschädigtenzulage bzw. die Höhe dieser Zulage Streitgegenstand. Die Anwendung des § 148 Nr. 3 SGG bei einer Berufung, die die Schwerstbeschädigtenzulage oder die Einstufung nach § 5 DVO betrifft, wäre möglicherweise gleichwohl trotz der späteren Rechtsentwicklung, die der Gesetzgeber 1953 noch nicht voraussehen konnte, gerechtfertigt, wenn der dieser Vorschrift zugrunde liegende Gedanke wenigstens sinngemäß auf die Schwerstbeschädigtenzulage angewendet werden könnte. Diese Voraussetzung ist nach der Auffassung des Senats nicht erfüllt. Zunächst handelt es sich bei der Schwerstbeschädigtenzulage - und ihrer Bemessung - um eine Leistung, die nicht ohne weiteres gewährt wird, wenn Erwerbsunfähigkeit (ohne Berücksichtigung der besonderen beruflichen Betroffenheit - § 1 Abs. 2 DVO -) festgestellt ist. Der Anspruch ist nicht als eine mit der Zuerkennung einer MdE von mehr als 90 % unmittelbar verbundene Nebenwirkung anzusehen; seine Geltendmachung ist vielmehr an weitere selbständige Voraussetzungen geknüpft. Der Schlüssel, der zur Gewährung der Zulage und der Einordnung des Versorgungsberechtigten in eine der drei Stufen der DVO führt, ist ein Bewertungssystem eigener Art, das nicht mit der MdE-Bewertung auf eine Stufe gestellt werden kann. Es dient der zusätzlichen Berücksichtigung der Schädigungsfolgen, durch die der erwerbsunfähige Beschädigte "außergewöhnlich" (§ 31 Abs. 5 BVG) betroffen ist. Diesem Ziel, die Schwere außergewöhnlicher Schädigungsfolgen möglichst individuell zu erfassen und demgemäß die Leistung zu differenzieren, trägt die Methode Rechnung, mit der die Punktzahl ermittelt wird. Nur darum werden die einzelnen Schädigungsfolgen in Anlehnung an die MdE, die bei einer Einzelbewertung in Betracht gekommen wäre, mit Punkten bewertet. Die Stufe der Schwerstbeschädigtenzulage wird aber nicht durch einfache Addition von MdE-Graden gewonnen; es bleiben vielmehr Schädigungsfolgen mit einer MdE um weniger als 25 v. H. außer Betracht (§ 2 Abs. 3 DVO); Schädigungen, die mit einer MdE um mindestens 25 v. H. und weniger als 45 v. H. zu bewerten sind, werden mit einem halben Punkt, die übrigen mit einem Punkt (§ 2 Abs. 4 DVO) berücksichtigt. Außerdem wird die so ermittelte Punktzahl in den Fällen des § 3 DVO noch zusätzlich und unabhängig von einer MdE-Bewertung um 10 bis 40 Punkte erhöht. Daraus ergibt sich, daß die Schwerstbeschädigtenzulage als selbständiger Anspruch nur den Erwerbsunfähigen gewährt wird, die besonders schwer betroffen sind, daß sie nach der unterschiedlichen Bedeutung der Schädigungsfolgen abgestuft ist und daß die Anlehnung an den MdE-Grad für die einzelnen Schädigungsfolgen nur ein technisches Hilfsmittel zur Ermittlung der Schwere der Gesamtschädigung darstellt. Es würde daher eine dem Sinn der Schwerstbeschädigtenzulage widersprechende und damit unzulässige Vereinfachung der gesetzlichen Regelung bedeuten, wenn man in dem Streit um die Schwerstbeschädigtenzulage und die Ermittlung der Punkte für die Stufen I bis III nur einen Streit um den Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit im Sinne des § 148 Nr. 3 SGG erblicken wollte. Daß eine solche Beurteilung dem Grundgedanken des Gesetzes nicht entspricht, ergibt sich auch aus § 5 Abs. 2 DVO; denn hiernach erhalten Beschädigte mit Anspruch auf eine Pflegezulage nach Stufe III mindestens die Schwerstbeschädigtenzulage I, obgleich die Pflegezulage nicht nach dem Grad der MdE, sondern ausschließlich nach dem Grad der Hilflosigkeit gewährt wird (§ 35 Abs. 1 BVG). Der unmittelbaren oder analogen Anwendung des § 148 Nr. 3 SGG auf die Schwerstbeschädigtenzulage steht weiter auch die in dieser Vorschrift getroffene Einschränkung entgegen, daß bei einem Streit um den Grad der MdE die Berufung dann nicht ausgeschlossen sein soll, wenn die Schwerbeschädigteneigenschaft oder die Gewährung der Grundrente davon abhängt. Damit ist zum Ausdruck gebracht, daß die Vorschrift keine Anwendung finden kann, wenn von der Anerkennung eines bestimmten MdE-Grades nicht nur die Erhöhung der Rente, sondern auch die Gewährung selbständiger weiterer Ansprüche abhängig ist (vgl. §§ 10 Abs. 2, 32 BVG). Um einen solchen, für den erwerbsunfähigen Beschädigten bedeutsamen Anspruch handelt es sich auch bei der Schwerstbeschädigtenzulage. Mit Recht hat die Revision darauf hingewiesen, daß eine andere Auslegung des § 148 Nr. 3 SGG um so weniger gerechtfertigt ist, als der Gesetzgeber die Einführung der Schwerstbeschädigtenzulage nicht zum Anlaß einer Änderung des § 148 Nr. 3 SGG genommen hat. Die Rechtslage ist auch nicht anders auf Grund der Änderung des § 31 Abs. 5 BVG durch das 2. NOG vom 21. Februar 1964 (BGBl. I, 85) und der VO zur Änderung und Ergänzung der VO zur Durchführung des § 31 Abs. 5 des Bundesversorgungsgesetzes vom 17. Juli 1964 (BGBl. I 489) zu beurteilen. Dadurch, daß auf Grund dieser Vorschriften die Schwerstbeschädigtenzulage ab 1. Januar 1964 in 5 Stufen gewährt wird, hat sich am Wesen dieses Anspruchs nichts geändert.
Das LSG hat somit § 148 Nr. 3 SGG dadurch verletzt, daß es die Berufung für unzulässig gehalten und sie verworfen hat. Da das LSG sachlich über den Anspruch hätte entscheiden müssen, beruht das Urteil auf dieser Gesetzesverletzung. Der Senat konnte in der Sache nicht selbst entscheiden, weil er die für die Punktzahl erforderliche Schätzung der MdE für die einzelnen Schädigungsfolgen nicht selbst vornehmen kann.
Die Sache war daher nach § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG an das LSG zurückzuverweisen.
Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen