Leitsatz (redaktionell)
In der Rentenversicherung sind Ansprüche auf Witwenrente nach dem zur Zeit des Eintritts des Versicherungsfalles geltenden Recht zu beurteilen. Der erst am 1953-04-01 in Kraft getretene Gleichberechtigungssatz des GG wirkt nicht auf die Zeit vorher zurück.
Normenkette
AVG § 28 Abs. 4 Fassung: 1934-05-17; GG Art. 3 Fassung: 1949-05-23, Art. 117 Fassung: 1949-05-23
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 22. November 1957 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Kläger erstrebt die Gewährung einer Witwerrente. Seine Ehefrau war in der Angestelltenversicherung (AV) versichert. Sie ist 1945 gestorben. Die Beklagte beurteilte den - im Juli 1955 gestellten - Rentenantrag des Klägers nach § 28 Abs. 4 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) in der bis Ende 1956 geltenden Fassung. Sie prüfte also - neben der Erfüllung der Wartezeit und der Erhaltung der Anwartschaft -, ob die Versicherte den Unterhalt ihrer Familie überwiegend bestritten habe und ob der Kläger erwerbsunfähig und bedürftig sei. Sie bejahte die zuerst genannten Voraussetzungen, lehnte den Antrag aber ab, weil sie den Kläger nicht für bedürftig hielt. Das Sozialgericht (SG) wies die Klage ab. Dagegen verpflichtete das Landessozialgericht (LSG) die Beklagte, die Witwerrente zu gewähren. Es ließ die Frage nach der Bedürftigkeit des Klägers ausdrücklich offen: nach dem Inkrafttreten des Grundsatzes der Gleichberechtigung am 1. April 1953 (Art. 3 Abs. 2, 117 des Grundgesetzes - GG -) dürfe die Gewährung einer Witwerrente nicht mehr vom Vorliegen der Bedürftigkeit abhängig gemacht werden; auf das Recht, das zur Zeit des Eintritts des Versicherungsfalls (1945) gegolten habe, könne es seit dieser Zeit nicht mehr ankommen (Urteil vom 22. November 1957).
Die Beklagte legte die - vom LSG zugelassene - Revision ein und beantragte, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG zurückzuweisen. Sie rügte die Nichtanwendung des § 28 Abs. 4 AVG aF.
Der Kläger beantragte, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise, den Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Revision ist zulässig und begründet. Die bisherigen Feststellungen des LSG reichen nicht aus, den Anspruch des Klägers auf Witwerrente zu stützen.
Rentenansprüche sind, wenn nicht besondere Vorschriften etwas anderes besagen, nach dem Recht zu beurteilen, das zur Zeit des Eintritts des Versicherungsfalls gilt. Der Versicherungsfall für den Anspruch auf Witwerrente ist der Tod der versicherten Ehefrau; er ist 1945 eingetreten. Die Rechtsgrundlage für den Anspruch des Klägers bildet somit § 28 Abs. 4 AVG aF. Die Neufassung dieser Vorschrift durch das 1957 in Kraft getretene Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetz (AnVNG) kann, weil ihr keine Rückwirkung beigelegt worden ist, im vorliegenden Rechtsstreit nicht angewandt werden (§ 43 AVG nF; Art. 2 § 6 AnVNG).
Nach § 28 Abs. 4 AVG aF darf Witwerrente nur gewährt werden, wenn ua der Ehemann beim Tode seiner versicherten Ehefrau bedürftig war (BSG 5, 17; BSG Urteil vom 29. März 1962 - 1 RA 188/56 -). Diese Voraussetzung ist nicht mit dem Inkrafttreten des Gleichberechtigungssatzes am 1. April 1953 weggefallen, soweit es sich um Ansprüche handelt, die sich auf vorher eingetretene Versicherungsfälle gründen. Das Recht des GG wirkt nicht auf die Zeit vor seinem Inkrafttreten zurück und regelt auch keine Sachverhalte neu, die abgeschlossen in der Vergangenheit liegen; es kennt insbesondere keine Rückwirkung des Gleichberechtigungssatzes. Das GG bewirkte zwar Rechtsänderungen für die Zukunft, hat aber nicht die Funktion, auch die nachteiligen Folgen früherer Rechtslagen zu beseitigen. Dies hat der erkennende Senat schon in seinem früheren - bereits erwähnten - Urteil klargestellt; er hält an dieser Auffassung auch nach erneuter Prüfung der Rechtslage fest. Die gegenteilige Meinung des Berufungsgerichts wird zu Unrecht auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 7. März 1957 (BSG 5, 17) gestützt. In dieser Entscheidung war aber ein anderer Sachverhalt zu beurteilen, nämlich der, daß der Tod der versicherten Ehefrau erst Ende 1953, also nach dem Stichtag des 1. April 1953, eingetreten war; die Grundsätze dieser Entscheidung über den Wegfall der erschwerenden Anspruchsvoraussetzungen für die Witwerrente lassen sich deshalb in diesem Zusammenhang nicht verwerten. Das LSG hätte vor der Zubilligung der Witwerrente vielmehr prüfen müssen, ob der Kläger 1945 zur Zeit des Eintritts des Versicherungsfalls bedürftig war.
Sollte die Prüfung ergeben, daß zu dieser Zeit alle Voraussetzungen des § 28 Abs. 4 AVG aF vorgelegen haben, so müßte die Rente auch dann zugesprochen werden, wenn der Kläger bei der Antragstellung im Juli 1955 vielleicht nicht mehr erwerbsunfähig oder bedürftig gewesen sein sollte. Das ergibt sich aus den folgenden Erwägungen. Nach der Rechtsprechung des BSG sind seit dem 1. April 1953 Erwerbsunfähigkeit und Bedürftigkeit, um die Gleichberechtigung zu verwirklichen, keine Anspruchsvoraussetzungen mehr für die Witwerrente. Eine Witwerrente kann folglich seit diesem Stichtag auch nicht mehr mit der Begründung entzogen werden, Erwerbsunfähigkeit oder Bedürftigkeit oder beides sei weggefallen. Die rechtlichen Überlegungen des BSG zu § 1257 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF (= § 28 Abs. 4 AVG aF) treffen ebenfalls auf die - inzwischen weggefallene - Entziehungsvorschrift in § 1299 RVO aF, § 42 AVG aF zu, sofern der Entziehungsfall erst nach März 1953 gegeben war. Könnte aber dem Kläger eine etwa 1945 bewilligte Witwerrente 1955 nicht mehr wegen des Wegfalls von Erwerbsunfähigkeit oder Bedürftigkeit entzogen werden, so darf sie ihm aus diesen Gründen auch nicht verweigert werden, wenn er den Rentenantrag erst zu dieser Zeit stellt. Es genügt, daß die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für den Rentenanspruch zur Zeit des Versicherungsfalls erfüllt waren. Der Antrag ist insoweit ohne Bedeutung; er beeinflußt lediglich den Rentenbeginn.
Um die bisher unterlassene Prüfung der Bedürftigkeit (vergl. dazu BSG 1, 184) nachzuholen, muß der Rechtsstreit noch einmal vor dem Berufungsgericht verhandelt werden (§ 170 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes). Dabei wird das LSG auch mit über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen