Leitsatz (amtlich)
Ein Versicherungsträger kann seine der Witwe eines Versicherten gegebene, der Rechtslage entsprechende Zusage, ihr demnächst einen ihren Anspruch auf Witwenrente anerkennenden förmlichen Feststellungsbescheid zu erteilen, selbst dann, wenn die Voraussetzungen für den Rentenanspruch infolge inzwischen eingetretener Rechtsänderung entfallen sind, nicht rückwirkend zurücknehmen. Das Recht des Versicherungsträgers, die Verjährung geltend zu machen, bleibt unberührt.
Normenkette
RVO § 1583 Abs. 1 Fassung: 1925-07-14
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 15. Dezember 1964 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Unter den Beteiligten ist streitig, ob die Klägerin, die im Februar 1957 aus Polen in die Bundesrepublik gekommen ist, für die Zeit vom 1. März 1953 bis Ende Februar 1957 einen Anspruch auf Witwenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung (UV) hat.
Der Ehemann der Klägerin (Versicherter) war vom Jahre 1910 bis zum Jahre 1930 mit Unterbrechungen im Steinkohlenbergbau des Ruhrgebietes vorwiegend unter Tage beschäftigt. Im Jahre 1935 verzog er mit seiner Familie nach Ostpreußen und arbeitete dort überwiegend als Landarbeiter. Während des Krieges wurde er Kraftfahrer und siedelte mit seiner Familie in den W.-gau um. Bei Kriegsende war er als Wachmann eingesetzt. Er floh zu seinem Bruder nach E, während seine Familie im W.-gau verblieb. In E verstarb er am 20. November 1945 an den Folgen einer schweren Staublungenerkrankung.
Am 10. Mai 1948 machte der Bruder des Versicherten im Auftrage der Klägerin, die sich noch in Polen befand, bei der Beklagten Entschädigungsansprüche aus der UV geltend. Darauf fand in den Jahren 1948/49 ein Schriftwechsel zwischen der Klägerin und der Beklagten statt. Mit Schreiben vom 30. Juni 1948 teilte die Beklagte der Klägerin mit, daß ihr die Rentenbeträge, auf die sie Anspruch habe, nicht unmittelbar überwiesen werden könnten. Nach einer neueren Anordnung der britischen Militärregierung bestehe aber die Möglichkeit, die Beträge auf ein Sperrkonto bei einer Bank oder Sparkasse einzuzahlen. Die Klägerin wurde gebeten, ein Sperrkonto in der britischen Zone zu errichten. Es heißt dann wörtlich: "Wir werden dann die Nachzahlung der Rente sowie die fortlaufende Rentenzahlung auf das gesperrte Konto veranlassen und Ihnen hierüber entsprechende Mitteilung geben." Der Beklagten lag schon damals eine Aufenthaltsbescheinigung der Gemeindeverwaltung M in der Wojewodschaft P vom 13. April 1948 vor, aus der sich ergab, daß der Klägerin am 29. März 1947 die polnische Staatsangehörigkeit zuerkannt worden war. Die Beklagte ging daher bei ihrem Schriftverkehr mit der Klägerin davon aus, daß diese die Staatsangehörigkeit eines Staates besaß, der zu den Vereinten Nationen gehörte. Als die Klägerin um die Erteilung eines Rentenbescheids bat, antwortete die Beklagte mit folgendem Schreiben vom 10. Januar 1949:
Nach dem Ergebnis der Leichenöffnung ist Ihr Ehemann J R, geb. 23. März 1892, am 20. November 1945 an den Folgen einer schweren Staublungenerkrankung gestorben. Unsere Entschädigungspflicht haben wir anerkannt. Einen Feststellungsbescheid haben wir bisher nicht erteilt.
Der Klägerin ist in Polen für die Zeit vom 1. Juni 1945 bis zum 31. Oktober 1948 als Witwe, die zwei unter 18 Jahre alte Kinder zu versorgen hatte, eine Witwenrente aus dem Fond der Arbeiterpensionsversicherung gezahlt worden.
Am 7. Februar 1957 meldete sich die Klägerin mit ihrem Sohn J in E an und beantragte am 12. Februar 1957 die Zahlung von Hinterbliebenenrente. Mit Bescheid vom 18. April 1957 gewährte die Beklagte der Klägerin und ihrem Sohn ab 1. März 1957, dem Monatsersten nach ihrem Eintreffen in der Bundesrepublik, Hinterbliebenenrenten.
Mit der gegen diesen Bescheid erhobenen Klage vor dem Sozialgericht (SG) Duisburg erstrebte die Klägerin eine Zahlung von Hinterbliebenenrente auch für die Zeit vom 1. März 1953 bis Ende Februar 1957. Für die Zeit vorher hatte die Beklagte Verjährung gemäß § 29 Abs. 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) geltend gemacht.
Mit Urteil vom 17. Dezember 1962 verurteilte das SG die Beklagte, die Hinterbliebenenrenten bereits ab 1. März 1953 zu gewähren und ließ gegen das Urteil die Berufung zu.
Die gegen das Urteil von der Beklagten beim Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen eingelegte Berufung blieb ohne Erfolg. Das LSG ist der Ansicht, daß die Voraussetzungen für ein Ruhen der Rentenleistung nicht vorliegen. Die Klägerin sei als Inländerin im Sinne von § 615 Abs. 1 Nr. 2 RVO aF anzusehen. Sie habe durch den Erwerb der polnischen Staatsangehörigkeit ihre deutsche nicht verloren, weil nach § 17 Ziff. 2 und § 25 des deutschen Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes ( RuStAngG ) vom 22. Juli 1913 ein Deutscher, der im Inland weder Wohnsitz noch dauernden Aufenthalt habe, durch den Erwerb einer ausländischen Staatsangehörigkeit die deutsche nur dann verliere, wenn dieser Erwerb auf seinen Antrag erfolgt sei. Es beständen zwar Bedenken gegen die Angabe der Klägerin, daß sie die polnische Staatsangehörigkeit ohne Antragstellung erworben habe, weil die polnische Staatsangehörigkeit grundsätzlich nur auf Antrag verliehen werde, jedoch müsse man die Lage der Klägerin berücksichtigen, als sie im Jahre 1947 die polnische Staatsangehörigkeit erwarb. Selbst wenn man davon ausgehe, daß die Klägerin die polnische Staatsangehörigkeit erst nach Stellung eines diesbezüglichen Antrages erworben habe, habe sie im vorliegenden Fall die deutsche Staatsangehörigkeit nicht verloren. Das RuStAngG habe die Gründe für den Erwerb und Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit nicht erschöpfend regeln können, weil der Gesetzgeber im Jahre 1913 die sich aus den beiden Weltkriegen ergebenden Umgestaltungen der politischen Verhältnisse noch nicht habe übersehen können. Die Klägerin habe in einer Zwangslage gehandelt. Auf der einen Seite sei ihr nicht erlaubt worden, in ihre Heimat zurückzukehren, auf der anderen Seite habe sie als Deutsche ohne die polnische Staatsangehörigkeit Nachteile zu erdulden gehabt. Die Annahme der polnischen Staatsangehörigkeit sei nötig gewesen, um die Grundlage für eine einigermaßen erträgliche Lebenshaltung für sich und ihre Kinder zu schaffen. Obwohl sich die Klägerin als deutsche Staatsangehörige im Ausland aufgehalten habe, seien die Voraussetzungen für ein Ruhen ihres Rentenanspruchs nach § 615 Abs. 1 Nr. 2 RVO aF nicht gegeben, weil sie der Beklagten ihren Aufenthaltsort bekanntgegeben habe. Auch die Voraussetzungen des § 8 Abs. 1 Nr. 1 Fremdrenten- und Auslandsrentengesetz (FAG) seien erfüllt, denn der Ehemann der Klägerin habe sich seine Berufskrankheit, an der er verstorben sei, im Bundesgebiet zugezogen. Schließlich sei auch der nach § 8 Abs. 2 letzter Satz FAG erforderliche Antrag in den Jahren 1946 und 1948 gestellt worden. Es sei nicht erforderlich gewesen, diesen Antrag nach dem Inkrafttreten des FAG zu wiederholen. Der Wohnsitzgrundsatz, der nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts auf die in der sowjetischen Besatzungszone wohnenden Rentenberechtigten anzuwenden sei, könne hier nicht zur Anwendung kommen. Gegen das Urteil ließ das LSG die Revision zu.
Die Beklagte hat gegen das ihr am 25. Februar 1965 zugestellte Urteil am 18. März 1965 Revision eingelegt und sie innerhalb der verlängerten Revisionsbegründungsfrist begründet. Sie ist der Ansicht, daß sich aus der Gewährung einer Witwenrente aus der polnischen Arbeiterrentenversicherung ergebe, daß die Klägerin in das polnische Sozialversicherungssystem eingegliedert gewesen sei. Daher sei auch auf den vorliegenden Fall der Wohnsitzgrundsatz anzuwenden.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 15. Dezember 1964 und das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 17. Dezember 1962 aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
das angefochtene Urteil mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie bezieht sich auf die nach ihrer Ansicht zutreffenden Gründe des angefochtenen Urteils.
II
Die zulässige Revision ist nicht begründet. Die Hinterbliebenenrente ist der Klägerin auch für die Zeit vom 1. März 1953 bis zum Ablauf des Monats Februar 1957 zu gewähren. Es kann dahingestellt bleiben, ob die Klägerin durch die Verleihung der polnischen Staatsangehörigkeit die deutsche Staatsangehörigkeit verloren hat oder nicht; jedenfalls hat sie am 29. März 1947 die polnische Staatsangehörigkeit erworben. Es kann vor allem dahinstehen, ob die Klägerin, materiell-rechtlich gesehen, einen Anspruch auf Hinterbliebenenrente für die streitige Zeit hat; denn die Beklagte ist auf jeden Fall verpflichtet, den Rentenanspruch für die streitige Zeit festzustellen und diese Rente auszuzahlen.
Wenn auch das Schreiben der Beklagten vom 30. Juni 1948 kein förmlicher Rentenfeststellungsbescheid ist, so ist es doch, zumindest in Verbindung mit dem Schreiben der Beklagten vom 10. Januar 1949, als Zusage auf Erteilung eines den Witwenrentenanspruch der Klägerin anerkennenden Rentenfeststellungsbescheids anzusehen; die Klägerin mußte nämlich aus diesen beiden Schreiben den Schluß ziehen, daß ihr der eine Hinterbliebenenrente zusprechende Bescheid demnächst erteilt werden sollte. Diese Zusage war, da die Klägerin als polnische Staatsangehörige zu den Berechtigten des damaligen Besatzungsrechts gehörte und auch die übrigen Voraussetzungen für die Rentengewährung vorlagen, rechtmäßig. Es kann dahingestellt bleiben, ob die Beklagte berechtigt gewesen wäre, diese Zusage auf Grund veränderter rechtlicher Verhältnisse - etwa wegen der Aufhebung des Besatzungsrechts, das u.a. die Rechtsgrundlage für die Zusage abgegeben hatte - zurückzunehmen. Der Grundsatz des Vertrauensschutzes verlangt jedenfalls bei Zusagen dieser Art, die wiederkehrende, zum Unterhalt bestimmte Rentenleistungen betreffen, anzunehmen, daß die Zurücknahme einer solchen Zusage nur mit Wirkung von dem Zeitpunkt der Zurücknahme an und nicht rückwirkend erfolgen kann, wobei das Recht des Versicherungsträgers, die Verjährung geltend zu machen, unberührt bleibt. Da derartige Leistungen zur Bestreitung des laufenden Lebensunterhalts verwendet werden, führt eine solche Zusage dazu, daß der Versicherte seinen Lebensstandard auf die zu erwartende Rente einstellt; er muß sich also darauf verlassen können, daß diese Rente demnächst auch festgestellt und ausgezahlt wird.
Der angefochtene Bescheid vom 18. April 1957 enthält - u.a. - die stillschweigende Zurücknahme der gegebenen Zusage für die Vergangenheit. Gerade für die Vergangenheit aber durfte die Beklagte, soweit sie nicht Verjährung geltend gemacht hat, diese Zusage nicht zurücknehmen, so daß sie der Klägerin die Rente für die Zeit, für die keine Verjährung geltend gemacht werden konnte, zu gewähren hat. Das LSG hat die Beklagte daher im Ergebnis zu Recht verurteilt, die Rente auch noch für diesen Zeitraum zu gewähren. Daher war die gegen das Urteil des LSG gerichtete Revision zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen