Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 24.11.1989) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 24. November 1989 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Verfahrens, an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Streitig ist der Anspruch des am 18. September 1964 geborenen Klägers auf Versorgung wegen eines Impfschadens (Hirnleiden mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit ≪MdE≫ um 100 vH), den das Sozialgericht (SG) auf die im Oktober und November 1967 und im Februar 1968 durchgeführte Trivirelon-Impfung gegen Diphtherie, Tetanus und Poliomyelitis als Ursache zurückgeführt hat (Urteil des SG vom 20. März 1987). Das SG hatte den Zeugen, vor allem der Großmutter des Klägers, geglaubt, daß die ersten Zeichen der Erkrankung des Klägers in engem zeitlichen Zusammenhang mit diesen Impfungen aufgetreten seien. Daher könne von einer unüblichen Impfreaktion ausgegangen werden. Der bestehende Hirnschaden sei mit Wahrscheinlichkeit hierauf zurückzuführen.
Der vom Landessozialgericht (LSG) gehörte weitere Sachverständige hat diese Ansicht bestätigt. Das LSG hat jedoch nach Erstattung dieses Gutachtens die Zeugen erneut gehört und sodann die Auffassung vertreten, daß durch sie die unübliche Impfreaktion nicht nachgewiesen werden könne (Urteil des LSG vom 24. November 1989).
Der Kläger hat die – vom Senat zugelassene – Revision mit der Rüge der Verletzung von Verfahrensrecht eingelegt.
Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen,
hilfsweise den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers ist im Sinne der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet. Die vom LSG ermittelten Tatsachen – soweit sie verwertbar sind – reichen zu einer abschließenden Entscheidung nicht aus.
Das LSG hat durch eine Tatsachenfeststellung, für die bis zu diesem Zeitpunkt keine Hinweise vorlagen, sein Recht auf freie richterliche Beweiswürdigung (§ 128 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) überschritten und damit zugleich dem Kläger nicht im gebotenen Umfang rechtliches Gehör (§ 62 SGG, § 103 Abs 1 Grundgesetz -GG-) gewährt.
Das Prozeßgrundrecht auf rechtliches Gehör gibt den Beteiligten einen Anspruch darauf, daß sie Gelegenheit erhalten, sich zu dem einer gerichtlichen Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt vor Erlaß dieser Entscheidung zu äußern. Das Gericht ist vor allem verpflichtet, nach einer Beweisaufnahme den Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben (§ 128 Abs 2 SGG). Dazu bestand zwar nach der Beweisaufnahme vor dem Einzelrichter des LSG in der mündlichen Verhandlung Gelegenheit. Das reichte hier jedoch nicht aus. Ist erkennbar, daß die Beteiligten einen Gesichtspunkt übersehen oder für unerheblich gehalten haben, so darf das Gericht seine Entscheidung auf diesen Gesichtspunkt nur stützen, wenn es den Beteiligten vorher durch einen besonderen Hinweis Gelegenheit zur Äußerung gegeben hat. Es soll verhindert werden, daß die Beteiligten durch eine Entscheidung überrascht werden, zu der sie nach dem tatsächlichen Sach- und Streitstand bisher keine Veranlassung hatten, Stellung zu nehmen. Damit soll ihnen Gelegenheit gegeben werden, ihren Tatsachenvortrag zu ergänzen und evtl weitere Beweise anzubieten.
In besonderem Maße werden die Beteiligten von einer Entscheidung überrascht, wenn sie in den Entscheidungsgründen einer Beweiswürdigung begegnen, für die bisher keine Hinweise vorlagen (BSG SozR 1500 § 62 Nr 20). Das ist dann der Fall, wenn aus dem Akteninhalt und dem bisherigen Verlauf des Verfahrens Grund zur Annahme besteht, daß lediglich noch medizinische Fragen der Wahrscheinlichkeit eines Ursachenzusammenhangs zu entscheiden sein werden, nicht aber der Nachweis eines schädigenden Ereignisses (BSG SozR 1500 § 160 Nr 70).
Nach dem Verlauf des gesamten Verfahrens konnte sich der Kläger sicherwähnen, daß das schädigende Ereignis bei der Impfung nicht mehr zweifelhaft erschien. Dies hatte das SG aus seiner Zusammenschau der Ereignisse, unter Auswertung der Zeugenaussagen und der Sachverständigengutachten so gesehen. Dem hatte sich der zweitinstanzliche Gutachter in dem Rahmen angeschlossen, in dem ihm die sachverständige Bewertung von Indizien oblag. Zwar gehört es auch zu den Grundlagen des Prozeßrechts, daß die Beweise abschließend erst durch das Gericht in voller Besetzung aufgrund der mündlichen Verhandlung gewürdigt werden. Der Sinn des Rechtsgesprächs in der mündlichen Verhandlung ist es jedoch, die Anträge der Beteiligten auf das dem Streitstand entsprechende Maß einzurichten. Dies ist hier nicht geschehen. Der Kläger ist durch die Entscheidung überrascht worden. In Kenntnis der neuen, ihm ungünstigen, Beweiswürdigung bereits bekannter Tatsachen und Zeugenaussagen hätte er – wie er in der Revision vorträgt – den bereits schriftsätzlich angekündigten Antrag auf ergänzende Vernehmung des Sachverständigen gestellt. Zu diesem Zweck hätte ggf die mündliche Verhandlung wieder eröffnet werden müssen.
Damit hätte zugleich Gelegenheit bestanden, auch dem Sachverständigen den zur Erstattung eines vollständigen und verwertbaren Gutachtens maßgeblichen Sachverhalt vorzugeben (vgl BSG SozR 1500 § 128 Nr 37). Da der Sachverständige nicht nur zur Kausalität, sondern auch zur Frage des schädigenden Ereignisses gehört worden war, hätte das LSG hier die Sachverständigenaussage nicht frei würdigen und dem Gutachten durch Auslegung einen neuen Inhalt geben dürfen. Hält nämlich ein Sachverständiger eine rechtserhebliche Tatsache für bewiesen und beruht sein Gutachten hierauf, wird es unbrauchbar, sofern das Gericht die Tatsachen zwar weiterhin für rechtserheblich, jedoch für nicht bewiesen hält. Welche Schlußfolgerungen einem Sachverständigen auch ohne diese tatsächlichen Vorgaben möglich wären, kann dem Gutachten durch Auslegung nicht entnommen werden. Es ist eine erneute Befragung erforderlich. Der Kläger hat dies gerügt und ggf weitere Beweise angeboten. Die Feststellung, es fehle an dem Nachweis einer unüblichen Impfreaktion, beruht demnach auf Verfahrensfehlern, so daß insoweit neue – verfahrensfehlerfreie – Feststellungen notwendig sind. Dazu ist die Sache an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).
Fundstellen