Leitsatz (redaktionell)
Bei der Prüfung der Voraussetzung für eine Rentenentziehung nach RVO § 1286 ist von den Verhältnissen zur Zeit der Rentenbewilligung auszugehen.
Normenkette
RVO § 1286 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 18. Juni 1965 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die Kosten auch des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
Die Beteiligten streiten um die Berechtigung einer Rentenentziehung.
Bei dem Kläger wurden anläßlich einer Röntgenreihenuntersuchung tuberkulöse Veränderungen im linken Oberfeld der Lunge gefunden; im Sommer 1956 stellte Dr. B vom Gesundheitsamt M bei ihm eine aktive Lungentuberkulose fest (Gutachten vom 4. September 1956). Deshalb gewährte die Beklagte dem Kläger vom 15. November 1956 bis 11. April 1957 ein Heilverfahren im Sanatorium R in H. Bei der Aufnahme und bei der Entlassung wurde folgende Diagnose gestellt:
"Geschlossene, doppelseitige, vorwiegend produktiv-indurative, zur Verkalkung neigende Lungentuberkulose - Re.O/I, Li.I - mit älteren Kalkschatten in beiden Hilden."
Im Entlassungsbericht heißt es ua, der Lungenprozeß habe sich röntgenologisch nur geringgradig induriert; bei der zur Verkalkung neigenden Form sei eine wesentliche Änderung auch nicht zu erwarten gewesen. Der Gesundheitszustand des Klägers wurde als gebessert, die Tuberkulose als "klinisch noch aktiv, stillstehend" bezeichnet.
Am 23. April 1957 stellte der Kläger einen Antrag auf Versichertenrente. Auf Veranlassung der Beklagten untersuchte Dr. K vom Gesundheitsamt M den Kläger am 25. Mai 1957. Er diagnostizierte in seinem Gutachten vom 10. Juni 1957 eine "geschlossene produktiv-indur. Lungentbc" und bezeichnete den Kläger als vorübergehend invalide seit November 1956 mit Aussicht auf Behebung der Invalidität in etwa ein bis zwei Jahren.
Durch Bescheid vom 7. Juni 1958 bewilligte die Beklagte dem Kläger "Invalidenrente gemäß § 1253 RVO" vom 12. April 1957 an, dem Tage nach dem Abschluß des ersten Heilverfahrens.
In der Zeit vom 9. August bis 8. November 1960 gewährte die Beklagte dem Kläger ein zweites Heilverfahren im Sanatorium B in W und vom 20. November 1962 bis 20. Februar 1963 ein drittes in der Höhenklinik B. Der zweite Entlassungsbericht enthält die Diagnose: "Beidseitige, geschlossene, zum Stillstand neigende Spitzenobergeschoß-Tuberkulose, Verdacht auf begleitende silikotische Veränderungen", der dritte die Diagnose: "Doppelseitige geschlossene prod.-indur. Spitzenobergeschoßtbc , Eierschalensilikose".
Mit Bescheid vom 3. Mai 1963 entzog die Beklagte dem Kläger die Rente vom 1. Juli 1963 an mit der Begründung, es sei eine wesentliche Besserung in seinem Gesundheitszustand eingetreten.
Mit der hiergegen erhobenen Klage hat der Kläger beantragt, den Entziehungsbescheid aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Rente über den 30. Juni 1963 hinaus weiterzugewähren. Demgegenüber äußerte die Beklagte: Bei der Prüfung, ob im Gesundheitszustand des Klägers eine Änderung eingetreten sei, müsse von dem ersten ärztlichen Gutachten - vom 4. September 1956 - ausgegangen werden, nicht vom Zustand zur Zeit des Rentenbeginns. Zu jener Zeit habe aber eine aktive, infiltrative Lungentuberkulose bestanden. Im übrigen sei bei der Rentengewährung berücksichtigt worden, daß damals noch eine erhöhte Gefährdung bestanden habe, was z.Zt. der Rentenentziehung nicht mehr der Fall gewesen sei.
Das Sozialgericht (SG) Duisburg hat mit Urteil vom 26. Februar 1964 die Klage abgewiesen. Es hat ausgeführt: Gegenüber den der Rentenbewilligung zugrunde liegenden Verhältnissen, niedergelegt in den bis Mai 1957 erhobenen Befunden, sei eine wesentliche Änderung eingetreten; sie sei in dem jahrelangen inaktiv bleiben der vorher aktiven und der Natur nach zu Rückfällen neigenden Krankheit, also in dem Herabsinken ihres Gefährdungsgrades zu erblicken.
Auf die Berufung des Klägers hin hat das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen durch Urteil vom 18. Juni 1965 unter Abänderung der erstinstanzlichen Entscheidung den Entziehungsbescheid der Beklagten vom 3. Mai 1963 aufgehoben. Es hat ausgeführt: Die dem Kläger gewährte Leistung gelte als Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (Art. 2 § 38 Abs. 2 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes - ArVNG -). Sie könne nur entzogen werden, wenn der Berechtigte nicht mehr berufsunfähig sei (§ 1286 Abs. 1 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung - RVO -). Bei der Prüfung, ob eine "Änderung der Verhältnisse" eingetreten sei, sei nicht von den Verhältnissen zur Zeit der ersten ärztlichen Untersuchung, sondern von denen zur Zeit der Bewilligung der Rente - 7. Juni 1958 - auszugehen. Es komme nicht darauf an, was für die Behörde subjektiv beim Erlaß des Verwaltungsakts maßgebend gewesen sei, sondern auf die Verhältnisse, die bei der Rentenbewilligung in Wirklichkeit vorgelegen hätten. - Die Würdigung der Beweise habe dem LSG nicht die Überzeugung verschafft, daß seit Juni 1958 eine wesentliche Besserung eingetreten sei; es lasse sich nicht ausschließen, daß der Zustand zur Zeit der Rentenentziehung schon bei der Erteilung des Bewilligungsbescheides bestanden habe. Nach dem - vom Senat eingeholten - Gutachten des Dr. K sei nämlich die Lungentuberkulose des Klägers wahrscheinlich schon im Jahre 1957 inaktiv und nicht mehr behandlungsbedürftig gewesen. Andererseits sei es nach den von dem behandelnden Arzt Dr. P erhobenen Befunden nicht auszuschließen, daß die Tuberkulose noch aktiv sei. - Gehe man indessen zugunsten der Beklagten davon aus, daß die Tuberkulose im Jahre 1957 inaktiv geworden sei, so könnte die Rente auch unter Berücksichtigung des Urteils des Bundessozialgerichts (BSG) vom 27. Februar 1963 - 9 RV 790/60 - (BVBl 1963, 123) nicht entzogen werden, weil dann der Zustand der Aktivität (im August 1956 bei einer Reihenuntersuchung festgestellt) nur etwa neun Monate, nämlich bis zur Entlassung aus dem Heilverfahren in H, gedauert, während der Zustand der Inaktivität bereits vor der Rentenbewilligung mehr als dreizehn Monate betragen hätte. Die Beklagte hätte dann keinen Anlaß zur Gewährung einer Rente auch für die Zukunft gehabt.
Das LSG hat die Revision zugelassen, die Beklagte das Rechtsmittel eingelegt und wie folgt begründet: Für die Bewilligung der Rente sei der gesundheitliche Zustand des Klägers, wie er sich aus dem ärztlichen Gutachten vom 4. September 1956 ergeben habe, maßgebend gewesen. Danach habe eine aktive, infiltrative Lungen-Tbc vorgelegen. Wegen dieser Krankheit sei für den Kläger eine Heilmaßnahme durchgeführt und ihm anschließend Rente bewilligt worden. Bei der Prüfung, ob die Verhältnisse sich geändert hätten, müsse deshalb vom Gesundheitszustand des Klägers am 4. September 1956 ausgegangen werden. Folge man dieser Auffassung nicht, so könne allenfalls der Zeitpunkt maßgebend sein, von dem an die Rente gewährt worden sei, nämlich dem Monat April 1957. Dies habe das SG klargestellt und eine Änderung in den Verhältnissen von Mai 1963 gegenüber denjenigen von April 1957 darin gesehen, daß die ursprünglich aktive und ihrer Natur nach zu Rückfällen neigende Tuberkulose jahrelang inaktiv geblieben sei. Damit befinde sich das SG in Übereinstimmung mit der Entscheidung in BSG 17, 63. Das LSG habe die darin niedergelegten Grundsätze nicht berücksichtigt. Selbst wenn man bei der anzustellenden Prüfung - mit dem LSG - von dem Zeitpunkt der Bescheiderteilung ausgehe, sei im Gesundheitszustand des Klägers eine Änderung eingetreten. Damals sei die weitere Entwicklung der Tuberkulose noch nicht endgültig zu überblicken gewesen. Vor Ablauf der fünfjährigen Bewährungsfrist (BSG 17, 63, 64) habe nicht mit der Sicherstellung der Heilung gerechnet werden können. Als die Beklagte die Rente entzogen habe, sei die Tuberkulose geheilt gewesen. Wollte man der Beklagten die Möglichkeit verwehren, die über fünf Jahre andauernde Inaktivität der Tuberkulose als Änderung in den Verhältnisse des Klägers zu berücksichtigen, so wäre sie in Zukunft in ähnlichen Fällen gezwungen, schon dann eine klinische Heilung - und nicht nur Besserung - anzunehmen, wenn zum ersten Male Aktivitätszeichen der Tuberkulose ausblieben. Sonst liefe sie Gefahr, in derartigen Fällen § 1286 RVO nicht mehr anwenden zu können. Dies würde aber der Natur des Leidens zuwiderlaufen und den Interessen der Erkrankten nicht dienlich sein.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 18. Juni 1965 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Duisburg vom 26. Februar 1964 zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er bezieht sich im wesentlichen auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils.
Die Revision ist zulässig, aber unbegründet.
Dem LSG ist nach den von ihm getroffenen tatsächlichen Feststellungen, die von der Revision nicht angegriffen worden und deshalb für das BSG bindend sind (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -), darin beizupflichten, daß der mit der Klage angefochtene Rentenentziehungsbescheid der Rechtsgrundlage entbehrt und deshalb keinen Bestand haben kann.
Die Entziehung einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit - als solche gilt die dem Kläger durch Bescheid vom 7. Juni 1958 bewilligte "Invalidenrente" auch nach der Auffassung der Beklagten - setzt nach § 1286 Abs. 1 RVO voraus, daß der Rentenempfänger "infolge einer Änderung in seinen Verhältnissen" nicht mehr berufsunfähig ist. Es sind demnach die Verhältnisse des Rentners in zwei Zeitpunkten miteinander zu vergleichen, dem - in seiner genauen Festlegung unter den Beteiligten umstrittenen - Ausgangszeitpunkt und dem Endzeitpunkt, in dem die Leistung entzogen - oder geändert - werden soll. Als maßgeblichen Ausgangszeitpunkt hat das LSG mit Recht den Tag angesehen, an welchem dem Kläger eine Rente für eine unbestimmte Zeit bewilligt worden ist. Daß es in diesem Sinne auf die Zeit der Rentengewährung ankommt, hat das BSG wiederholt sowohl für das Gebiet der gesetzlichen Rentenversicherung als auch für das Gebiet der Kriegsopferversorgung ausgesprochen (BSG 7, 215 und 295 zu § 1293 RVO aF; BSG 7, 8, 12 zu § 62 BVG; vgl. auch BGH in MDR 1965, 648 Nr. 36 zu § 35 des Bundesentschädigungsgesetzes); zuletzt ist diese Auffassung noch im Urteil des BSG vom 7. Juli 1966 (SozR Nr. 9 zu § 1286 RVO) zum Ausdruck gekommen. Die Richtigkeit dieser Auffassung folgt daraus, daß der Versicherungsträger, wenn er eine Rente unbegrenzt für die Zukunft bewilligt, die Voraussetzungen der Rentengewährung nicht nur für irgendeinen Zeitpunkt in der Vergangenheit (Ausbruch der zur Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit führenden Krankheit, ärztliche Befunderhebung oder Eintritt des Versicherungsfalles), sondern auch und vor allem für den Zeitpunkt seiner Entscheidung bejaht. Erst wenn sich die in diesem Zeitpunkt bestehenden Verhältnisse geändert haben und diese Änderung zur Behebung der Berufsunfähigkeit geführt hat, darf die Rente entzogen werden. Träfe die Auffassung der Beklagten zu, daß es bei unterschiedlichen Verhältnissen zur Zeit der Rentenbewilligung einerseits und dem - vor dem Erlaß des Bescheides liegenden - Rentenbeginn andererseits auf die Verhältnisse zur Zeit des Rentenbeginns ankomme, so wäre es dem Versicherungsträger möglich, eine auf den Zeitpunkt der Rentenbewilligung bezogene Fehlbeurteilung der Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit des Versicherten ohne weiteres durch eine Rentenentziehung zu korrigieren, ein Ergebnis, das in ständiger Rechtsprechung des BSG mißbilligt wird (zB BSG 6, 25;7, 295; 8, 241; BSG in SozR Nr. 6 zu § 1286 RVO). Hieraus folgt zugleich, daß bei der Prüfung der "Änderung der Verhältnisse" erst recht nicht - wie die Beklagte meint - der noch vor dem Rentenbeginn liegende Zeitpunkt der ersten Feststellung der die Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit begründenden Krankheit verglichen werden darf.
Das LSG hat somit das Tatbestandsmerkmal "Änderung der Verhältnisse" richtig gedeutet; auch seine Rechtsanwendung auf den vorliegenden Sachverhalt ist nicht zu beanstanden. Da nach der - von der Revision nicht angegriffenen - Tatsachenfeststellung des LSG nicht feststeht und auch nicht festgestellt werden kann, ob die Lungentuberkulose des Klägers noch aktiv ist oder, falls dies nicht zutrifft, ob sie schon 1958 - zur Zeit der Rentenbewilligung - inaktiv war, konnte das LSG auch keine Änderung in den Verhältnissen des Klägers feststellen. Deshalb hat es mit Recht die Voraussetzungen für eine Entziehung der Rente als nicht gegeben erachtet.
Auf eine Prüfung der vom LSG für seine Entscheidung gegebenen Hilfsbegründung, in der es sich mit dem Urteil des BSG vom 27. Februar 1963 (BVBl 1963, 123; vgl. auch BSG 17, 63 = SozR Nr. 17 zu § 62 BVG) auseinandersetzt, kommt es nicht an.
Die Revision ist somit zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung ergeht in Anwendung des § 193 Abs. 1 SGG.
Fundstellen