Orientierungssatz
Zur Entziehung der Rente wegen Berufsunfähigkeit, nachdem vorher die Leistung von Erwerbsunfähigkeitsrente her umgewandelt worden war.
Normenkette
RVO § 1286 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23, § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23, § 1247 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 28. Oktober 1968 wird aufgehoben. Der Rechtsstreit wird an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
Dem Kläger war im Jahre 1960 die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit bewilligt worden (Bescheid vom 22. September 1960). Er litt an einer Lungentuberkulose. Die Rente wurde zum 1. September 1965 in eine solche wegen Berufsunfähigkeit umgewandelt (Bescheid vom 27. Juli 1965) und mit Ablauf des Monats November 1966 durch den - angefochtenen - Bescheid vom 18. Oktober 1966 entzogen. Der Umwandlungs- sowie der Entziehungsbescheid wurden im wesentlichen gleichlautend dahin begründet, daß der Kläger gesundheitlich wieder in der Lage sei, körperlich nicht anstrengende Arbeiten zu verrichten. In einer späteren Erklärung wurde hinzugefügt, daß der Kläger Erwerbstätigkeiten regelmäßig und ganztägig nachgehen könne.
Der Kläger hat die Rentenentziehung deshalb angefochten, weil er - wie er meint - wegen der Folgen des überstandenen Lungenleidens seinen erlernten Friseurberuf nicht mehr ausüben könne. Diesen Beruf habe er schon 1947 aufgegeben. Seine Lungentuberkulose sei zwar erst 1950 entdeckt worden, tatsächlich habe er sich aber schon vorher wegen seiner schlechten gesundheitlichen Verfassung, die mit dem später aufgetretenen Leiden in Verbindung zu bringen sei, nach einer leichteren Hilfsarbeiterstellung umsehen müssen.
Sozialgericht (SG) und Landessozialgericht (LSG) (Urteile des SG Mannheim vom 15. Dezember 1967 und des LSG Baden-Württemberg vom 28. Oktober 1968) haben den Bescheid vom 18. Oktober 1966 über die Entziehung der Berufsunfähigkeitsrente aufgehoben. Für die Beurteilung, ob die Entziehung der Rente gerechtfertigt sei, kommt es nach der Auffassung der Vorinstanzen auf einen Vergleich an zwischen den Verhältnissen zur Zeit der Rentenumwandlung - Anfang September 1965 - und denen bei der Rentenentziehung - Ende November 1966 -. Dazu haben sie festgestellt, daß nach der Umwandlung der Leistung eine weitere Besserung im Krankheitsgeschehen des Klägers nicht nachgewiesen sei. Die medizinischen Befunde ließen objektiv keinen beachtlichen Unterschied erkennen. Ob die Berufsunfähigkeit des Klägers nicht schon bei der Rentenumwandlung entfallen gewesen sei, könne dahingestellt bleiben. Jedenfalls seien die Tatsachen, die zur Umwandlung der Rente geführt hätten, als Vergleichsmaßstab für eine Rentenentziehung "verbraucht". - Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat das Rechtsmittel eingelegt. Sie beantragt, die vorinstanzlichen Urteile aufzuheben und die Klage abzuweisen. Sie wendet sich gegen die Auslegung, welche der hier maßgeblichen Vorschrift des § 1286 der Reichsversicherungsordnung (RVO) in dem in BSG 28, 292 veröffentlichten Urteil des Bundessozialgerichts gegeben worden ist. Der in § 1286 Abs. 1 Satz 3 RVO verwendete Begriff der "Umwandlung" bedeute - so meint sie - nichts anderes als eine Teilentziehung. Für deren Berechtigung müsse es auf einen Vergleich mit den Gegebenheiten bei der ursprünglichen Rentenbewilligung ankommen. Das LSG habe jedoch die Umwandlung so angesehen, als sei erstmalig mit ihr die Berufsunfähigkeitsrente zuerkannt worden. Das sei schon vom Begrifflichen her unverständlich; denn der Tatbestand der Erwerbsunfähigkeit umfasse den der Berufsunfähigkeit. Es erscheine konstruiert, wenn man die Leistungen wegen des einen dieser Tatbestände nicht als eine weitere Stufe der anderen Leistung auffasse. Wer - wie das Berufungsgericht - für den anzustellenden Vergleich auf die Zeit der Umstellung abhebe, gerate in Schwierigkeiten, wenn die Erwerbsunfähigkeitsrente nicht anfänglich zugleich mit der Rente wegen Berufsunfähigkeit gewährt worden sei, die Erwerbsunfähigkeitsrente vielmehr die andere Leistung nur zeitweilig überdeckt habe. Dann sei es sicher nicht zutreffend, sich nach dem Sachstand zur Zeit der Umwandlung zu orientieren. Die Ansicht des Berufungsgerichts werde im übrigen den häufig anzutreffenden Fallbesonderheiten nicht gerecht, nämlich dann nicht, wenn die Erwerbsunfähigkeit einwandfrei behoben, über die Fortdauer der Berufsunfähigkeit aber noch nicht die ausreichende Gewißheit gewonnen sei, und zwar deshalb nicht, weil eine langdauernde Krankheit, wie eine Leber- oder Geisteskrankheit, aber auch eine Tuberkulose Neubildungen befürchten lasse. Solche Leiden gestatteten es nicht, den Kranken auf einmal, ohne eine Übergangsphase, in das Erwerbsleben zu entlassen. Ein solcher Sachverhalt habe auch hier vorgelegen. Das habe das LSG verkannt. Es habe sich ohne eigene medizinische Sachkunde über die Stellungnahme der Medizinalrätin Dr. H hinweggesetzt. Diese Sachverständige, deren Gutachten 1965 der Umwandlung der Rente zugrunde gelegt worden sei, habe sogar noch die Erwerbsunfähigkeit des Klägers bejaht. Die Sachverständige habe eine endgültige Sanierung des Krankheitsbefundes nur für den Fall eines operativen Eingriffs in Aussicht gestellt. Ein konservatives Heilverfahren werde sich, so habe sie erklärt, lediglich günstig auf die Abwehrfunktion auswirken. Eine besondere Vorsicht in der Begutachtung sei um so mehr geboten gewesen, als das Tuberkuloseleiden des Klägers in der Vergangenheit schon einmal reaktiv geworden sei und man außerdem ärztlicherseits noch kurze Zeit vor der Rentenumwandlung mit der Möglichkeit des Ausscheidens von Bazillen gerechnet habe. Diese Umstände habe das LSG unberücksichtigt gelassen. Fehlerhaft seien auch die Folgerungen, die das Berufungsgericht aus der Beurteilung durch Obermedizinalrat Dr. P gezogen habe. Dieser Sachverständige habe 1966 der Tatsache gegenübergestanden, daß der Gesundheits- und Kräftezustand des Klägers trotz längerer Arbeitsleistung stabil geblieben sei. Darauf habe sich das Resultat gegründet, daß "der tuberkulöse Lungenprozeß nunmehr zur Ruhe gekommen" sei. Obgleich das "nunmehr" deutlich genug habe erkennen lassen, was der Sachverständige habe sagen wollen, habe jedoch das LSG eine genauere Angabe des Zeitpunktes vermißt, zu dem der Stillstand in der Genesung des Klägers erreicht gewesen sei. Das LSG hätte von seiner Sicht her den Sachverhalt durch Rückfrage an den Sachverständigen weiter aufklären müssen und nicht annehmen dürfen, eine Änderung der Verhältnisse zwischen den Untersuchungen durch Frau Dr. H und durch Dr. P sei zu verneinen.
Der Kläger ist in diesem Rechtszuge nicht vertreten.
Die Revision hat im Ergebnis, nicht aber in ihren rechtlichen Ausgangsüberlegungen Erfolg.
Das LSG hat als Maßstab für die Änderung der Verhältnisse zutreffend den Geschehensablauf angesehen, wie er sich von der Umwandlung der Erwerbsunfähigkeitsrente an bis zur Entziehung der Rente wegen Berufsunfähigkeit entwickelt hat. Der Zeitpunkt der Umwandlung hat für die Anspruchsberechtigung eine selbständige Bedeutung. Dies bringt der Wortlaut des § 1286 Abs. 1 Satz 3 RVO zum Ausdruck. Nach dieser Vorschrift ist - statt einer uneingeschränkten Rentenentziehung - die Umwandlung nur erlaubt, wenn der Berechtigte "nicht mehr erwerbsunfähig, aber noch berufsunfähig ist". Der Versicherungsträger, der sich zur Umwandlung entschließt, hat sich also Rechenschaft darüber zu geben, daß die Leistungsberechtigung wegen Berufsunfähigkeit weiter besteht. Ist einem Versicherten lediglich die höhere Rente genommen worden, dann hat die Verwaltung damit zu erkennen gegeben, daß sie den Berechtigten noch für berufsunfähig gehalten hat. Die Umwandlung der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit in eine solche wegen Berufsunfähigkeit enthält notwendig zwei Aussprüche, nämlich einmal die Entscheidung über das Ende des einen Bezugsrechts und zum anderen zugleich die Erklärung über den Bestand des anderen Anspruchs (BSG 28, 292). Für diese Auslegung ist es gleichgültig, wie die Beziehung der einen Leistung zur anderen rechtlich zu qualifizieren ist. In § 1247 Abs. 5 RVO heißt es dazu, daß "neben einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit eine Rente wegen Berufsunfähigkeit nicht gewährt" wird. Daraus und aus der Vorschrift des § 1253 Abs. 2 Satz 2 RVO über die Umwandlung der Berufsunfähigkeitsrente in eine Erwerbsunfähigkeitsrente mag man folgern, daß die niedrigere Leistung in der höheren aufgeht - so die Revision -oder daß die eine Rente latent neben der anderen bestehen bleibt und von dieser nur überdeckt wird (vgl. BSG 25, 139). In jedem Falle ist die in § 1286 Abs. 1 Satz 3 RVO ausdrücklich angeordnete Zäsur zu beachten, die daraus folgt, daß nicht nur das Ende der Erwerbsunfähigkeit festgestellt, sondern auch über die weitere Rentenberechtigung wegen Berufsunfähigkeit befunden worden ist.
Aus diesem Grunde darf die Rente wegen Berufsunfähigkeit nur entzogen werden, wenn sich seit der Rentenumwandlung die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit des Versicherten so gebessert hat, daß seine Berufsunfähigkeit behoben ist. Diese Auffassung schließt indessen nicht aus, daß auch das frühere - für die Rentenbewilligung maßgebliche - Tatsachengeschehen zu beachten ist. Häufig wird nur der Überblick über den gesamten Verlauf einer Krankheit Aufschlüsse darüber zulassen, ob und in welchem Ausmaß eine Leidensentwicklung zum Stehen gekommen ist, inwieweit, unter welchen Umständen und wie lange noch mit Komplikationen zu rechnen und von wann an die akute Möglichkeit von Rückschlägen sowie neuen Krankheitsschüben, aber auch die Ansteckungsgefahr für die Umgebung nicht mehr ins Auge zu fassen ist. Diese, für den jeweiligen Sachverhalt bestimmenden Faktoren können nicht unmittelbar aus der Befundbeschreibung in ärztlichen Gutachten abgelesen werden; sie hat der medizinische Sachverständige zu bedenken und auszuwerten, indem er die Beobachtungen des Einzelfalls an den Erfahrungslehren seiner Wissenschaft mißt. Hierbei ist es durchaus denkbar, daß ein bestimmter Zustand einmal so und ein anderes Mal anders diagnostiziert wird, daß allein der Wandel, den der Zeitablauf mit sich bringt, eine größere Gewißheit in der Voraussage von Heilungsablauf und Behandlungserfolg rechtfertigt. Die ärztliche Nachsorge muß gerade bei der Tbc davon geleitet sein, daß noch nach Monaten, nachdem das Leiden als stabilisiert und geheilt angesehen wird, ein Rezidiv auftreten kann (Steinbrück in: Rehabilitation, Organisation und medizinische Praxis, Kongreßberichte, Leipzig 1959, S. 81). Die äußeren Lebensbedingungen und besonders die Belastung durch eine Erwerbstätigkeit können im Zusammenhang mit der völligen Überwindung der Krankheit zu berücksichtigen sein. Deshalb mag es im Einzelfall angezeigt erscheinen, daß der Versicherte nur allmählich und bloß in Abstufungen in seine alltägliche Umwelt zurückkehrt.
Auf dieser Linie liegen die Revisionsangriffe gegen die tatrichterlichen Feststellungen. Selbstverständlich oblag es dem Berufungsrichter, die Darlegungen der ärztlichen Sachverständigen selbständig zu prüfen. Es war nicht daran vorbeizugehen, daß zwei Ärzte im Abstand von wenig mehr als einem Jahr einen im wesentlichen gleichgebliebenen Befund in bezug auf das körperliche Leistungsvermögen des Klägers unterschiedlich einschätzten. Deshalb konnte der Zweifel aufkommen, ob die spätere Beurteilung nicht auch schon für die frühere Zeit zu gelten hatte. Dieser Zweifel erlaubte es aber dem Berufungsrichter nicht, eine vorwiegend in den Bereich medizinischer Sachkunde fallende und von den eingeholten Gutachten abweichende Auffassung ohne weiteres für richtig zu halten. Vielmehr hätte sich das Berufungsgericht die Stellungnahmen der Sachverständigen - so wie es die Beklagte gerügt hat - erläutern lassen müssen.
Die bisherigen Erwägungen des LSG rechtfertigen somit nicht die Entscheidung, daß sich die Verhältnisse des Klägers in der hier fraglichen Zeit nicht verändert hätten. Das Berufungsurteil ist deshalb aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen. Dabei wird das LSG, falls es darauf ankommen sollte, auch Gelegenheit haben, zu prüfen, ob der Kläger den erlernten Beruf eines Friseurs aus Krankheitsgründen oder aus freien Stücken aufgab. Sollte es so gewesen sein, wie der Kläger behauptet, so könnte dadurch seine soziale Einstufung mit beeinflußt sein (dazu BSG 29, 96).
Die Entscheidung über die Erstattung der in diesem Rechtszuge entstandenen Kosten bleibt dem LSG vorbehalten.
Fundstellen