Leitsatz (amtlich)
Die Zulassung eines Rechtsmittels (hier: der Sprungrevision) ist auch dann wirksam, wenn sie - statt wie geboten: im Urteilstenor - an anderer Stelle im Urteil mitgeteilt wird. An dieser Rechtsprechung möchte der 11. Senat auch für künftige Fälle festhalten.
Orientierungssatz
Die Klage auf Feststellung der Anrechenbarkeit einer Ersatzzeit betrifft nicht das Bestehen eines Rechtsverhältnisses iS des SGG § 55 Abs 1 Nr 1, sondern lediglich eine rechtliche Vorfrage eines zukünftigen Rechtsverhältnisses. Eine Feststellungsklage ist daher unzulässig.
Normenkette
SGG § 161 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1974-07-30, § 150 Fassung: 1974-07-30, § 55 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1953-09-03
Verfahrensgang
SG Berlin (Entscheidung vom 21.09.1976; Aktenzeichen S 2 An 2811/75) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 21. September 1976 aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob eine Ersatzzeit der Klägerin anrechenbar ist, wenn sie Beiträge nach § 10 a Abs. 2 des Gesetzes zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung vom 22. Dezember 1970 (WGSVG) für Zeiten vor der Ersatzzeit nachentrichtet hat.
Die 1916 geborene Klägerin ist Verfolgte im Sinn des § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes. Sie mußte infolge nationalsozialistischer Verfolgungsmaßnahmen 1933 ihre Schulausbildung abbrechen und im Oktober 1938 Deutschland verlassen.
Die Beklagte ließ die Klägerin, für die bis dahin keine Beiträge zur Rentenversicherung entrichtet waren, auf ihren Antrag mit Bescheid vom 11. November 1975 zur Nachentrichtung von Beiträgen nach Art. 2 § 49 a Abs. 2 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) zu. In einem weiteren Bescheid vom selben Tag teilte die Beklagte der Klägerin mit, daß sie, wenn 60 Monatsbeiträge nach Art. 2 § 49 a Abs. 2 AnVNG nachentrichtet seien, auch Beiträge nach § 10 a Abs. 2 WGSVG nachentrichten könne. Daraufhin verlangte die Klägerin die Feststellung, daß ihr im Falle einer solchen Nachentrichtung eine Ersatzzeit nach § 28 Abs. 1 Nr. 4 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) angerechnet werde. Mit Schreiben vom 28. November 1975 erwiderte die Beklagte, eine Beitragsnachentrichtung nach § 10 Abs. 2 WGSVG begründe keine Vorversicherung iS des § 28 Abs. 2 Satz 1 AVG.
Das Sozialgericht (SG) hat durch Urteil vom 21. September 1976 festgestellt, daß bei einer Beitragsnachentrichtung für Zeiten vor dem verfolgungsbedingten Auslandsaufenthalt gemäß § 10 a Abs. 2 WGSVG Ersatzzeiten nach § 28 Abs. 1 Ziff. 4 AVG anzurechnen sind. Es hielt die Feststellungsklage für zulässig, weil die Klägerin ein berechtigtes Interesse an der baldigen Feststellung habe. Die Klage sei auch begründet. Nach § 10 a Abs. 2 WGSVG nachentrichtete Beiträge seien so zu behandeln, als seien sie bereits vor dem verfolgungsbedingten Auslandsaufenthalt entrichtet worden; sie begründeten mithin eine Vorversicherung iS des § 28 Abs. 2 AVG.
Im Urteil ist vor der Unterschrift des Vorsitzenden in die vorgedruckte Rechtsmittelbelehrung mit Maschinenschrift als erster Satz eingefügt: "Das Gericht ließ die Revision gemäß § 161 SGG zu." Über eine Verkündung der Zulassung ist in der Sitzungsniederschrift nichts vermerkt.
Mit der Sprungrevision beantragt die Beklagte,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Klage abzuweisen.
Sie rügt eine Verletzung des § 28 Abs. 2 AVG iVm § 10 a Abs. 2 WGSVG.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hat inzwischen Beiträge nach § 10 a Abs. 2 WGSVG nachentrichtet; die Beklagte hat ihr daraufhin Altersruhegeld bewilligt, ohne den Auslandsaufenthalt als Ersatzzeit anzurechnen. Gegen diesen Bescheid hat die Klägerin Klage vor dem SG erhoben.
Entscheidungsgründe
Die Sprungrevision ist zulässig.
Nach § 161 Abs. 1 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) muß die Sprungrevision im Urteil zugelassen werden. Die Zulassung ist auch dann "im Urteil" ausgesprochen, wenn sie in der einen Teil des Urteils bildenden Rechtsmittelbelehrung erfolgt bzw. dort mitgeteilt wird (SozR Nr. 51 zu § 150 SGG; BSG 8, 147). Der Wortlaut muß dabei ergeben, daß das Gericht die Zulassung beschlossen hat; eine Belehrung über Anfechtungsmöglichkeiten genügt nicht (vgl. SozR Nr. 36 zu § 162 SGG). Im vorliegenden Fall läßt der einschlägige Satz keinen Zweifel, daß der Vorsitzende des SG und die mitwirkenden ehrenamtlichen Richter die Zulassung der Revision beschlossen hatten.
Zu Recht haben allerdings der 10. und der 9. Senat des Bundessozialgerichts - BSG - (SozR 1500 § 150 Nrn. 3 und 4) klargestellt, daß der gebotene Platz für die Zulassung im Urteil der Urteilstenor ist. Der Ausspruch der Zulassung gehört in den Urteilstenor, weil die Zulassung eine Entscheidung (prozessuale Nebenentscheidung) darstellt. Für Urteile, die - wie hier - nach mündlicher Verhandlung ergehen, bedeutet dies, daß die Zulassung (mit) zu verkünden ist (§ 132 Abs. 1 SGG); verkündet wird das Urteil nach § 132 Abs. 2 Satz 1 SGG durch Verlesen der Urteilsformel.
Beide Senate halten indessen eine Zulassung im Urteil aus Gründen des Vertrauensschutzes auch dann für wirksam, wenn die Zulassung nicht im Tenor ausgesprochen und mit ihm verkündet worden ist und ihre Bekanntgabe außerdem in der Mitteilung von Entscheidungsgründen bei der Verkündung (§ 132 Abs. 2 Satz 2 SGG) unterblieben ist. Der 9. Senat hat freilich angekündigt, diese an sich nicht gesetzmäßige Entscheidungspraxis könne nur noch für eine begrenzte Zeit hingenommen werden. Dem kann der erkennende Senat nicht folgen. Er hält - wie schon der 7. Senat (Urteil vom 23. März 1977 - 7 RAr 32/76) - an der bisherigen Rechtsprechung fest und möchte dies auch für künftige Fälle tun.
Den Argumenten des 9. Senats (SozR 1500 § 150 Nr. 4) ist zunächst entgegenzuhalten, daß Urteile nicht deswegen unwirksam sind, weil sie statt gebotener Verkündung zugestellt werden (BSGE 3, 209, 211 f; zum umgekehrten Fall vgl. 28, 151); das müßte bei einer "Teilverkündung" gleichermaßen gelten. Im weiteren wird auch bei den Urteilen, die ohne mündliche Verhandlung ergehen, von dem das Urteil schriftlich abfassenden Vorsitzenden erwartet, daß er die beschlossenen Entscheidungen zutreffend wiedergibt; dort gibt es keine zusätzlichen Sicherheiten durch Verkündung oder in sonstiger Weise; etwaige Zweifel, ob die bei Entscheidungen nach mündlicher Verhandlung nur in den Gründen mitgeteilte Zulassung einem Zulassungsbeschluß des Gerichts entspricht, sollten daher kein besonderes Gewicht haben. Im sozialgerichtlichen Verfahren beginnen im übrigen die Anfechtungsfristen erst mit der Zustellung des vollständigen Urteils; zu diesem Zeitpunkt besteht in jedem Falle Klarheit über die Anfechtungsmöglichkeiten. Der Fall schließlich, daß ein Vorsitzender ein Urteil nach Verkündung nicht mehr begründen kann (darf), ist ohnedies besonders gelagert; wenn Urteile keine Gründe enthalten, dürfte es für ihren Bestand keine wesentliche Rolle spielen, ob eine beschlossene Zulassung mitverkündet war oder nicht.
III
Die Sprungrevision ist auch begründet, die Klage muß als unzulässig abgewiesen werden.
Nach § 55 Abs. 1 Satz 1 SGG kann mit der Feststellungsklage nur die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses begehrt werden. Die Klägerin begehrt mit ihrer Klage keine derartige Feststellung. Unter einem Rechtsverhältnis ist eine aus einem bestimmten Sachverhalt im Hinblick auf Rechtsnormen entstandene Rechtsbeziehung (zwischen Personen oder zwischen einer Person und einer Sache) zu verstehen. Schon die Zurücklegung einer Ersatzzeit, erst recht aber die hier allein streitige Frage ihrer Anrechenbarkeit ist, wie der Senat bereits entschieden hat, keine solche Rechtsbeziehung (BSG SozR Nr. 53 zu § 55 SGG), sie ist vielmehr die rechtliche Vorfrage eines Rechtsverhältnisses. Zudem muß es sich in der Regel um ein bestehendes Rechtsverhältnis handeln. Im insoweit maßgebenden Zeitpunkt (vgl. Rosenberg-Schwab, Zivilprozeßrecht, 11. Aufl., S. 476) der Verhandlung vor dem SG bestand aber zwischen der Klägerin und der Beklagten noch kein Rechtsverhältnis im Sinne eines Leistungsverhältnisses; ob und wann es entstehen würde, war noch ungewiß. Unter diesen Umständen kann dahingestellt bleiben, ob das SG das außerdem erforderliche Feststellungsinteresse zu Recht bejaht hat; insoweit bestehen Zweifel, weil nicht dargelegt ist, daß die Klägerin erst nach Gewißheit über die Anrechenbarkeit der Ersatzzeit zur Nachentrichtung nach § 10 a Abs. 2 WGSVG bereit war.
Nach der Rechtsprechung (BSGE 31, 235, 240; 41, 113, 155 mit Hinweisen auf Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts) kann allerdings ausnahmsweise auch bei einem Streit über bloße Vorfragen eine Feststellungsklage (sog. Elementenfeststellungsklage) zugelassen werden, wenn dadurch der Streit der Beteiligten im ganzen bereinigt wird. Die Feststellungsklage könnte jedoch selbst dann, wenn der Streit über die Anrechenbarkeit der Ersatzzeit in dem Streitverfahren über das Altersruhegeld der einzige Streitpunkt wäre und bliebe, auch nicht als "Elementenfeststellungsklage" für zulässig erachtet werden. Diese setzt nämlich ebenfalls ein bestehendes (nur in einem Punkte streitiges) Rechtsverhältnis voraus. Wie aber schon dargelegt, kommt es für die Frage, ob ein Rechtsverhältnis besteht oder nicht (anders als beim Feststellungsinteresse) auf den Zeitpunkt der letzten Verhandlung vor dem Tatsachengericht, hier dem SG, an. Damals bestand noch kein Rechtsverhältnis, in dem allein die Anrechenbarkeit der Ersatzzeit streitig war. Das spätere Entstehen kann der Senat als Revisionsgericht nicht berücksichtigen. Im übrigen bestehen Bedenken, in der Rentenversicherung eine Elementenfeststellungsklage zuzulassen, wenn der Rentenversicherungsträger bereits einen Bescheid über die zu gewährende Leistung erlassen hat. Wenn dieser Bescheid nicht bindend werden soll, muß der Versicherte Anfechtungsklage erheben, was er regelmäßig durch eine verbundene Anfechtungs- und Leistungsklage tut. Einer solchen - hier auch inzwischen erhobenen - Klage gebührt, schon um der sonst eintretenden Bindung des ergangenen Bescheids entgegenzuwirken, der Vorrang vor einer bloßen Feststellungs- einschließlich der Elementenfeststellungsklage.
Die Klage kann schließlich nicht als - zulässige - Verpflichtungsklage nach § 54 Abs. 1 oder Abs. 4 SGG verstanden werden. Es fehlt an einer Rechtsgrundlage, nach der die Beklagte verpflichtet wäre, einen Bescheid über die Anrechenbarkeit einer Ersatzzeit zu erlassen (vgl. SozR aaO). § 145 Abs. 3 AVG und § 13 Abs. 5 Satz 2 der Datenerfassungs-Verordnung vom 24. November 1972 sind nicht einschlägig, da hier weder ein gültiges Versicherungsverhältnis noch ein Ersatzzeitentatbestand festgestellt werden sollen. Auch aus § 104 AVG ergibt sich kein Anspruch auf eine bindende Feststellung der Anrechenbarkeit einer Ersatzzeit. Schließlich hat das Sozialgesetzbuch, Allgemeiner Teil, in den §§ 14 und 15 zwar Rechte auf Beratung und Auskunft, nicht jedoch auch solche auf Feststellung begründet.
Die Kostenentscheidung ergeht nach § 193 SGG.
Fundstellen