Entscheidungsstichwort (Thema)
Verweisung bei Sprachschwierigkeiten eines Ausländers
Orientierungssatz
Ein ausländischer Versicherter kann sich gegenüber der Verweisung auf eine sozial zumutbare Tätigkeit (hier: Qualitätsprüfer) nicht auf die ungenügende Beherrschung der deutschen Sprache berufen, sofern der vergleichbare deutsche Versicherte die erforderlichen Sprachkenntnisse typischerweise besitzt (vgl BSG vom 1980-04-23 4 RJ 29/79 = SozR 2200 § 1246 Nr 61). Dabei kann es keinen Unterschied machen, ob sprachliche Schwierigkeiten im engeren Sinn, oder nicht genügende Kenntnis des Schriftdeutschen vorliegen, und es kann auch nicht aus dem Grunde etwas anderes gelten, wenn der Versicherte die deutsche Staatsangehörigkeit erworben hat, also zumindest im staatsrechtlichen Sinne kein "ausländischer Versicherter" mehr ist.
Normenkette
RVO § 1246 Abs 2 S 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 10.11.1983; Aktenzeichen L 10 J 23/83) |
SG Hannover (Entscheidung vom 03.01.1983; Aktenzeichen S 4 J 503/81) |
Tatbestand
Streitig ist die Gewährung einer Berufsunfähigkeitsrente.
Der Kläger ist 1934 in Jugoslawien geboren. Er erlernte dort in den Jahren von 1948 bis 1950 den Tischlerberuf und arbeitete bis 1954 als Möbeltischler. 1956 übersiedelte er in die Bundesrepublik Deutschland und erwarb 1959 die deutsche Staatsangehörigkeit. Hier war er von 1957 bis 1971 ebenfalls als Möbeltischler beschäftigt. Seit 1973 ist der Kläger in einer Motorenfabrik als Versandarbeiter tätig; er verwaltet auch das Motorenlager und wird zeitweise als Kraftfahrer eingesetzt. Er ist in die Lohngruppe V des Tarifvertrages für die niedersächsische Metallindustrie eingestuft.
Den im Januar 1981 gestellten Rentenantrag lehnte die Beklagte ab, weil der Kläger nicht berufsunfähig sei (Bescheid vom 14. Mai 1981, Widerspruchsbescheid vom 11. September 1981).
Das Sozialgericht (SG) Hannover hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 3. Januar 1983), das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen die Berufung zurückgewiesen und im Urteil vom 10. November 1983 ausgeführt: Wegen Krampfadern an beiden Beinen (am linken Bein nach Thrombose) mit deutlichen Umlaufstörungen und Ekzembildung könne der Kläger vollschichtig nur noch leichte bis mittelschwere Arbeiten überwiegend im Sitzen mit gelegentlichem Wechsel zum Gehen und Stehen verrichten; wegen der Veränderungen an der Wirbelsäule müsse schweres Heben und Tragen vermieden werden. Auszugehen sei vom Beruf des Möbeltischlers als dem bisherigen Beruf, den der Kläger aus gesundheitlichen Gründen habe aufgeben müssen und den er, da es sich um eine zum Teil schwere sowie überwiegend im Stehen und Gehen zu verrichtende Tätigkeit handele, auch nicht mehr ausüben könne. Aus diesen Gründen sei er auf die derzeitige Tätigkeit nicht verweisbar, so daß die Frage der sozialen Zumutbarkeit dieser Tätigkeit offenbleiben dürfe. Der Kläger sei jedoch nach seinem beruflichen Können und Wissen und mit seinen gesundheitlichen Kräften in der Lage, die Tätigkeit eines Qualitätsprüfers auszuüben, wie sie der berufskundige Sachverständige K und das Landesarbeitsamt (LArbA) geschildert hätten. Es handele sich hierbei im Unterschied zur ungelernten Prüftätigkeit (Eingangskontrolle) und zur Facharbeitertätigkeit in der Güte- und Fertigungskontrolle um eine angelernte Prüftätigkeit, wofür in der Regel der Nachweis einer abgeschlossenen Berufsausbildung, gleichgültig in welcher Branche, verlangt werde und die nach einer dreimonatigen Einarbeitungszeit von einem Arbeitnehmer mit Facharbeiterqualifikation ausgeübt werden könne. Der Kläger sei diesen Anforderungen gewachsen. Soweit die Arbeiten in Prüfräumen vorgenommen würden, bestehe keine Taktgebundenheit, und es müsse keine körperliche Zwangshaltung eingenommen, sondern könne in wechselnder Körperhaltung gearbeitet werden. Wenn auch viel dafür spreche, daß der Kläger den ohnehin geringen Anforderungen, die an das Schriftdeutsch gestellt würden, genüge, so komme es darauf aber letztlich nicht an, weil ein vergleichbarer deutscher Versicherter die erforderlichen Sprachkenntnisse typischerweise besitze (Hinweis auf das Urteil des erkennenden Senats vom 23. April 1980 - 4 RJ 29/79 = SozR 2200 § 1246 Nr 61). Daran könne nichts ändern, daß der Kläger deutscher Staatsbürger geworden sei; vielmehr komme es darauf an, daß er in einem fremden Land aufgewachsen sei und dies bei der Verweisung unbeachtlich bleiben müsse.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision macht der Kläger geltend, das LSG habe sich nicht auf die Entscheidung in SozR 2200 § 1246 Nr 61 berufen dürfen, weil auch ein in Deutschland aufgewachsener Facharbeiter nicht ohne weiteres die für einen Prüfbericht erforderlichen Kenntnisse im Schriftdeutsch mitbringe. Das Verfahren vor dem LSG leide auch an einem wesentlichen Mangel. Es habe geklärt werden müssen, in welchem Umfang schriftliche Äußerungen bei der Tätigkeit eines Qualitätsprüfers anfallen.
Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 10. November 1983 sowie das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 3. Januar 1983 und den Bescheid der Beklagten vom 14. Mai 1981 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. September 1981 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm ab 1. Februar 1981 Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren.
Die Beklagte hat keinen Antrag gestellt.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist unbegründet. Zutreffend haben die Vorinstanzen den Anspruch auf Berufsunfähigkeitsrente verneint.
Nach § 1246 Abs 2 Satz 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) ist ein Versicherter berufsunfähig, dessen Erwerbsfähigkeit aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr die Hälfte derjenigen eines vergleichbaren gesunden Versicherten beträgt. Nach Satz 2 der Vorschrift beurteilt sich dabei die Erwerbsfähigkeit des Versicherten nach allen (objektiv) seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechenden Tätigkeiten, die ihm (subjektiv) unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Die Änderung des Absatzes 1 dieser Vorschrift sowie die Einfügung eines Abs 2 a durch das Gesetz über Maßnahmen zur Entlastung der öffentlichen Haushalte und zur Stabilisierung der Finanzentwicklung in der Rentenversicherung sowie über die Verlängerung der Investitionshilfeabgabe - Haushaltsbegleitgesetz 1984 - vom 22. Dezember 1983, BGBl I 1532, berühren diese Voraussetzungen der Berufsunfähigkeit nicht. Hiernach stehen die sogenannten Verweisungstätigkeiten in einer Wechselwirkung zum bisherigen Beruf. Von diesem aus bestimmt sich, welche Verweisungstätigkeiten als zumutbar in Betracht kommen. Deshalb muß er zunächst ermittelt und - da die Verweisbarkeit davon abhängt - nach den vorgenannten Kriterien des § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO bewertet werden. Hierzu hat die Rechtsprechung ein Mehrstufenschema entwickelt, das die Arbeiterberufe in verschiedene "Leitberufe" untergliedert, nämlich diejenigen des Vorarbeiters mit Vorgesetztenfunktion bzw des besonders hoch qualifizierten Facharbeiters, des Facharbeiters, des "angelernten" und schließlich des ungelernten Arbeiters; grundsätzlich darf der Versicherte nur auf die jeweils niedrigere Gruppe verwiesen werden.
Das LSG ist, ohne daß dies rechtlich zu beanstanden wäre, vom Beruf des Möbeltischlers als dem bisherigen Beruf ausgegangen. Es hat unangefochten festgestellt, daß der Kläger aus gesundheitlichen Gründen weder als Möbeltischler arbeiten noch auf die letzte versicherungspflichtige Beschäftigung des Versandarbeiters verwiesen werden kann, weil beide Tätigkeitsbereiche insbesondere überwiegendes Stehen und Gehen erfordern, wozu der Kläger nach den medizinischen Beurteilungen nicht mehr in der Lage ist.
Gleichwohl besteht keine Berufsunfähigkeit; denn das Berufungsgericht hat den Kläger zu Recht auf die im angefochtenen Urteil näher umschriebene Tätigkeit des (angelernten) Qualitätsprüfers verwiesen. Daß es sich hierbei um eine dem Leitbild des "angelernten" Arbeiters zuzuordnende und somit in Anwendung des Mehrstufenschemas (sozial) zumutbare Tätigkeit handelt, ist vom LSG zutreffend dargelegt und von den Beteiligten auch nicht in Frage gestellt worden.
Entgegen der Auffassung der Beklagten hat aber das Berufungsgericht auch verfahrensfehlerfrei geklärt, welche Anforderungen die Tätigkeit des Qualitätsprüfers an die Kenntnisse und Fähigkeiten des Klägers stellt und ob dessen Restleistungsvermögen sowie berufliches Können den Anforderungen gerecht werden kann.
Die Rüge der Revision, das LSG habe ohne weitere Beweiserhebung festgestellt, daß der Kläger vom beruflichen Könnens- und Wissensstand her nicht überfordert sei, Prüfprotokolle zu fertigen, ist unbegründet. Das angefochtene Urteil stützt sich hinsichtlich der Anforderungen, die an einen Qualitätsprüfer gestellt werden, auf die Auskunft des LArbA vom 22. Juni 1982 sowie auf den berufskundigen Sachverständigen K , der schriftlich Stellung genommen hat. Dabei ist der Qualitätsprüfer im Kunststoff- und Spritzgußbereich als Beispielfall herausgegriffen worden und es heißt in der Beschreibung der einzelnen Tätigkeiten abschließend, er müsse einen Prüfbericht fertigen und durch seine Unterschrift dokumentieren, daß die geprüfte Ware in Qualität und Umfang der gesetzten Norm entspreche. Diese Besonderheiten müssen aber im Zusammenhang mit den allgemeinen Ausführungen gesehen werden, wonach für die Qualitätskontrolle in der Regel der Nachweis einer abgeschlossenen Berufsausbildung, gleichgültig in welcher Branche, verlangt wird und Arbeitnehmer mit Facharbeiterqualifikation nach einer dreimonatigen Einarbeitung - also innerhalb der von der Rechtsprechung gesetzten Toleranzgrenze (vgl BSGE 44, 288) - die Voraussetzungen für einen Einsatz als Qualitätsprüfer erfüllen.
Bei dieser Sachlage war das Berufungsgericht nicht verpflichtet, zusätzliche Feststellungen hinsichtlich Art, Inhalt und Umfang der vom Qualitätskontrolleur zu fertigenden Prüfprotokolle zu treffen. Es brauchte sich aus seiner sachlich-rechtlichen Sicht, auf die es ankommt, nicht zu weiterer Sachaufklärung gedrängt zu fühlen (vgl BSGE 40, 49, 50). Denn es durfte davon ausgehen, daß - gerade weil die vom Qualitätsprüfer im Kunststoff- und Spritzgußbereich zu verrichtenden Tätigkeiten im Detail geschildert worden sind - die Beurteilung, nach drei Monaten Einarbeitung seien die Voraussetzungen für einen Einsatz im genannten Beruf erfüllt, auch die Fähigkeit umschließe, das Prüfprotokoll zu fertigen. Es würde eine Überspannung der dem Gericht nach §§ 103, 106 Sozialgerichtsgesetz (SGG) obliegenden Aufklärungspflichten bedeuten, wollte man dem LSG im nachhinein den Vorwurf machen, es habe sich mit seiner Beurteilungsgrundlage gleichwohl nicht zufrieden geben dürfen.
Es mag zwar sein, daß ausnahmsweise weitere Ermittlungen erforderlich geworden wären, wenn der Kläger bereits in der Berufungsinstanz substantiiert Tatsachen vorgetragen hätte, aufgrund deren die Darlegungen des berufskundigen Sachverständigen in Zweifel gezogen werden müßten. Indessen hat der Kläger den Ausführungen des LSG zufolge lediglich behauptet, Schwierigkeiten mit dem Schriftdeutsch zu haben. Es ist nicht zu beanstanden, wenn das Berufungsgericht letztlich offen ließ, ob der Kläger wegen dieser Schwierigkeiten tatsächlich den geringen Anforderungen, die mit der Führung des erwähnten Prüfberichtes verbunden sind, nicht genügen könne. Denn das LSG hat zu Recht auf das Urteil des erkennenden Senats vom 23. April 1980 (SozR 2200 § 1246 Nr 61) verwiesen, wonach ein ausländischer Versicherter sich gegenüber der Verweisung auf eine sozial zumutbare Tätigkeit nicht auf die ungenügende Beherrschung der deutschen Sprache berufen kann, sofern der vergleichbare deutsche Versicherte die erforderlichen Sprachkenntnisse typischerweise besitzt. Dabei kann es keinen Unterschied machen, daß der vorliegende Fall keine sprachlichen Schwierigkeiten im engeren Sinn, sondern eine - möglicherweise - nicht genügende Kenntnis des Schriftdeutschen betrifft, und es kann auch - wenngleich das LSG diese Frage als grundsätzlich angesehen und deswegen die Revision zugelassen hat - nicht aus dem Grunde etwas anderes gelten, weil der Kläger die deutsche Staatsangehörigkeit erworben hat, also zumindest im staatsrechtlichen Sinne kein "ausländischer Versicherter" mehr ist. Entscheidend bleibt, worauf zutreffend bereits das LSG hingewiesen hat, daß er bei der Fertigung der genannten Prüfberichte nicht aus Mangel an Intelligenz, sondern möglicherweise deswegen auf Schwierigkeiten stößt, weil er mit einer anderen Muttersprache aufgewachsen ist und daß bei einem deutschen Facharbeiter derartige Schwierigkeiten typischerweise nicht auftreten.
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Die Revision konnte daher keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen