Orientierungssatz
Zur Aufklärungs- und Ermittlungspflicht bei der Feststellung von Verweisungstätigkeiten.
Normenkette
RVO § 1246 Abs 2 S 2 Fassung: 1957-02-23; SGG § 103
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 14.11.1983; Aktenzeichen L 2 J 208/82) |
SG Mainz (Entscheidung vom 01.07.1982; Aktenzeichen S 4 J 215/81) |
Tatbestand
Streitig ist die Gewährung einer Rente wegen Berufsunfähigkeit.
Der 1924 geborene Kläger erlernte 1938 bis 1941 das Schmiedehandwerk und arbeitete in diesem Beruf bis zur Einberufung zum Wehrdienst. Nach Kriegsende war er zunächst als Arbeiter beschäftigt. 1947 trat der Kläger in den Eisenbahndienst ein. Er war zunächst als Lokomotivschlosser, dann als Lokomotivheizer versicherungspflichtig beschäftigt. Im April 1954 wurde er in die Beamtenanwärterliste für die Lokomotivführerlaufbahn aufgenommen und war seitdem versicherungsfrei. Zum 1. Juli 1979 wurde er als Lokomotivbetriebsinspektor vorzeitig in den Ruhestand versetzt.
Vom 21. Juni 1979 bis zum 31. März 1981 bewilligte die Beklagte dem Kläger Berufsunfähigkeitsrente auf Zeit. Den Antrag auf Weitergewährung dieser Rente lehnte sie ab, weil der Kläger unter Berücksichtigung des von dem medizinischen Sachverständigen festgestellten Leistungsvermögens - vollschichtig leichte bis gelegentlich mittelschwere Arbeiten ohne häufiges Heben, Tragen und Bewegen von Lasten, Bücken sowie ohne überwiegend einseitige Körperhaltung - als Materialverwalter, Werkzeugausgeber, Meß- und Qualitätsprüfer tätig sein könne (Bescheid vom 8. April 1981, Widerspruchsbescheid vom 31. August 1981).
Das Sozialgericht (SG) Mainz hat die Klage durch Urteil vom 1. Juli 1982 abgewiesen: Es könne dahinstehen, ob die Vielzahl der von der Beklagten genannten Verweisungstätigkeiten hinreichend konkretisiert sei; der Kläger, dem der Berufsschutz eines Facharbeiters zustehe, könne jedenfalls auf die Tätigkeit des Arbeitsprüfers bei der Deutschen Bundesbahn (DB) verwiesen werden.
Das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz hat dieses Urteil aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, dem Kläger über den 31. März 1981 hinaus Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren. Es hat im Urteil vom 14. November 1983 ausgeführt: Der Kläger sei mit dem bisherigen Beruf des Hilfslokomotivheizers als Facharbeiter einzuordnen. Unter Berücksichtigung des von den medizinischen Sachverständigen einheitlich beurteilten Leistungsvermögens könne keine dem Kläger zumutbare Verweisungstätigkeit benannt werden. Die Tätigkeit, auf die das SG abgehoben habe, gebe es als Einzelarbeitsplatz nicht mehr. Zu den Tätigkeiten eines Materialverwalters, Lagerarbeiters und Werkzeugausgebers sei der Kläger gesundheitlich nicht mehr in der Lage. Die von der Beklagten erwähnten Kontrolltätigkeiten, zB diejenige eines Meß- und Qualitätsprüfers, kämen für den Kläger nicht in Betracht; diese erforderten nach der vom SG eingeholten Auskunft des Technischen Beraters G beim Arbeitsamt M gutes bis überdurchschnittliches Feingefühl und setzten außer praktischen Fähigkeiten auch genaue Kenntnisse der speziellen Prüfvorschriften für ISO-Meßverfahren, Werkstückoberflächenqualität, Werkstoffbeschaffenheit und dergleichen voraus, so daß in der Regel eine Einarbeitungszeit von bis zu sechs Monaten erforderlich sei. Ob die Behauptung der Beklagten, beim Volkswagenwerk brauche der Qualitätsprüfer nur eine Anlernzeit von zwei bis zwölf Wochen zu durchlaufen, zutreffe, könne dahingestellt bleiben, weil ein Versicherter nicht auf Tätigkeiten verwiesen werden dürfe, für die nur in einem oder in einzelnen Betrieben Arbeitsplätze vorhanden seien.
Mit der - vom Senat zugelassenen - Revision macht die Beklagte geltend, der Auskunft des Sachverständigen G könne nicht entnommen werden, daß es keine hinreichende Anzahl von Arbeitsplätzen für die Tätigkeit des Meß- und Qualitätsprüfers gebe, selbst wenn man davon ausgehe, das LSG meine die Tätigkeit des Fertigungskontrolleurs und Güteprüfers. Außerdem sei das Berufungsgericht nicht auf die mit Schriftsatz vom 4. Februar 1982 in das Verfahren eingeführten Beispiele für Verweisungstätigkeiten eingegangen, obwohl diese Arbeitsplatzbeschreibungen von Sachverständigen der Arbeitsämter Aachen und Celle sowie des Landesarbeitsamtes Hessen enthielten.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 14. November 1983 aufzuheben und die Berufung zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Er meint, die Stellungnahme des Sachverständigen G könne auf die Gesamtheit der von der Beklagten genannten Verweisungstätigkeiten bezogen werden.
Beide Beteiligte haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die - vom Senat zugelassene - Revision der Beklagten ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil des Berufungsgerichts aufgehoben und der Rechtsstreit an dieses Gericht zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen werden muß. Ein Teil der tatsächlichen Feststellungen des LSG ist, wie die Revision in zulässiger Weise rügt, verfahrensfehlerhaft zustandegekommen. Die verbleibenden Feststellungen reichen für eine abschließende Entscheidung nicht aus.
Nach § 1246 Abs 2 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) ist ein Versicherter berufsunfähig, dessen Erwerbsfähigkeit aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr die Hälfte derjenigen eines vergleichbaren gesunden Versicherten beträgt. Nach Satz 2 der Vorschrift beurteilt sich dabei die Erwerbsfähigkeit des Versicherten nach allen (objektiv) seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechenden Tätigkeiten, die ihm (subjektiv) unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Hiernach stehen die sogenannten Verweisungstätigkeiten in einer Wechselwirkung zum bisherigen Beruf. Von diesem aus bestimmt sich, welche Verweisungstätigkeiten als zumutbar in Betracht kommen. Deshalb muß er zunächst ermittelt und - da die Verweisbarkeit davon abhängt - nach den vorgenannten Kriterien des § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO bewertet werden. Hierzu hat die Rechtsprechung ein Mehrstufenschema entwickelt, das die Arbeiterberufe in verschiedene "Leitberufe" untergliedert, nämlich diejenigen des Vorarbeiters mit Vorgesetztenfunktion bzw des besonders hoch qualifizierten Facharbeiters, des Facharbeiters, des "angelernten" und schließlich des ungelernten Arbeiters; grundsätzlich darf der Versicherte nur auf die jeweils niedrigere Gruppe verwiesen werden.
Zutreffend ist das LSG von der letzten versicherungspflichtigen Beschäftigung des Hilfslokomotivheizers als dem bisherigen Beruf des Klägers ausgegangen; mit Recht hat es diesen auch dem Leitberuf des Facharbeiters zugeordnet, da nach den getroffenen Feststellungen die tarifliche Lohngruppe, welcher der Kläger angehörte, nur für Facharbeiter bestimmt war und eine entsprechende Einstufung grundsätzlich die Lehre in einem Metallhandwerk voraussetzte. Festgestellt ist ferner unangefochten und daher für den Senat bindend (§ 163 SGG), daß der Kläger mit dem ihm verbliebenen Leistungsvermögen die Tätigkeit des Hilfslokomotivheizers nicht mehr verrichten kann.
Verfahrensfehlerhaft sind jedoch zum Teil diejenigen Feststellungen, die das Berufungsgericht zur Verweisbarkeit getroffen hat. Zwar ist die Einsatzmöglichkeit des Klägers für den vom SG genannten Beruf des Arbeitsprüfers bei der DB unter Verwertung einer in das anhängige Verfahren eingeführten Auskunft aus einer anderen Streitsache unwidersprochen verneint worden; ungerügt blieb auch, daß aus gesundheitlichen Gründen Tätigkeiten eines Materialverwalters und ähnliche ausscheiden müßten. Soweit das LSG aber meint, "auch die von der Beklagten erwähnten Kontrolltätigkeiten, wie zB diejenige eines Meß- und Qualitätsprüfers", kämen nicht in Betracht, beruht dies - wie die Beklagte insoweit zu Recht rügt - auf unrichtigen, lückenhaften, widersprüchlichen oder nicht nachprüfbaren Feststellungen. Die Ausführungen des Berufungsgerichts im Anschluß hieran, "nach der vom SG eingeholten Auskunft des Technischen Beraters G beim Arbeitsamt M" erforderten diese Tätigkeiten ein "gutes bis überdurchschnittliches Feingefühl" und setzten außer praktischen Fähigkeiten auch "genaue Kenntnisse der speziellen Prüfvorschriften für ISO-Meßtoleranzen, Werkstückoberflächenqualitäten, Werkstoffeigenschaften und dergleichen mehr voraus, so daß in der Regel eine Einarbeitungszeit von bis zu sechs Monaten erforderlich" sei, erwecken den Anschein, als hätten der Sachverständige G und die Beklagte ein und dieselben konkreten Verweisungstätigkeiten bezeichnet. Das ist indessen nicht der Fall. Die Beklagte rügt, auf die von ihr mit Schriftsatz vom 4. Februar 1982 in das Verfahren eingeführten Verweisungstätigkeiten Meßwart, Revisor und Qualitätskontrolleur in der metallverarbeitenden Industrie, Qualitätsprüfer in der Automobilindustrie (Prüfen von Getriebe-Gangrädern oder Verzahnungsmessung), Güteprüfer, Fertigungskontrolleur und Montierer in der Metallindustrie, Kontrolleur, Warenprüfer und Endproduktprüfer in Metallwaren- oder Elektrofabriken mit Beschreibung der körperlichen und geistigen Anforderungen durch Sachverständige sei das LSG im angefochtenen Urteil überhaupt nicht eingegangen. Die vom Berufungsgericht genannte Tätigkeit eines Meß- und Qualitätsprüfers findet sich in dem von der Beklagten genannten Schriftsatz nebst Anlagen nicht; selbst die Stellungnahme des berufskundigen Sachverständigen G enthält keine derartige konkrete Bezeichnung. Die im Urteil wiedergegebenen Anforderungen sind ein Teil dessen, was unter der Berufsbezeichnung "Fertigungskontrolleur und Güteprüfer" von diesem Sachverständigen beschrieben wurde. Im übrigen ergab sich die Verpflichtung des LSG, auf die als Grundlage für eine Überprüfung und weitere Ermittlungen von der Beklagten mit hinreichender Konkretisierung vorgeschlagenen Verweisungstätigkeiten einzugehen, aus dem Verfahrensverlauf und den Umständen des Falles: Nachdem das SG aus einem anderen Verfahren die Stellungnahme des berufskundigen Sachverständigen G in das anhängige Verfahren eingeführt hatte, forderte es die Beklagte auf, eine für den Kläger in Betracht kommende Verweisungstätigkeit unter Angabe der tariflichen Einstufung und Beschreibung der Tätigkeitsmerkmale zu benennen. Zwar hat dann das SG sein die Klage abweisendes Urteil mit der Verweisung auf eine andere, erst in der mündlichen Verhandlung näher bezeichnete Tätigkeit begründet, die nach den insoweit unangegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts als Verweisungsberuf für den Kläger ausscheidet; gerade deshalb durfte sich aber das LSG nicht damit begnügen, eine Verweisung des Klägers zu verneinen, ohne die von der Beklagten vorgeschlagenen - verhältnismäßig detailliert bezeichneten und beschriebenen - Tätigkeiten auf ihre Eignung im einzelnen zu überprüfen. Es mag dahinstehen, ob ein Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör darin liegen könnte, daß ein Teil des Vortrags der Beklagten vom LSG nicht in seine Erwägungen einbezogen worden ist (zu Einzelheiten vgl Bley in SGB -SozVersGesKomm § 62 SGG, Anm 4 d); das Berufungsgericht hätte sich aber nach Lage der Dinge gedrängt fühlen müssen, den Sachverhalt zunächst noch weiter aufzuklären und weitere Ermittlungen - etwa zur Qualität der genannten Verweisungstätigkeiten und zur Befähigung des Klägers, diese spätestens nach einer Einarbeitungszeit von drei Monaten (vgl BSG in SozR 2200 § 1246 Nrn 101, 86, 84) zu leisten - anzustellen. Ihm oblag es in Erfüllung seiner Amtsermittlungspflicht als Tatsacheninstanz (§ 103 SGG), zumindest ergänzend insoweit konkret zu überprüfen und ggf zu ermitteln, als die von der Beklagten aufgeworfenen Verweisungsfragen im tatsächlichen Bereich durch die - schon vorher ins Verfahren eingeführte - Stellungnahme des berufskundigen Sachverständigen G nicht als beantwortet gelten konnten.
Im übrigen ist die Auskunft des Sachverständigen G auch insofern ungenau, als für die angegebene Tätigkeit "in der Regel eine Einarbeitungszeit von bis zu sechs Monaten" für erforderlich gehalten wird. Damit ist nichts darüber gesagt, welche Einarbeitungszeit der Kläger unter Berücksichtigung seiner Kenntnisse und Fähigkeiten brauchte.
Auch ist die Feststellung im angefochtenen Urteil verfahrensfehlerhaft, es könne "hinsichtlich der Tätigkeit eines Meß- und Qualitätsprüfers unter Berücksichtigung der Auskunft des Technischen Beraters G nicht die Rede (davon) sein", daß es auf dem Arbeitsmarkt der Bundesrepublik Deutschland Arbeitsplätze in hinreichender Zahl gebe. Hiergegen wendet die Beklagte zutreffend ein, daß die genannte Auskunft keine Aussage über die Anzahl entsprechender Arbeitsplätze enthält. Andere Erkenntnisquellen gibt das Berufungsgericht nicht an; hierzu wäre es aber, auch wenn es über eine entsprechende Gerichtskunde verfügt haben sollte, zur Wahrung des Anspruchs auf rechtliches Gehör gehalten gewesen (vgl § 128 Abs 2 SGG; BSG in SozR 1500 § 62 Nr 11 mwN). Soweit das LSG in diesem Zusammenhang noch, was die Tätigkeit eines Qualitätsprüfers beim Volkswagenwerk anlangt, ausgeführt hat, ein Versicherter dürfe nicht auf Arbeiten verwiesen werden, für die es nur in einem oder in einzelnen Betrieben Arbeitsplätze gebe, steht dies nicht mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung im Einklang. Zum einen gilt das Erfordernis, daß eine nicht unbedeutende Zahl entsprechender Arbeitsplätze vorhanden ist, auch hinsichtlich der Fähigkeit eines Versicherten zu Vollzeittätigkeiten; andererseits hat aber die Rechtsprechung die Vermutung aufgestellt, daß es jedenfalls für die von Tarifverträgen erfaßten Vollzeittätigkeiten einen ausreichenden Arbeitsmarkt gibt (zuletzt BSG in SozR 2200 § 1246 Nr 101). Bestehen Zweifel, von dieser Vermutung auszugehen, müssen jedoch Feststellungen zur Zahl der vorhandenen Arbeitsplätze getroffen werden. Das ist hier nicht geschehen und kann auch nicht durch eine pauschalierende Aussage ersetzt werden (vgl Urteil des 5b Senats vom 16. Oktober 1981 - 5b RJ 36/81).
Wegen der hiernach noch erforderlichen Prüfungen und Ermittlungen war das angefochtene Urteil aufzuheben und an das LSG als letzte Tatsacheninstanz zurückzuverweisen.
In dem das Verfahren abschließenden Urteil wird auch über die außergerichtlichen Kosten zu entscheiden sein.
Fundstellen